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BAG: Kein Recht auf Unerreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit

Immer wieder stellt sich die Frage, ob Arbeitnehmer verpflichtet sind, in ihrer Freizeit Anrufe des Arbeitgebers entgegenzunehmen bzw. von E-Mails oder anderen Nachrichten Kenntnis zu nehmen.

AllgemeinArbeitsrecht
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Ein konzentrierter Vater, der auf seinem Laptop Multitasking betreibt und Personalressourcen verwaltet, während sein kleines Kind sich um ihn kümmert, umgeben von Spielzeug auf dem gemütlichen Wohnzimmerboden.
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Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 23.08.2023 – 5 AZR 349/22

Also doch! Es scheint kein absolutes Recht auf Unerreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit zu geben. Das BAG hat die Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein vom 27.09.2022 – 1 Sa39 öD/22, welches der Auffassung war, dass Arbeitnehmer in ihrer Freizeit keine dienstlichen Anrufe entgegennehmen bzw. SMS oder E-Mails lesen müssen, aufgehoben. Die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor. Dennoch lässt die BAG-Entscheidung vermuten, dass es – anders als von dem LAG angenommen – kein absolutes Recht auf Unerreichbarkeit gibt.

Worum geht es?

Immer wieder stellt sich die Frage, ob Arbeitnehmer verpflichtet sind, in ihrer Freizeit Anrufe des Arbeitgebers entgegenzunehmen bzw. von E-Mails oder anderen Nachrichten Kenntnis zu nehmen. Praktische Bedeutung hat dies insbesondere, wenn es um kurzfristige Dienstplanänderungen geht, die sich erst nach Dienstschluss des betreffenden Arbeitnehmers ereignen.

Rechtlich hängt die Frage mit dem Umfang des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts zusammen. Der Arbeitgeber bestimmt im Rahmen seines Direktionsrechts Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen. Unter dem Bergriff „Zeit der Arbeitsleistung“ versteht man dabei nicht die Dauer, sondern die zeitliche Lage der Arbeitszeit. So ist der Arbeitgeber kraft seines Direktionsrechts befugt, die Lage der Arbeitszeit durch Weisungen festzulegen und einseitig zu ändern.

Das Weisungsrecht des Arbeitgebers gilt aber nicht uneingeschränkt, sondern wird beispielsweise durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Arbeitsschutzrecht, durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen sowie durch den Arbeitsvertrag selbst begrenzt.

In dem konkreten Fall stellte sich die Frage, ob der Arbeitgeber Weisungen auch während der Freizeit eines Arbeitnehmers erteilen kann. Das LAG Schleswig-Holstein (Az. 1 Sa 39 öD/22) verneinte dies und war der Auffassung, dass Arbeitnehmer in ihrer Freizeit keine dienstlichen Anrufe entgegennehmen bzw. SMS oder E-Mails lesen müssen. Das Weisungsrecht könne zwar während der Freizeit des Arbeitnehmers ausgeübt werden, allerdings würde die Weisung dem Arbeitnehmer während seiner Freizeit nicht zugehen. Das BAG sieht dies nun anders!

Der Sachverhalt

Es geht um einen Notfallsanitäter und die Frage, ob dieser in seiner Freizeit auf eine kurzfristige Dienstplanänderung für den Folgetag reagieren muss. Die wöchentliche Arbeitszeit des Notfallsanitäters betrug zzgl. Bereitschaftsdienstzeiten 48 Stunden. Zudem fand eine Betriebsvereinbarung auf den Sachverhalt Anwendung, die festgelegt, dass die Notfallsanitäter auch zu Springerdiensten verpflichtet werden können, z. B. bei einer kurzfristigen Erkrankung eines Mitarbeiters. In diesem Fall muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer am Vortag bis spätestens 20.00 Uhr darüber informieren, dass er als Springer tätig sein soll.

Konkret war der Notfallsanitäter während seiner Freizeit in zwei Fällen sowohl telefonisch als auch per SMS bzw. per E-Mail nicht erreichbar gewesen. Der Arbeitgeber wollte auf diese Weise eine kurzfristige Dienstplanänderung, die er gemäß der geltenden Betriebsvereinbarung vorgenommen hatte, kommunizieren. Laut dieser Änderung hätte der Notfallsanitäter seinen Dienst am kommenden Tag um 6.00 Uhr morgens antreten sollen. Stattdessen meldete er sich wie ursprünglich geplant, erst um 7.30 Uhr zur Arbeit. Der Arbeitgeber sah darin ein unentschuldigtes Fehlen und erteilte zunächst eine Ermahnung und sodann eine Abmahnung unter Abzug der nicht geleisteten Arbeitsstunden vom Arbeitszeitkonto.

Hiergegen wehrte sich der Notfallsanitäter und machte mit seiner Klage die Nachzahlung des vorenthaltenen Lohns und die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte geltend. Das LAG gab dem Notfallsanitäter Recht. Danach hätte die Abmahnung entfernt werden und die Fehlstunden dem Arbeitszeitkonto wieder gutgeschrieben werden müssen.

Begründet wurde die Entscheidung von dem LAG wie folgt: Zwar hatte der Arbeitgeber mit seiner Änderung des Dienstplans sein Direktionsrecht in zulässiger Weise ausgeübt. Die Änderung müsse dem Mitarbeiter aber auch entsprechend zugehen. D.h. die Änderung muss so in den Bereich des Empfängers gelangen, dass dieser unter normalen Umständen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Hierbei gehören zum Empfängerbereich Einrichtungen wie Briefkasten, Postfach, E-Mail-Postfach oder Anrufbeantworter. Der Arbeitgeber sei jedoch für den Zugang der Weisung an den Arbeitnehmer darlegungs- und beweisbelastet.

Ein Arbeitnehmer sei nicht verpflichtet, so das LAG, sich in seiner Freizeit zu erkundigen, ob sein vor Beginn der Freizeitphase geltender Dienstplan nachträglich geändert worden ist. Er sei auch nicht verpflichtet, eine Mitteilung des Arbeitgebers – etwa per Telefon – entgegenzunehmen oder eine SMS zu lesen. Dies stelle eine Arbeitsleistung dar und gehöre damit zur Arbeitszeit. Das Recht auf Nichterreichbarkeit in der Freizeit diene neben dem Gesundheitsschutz des Arbeitnehmers.

Das LAG nahm auch kein treuwidriges Verhalten des Arbeitnehmers an. Freizeit zeichne sich gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer dem Arbeitgeber nicht zur Verfügung stehen müssten und selbstbestimmt entscheiden könnten, wie und wo sie diese Freizeit verbringen. In dieser Zeit wären sie nicht Bestandteil einer fremdbestimmten arbeitsrechtlichen Organisationseinheit und nicht Arbeitskraft. Selbst der nur minimale Zeitaufwand, der mit dem Lesen einer SMS verbunden wäre, rechtfertige keine andere Einschätzung, so das LAG Schleswig-Holstein.

Etwas anderes könne nur gelten, wenn der Arbeitnehmer mit der Abgabe rechtserheblicher Erklärungen durch den Arbeitgeber rechnen musste oder den Zugang der Weisung vereitelt, etwa, wenn der Arbeitnehmer im Bewusstsein über die Möglichkeit der Änderung des Dienstplanes das Schreiben des Arbeitgebers nicht annimmt.

Die Entscheidung

Das BAG sieht dies anderes, hob die Entscheidung des LAG auf und wies die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts zurück.

Da weder eine Pressemitteilung veröffentlicht wurde noch die Entscheidungsgründe vorliegen, bleibt abzuwarten, ob sich das BAG auch mit anderen streitigen Fragen – Erkundigungspflicht und/oder eine Pflicht des Arbeitnehmers, in der Freizeit Weisungen des Arbeitgebers entgegen zu nehmen – weiter auseinandersetzen hat.

#KurzErklärt

  • Die Entscheidung lässt vermuten, dass Arbeitnehmer kein Recht auf Nichterreichbarkeit in ihrer Freizeit haben.
  • Das Arbeitsgericht Emden ging davon aus, dass dem Kläger eine Erkundigungspflicht obliegt. Argumentiert wurde insoweit mit arbeitsplatzbezogenen Pflichten des Arbeitnehmers. Diese treffen ihn während seiner Freizeit. Auch an anderen Stellen treffen Arbeitnehmern Pflichten, in ihrer Freizeit Vorkehrungen zur ordnungsgemäßen Erbringung ihrer Arbeitsleistung zu treffen. Das Arbeitsgericht nennt exemplarisch Pflichten, die Arbeitnehmer außerhalb ihrer Arbeitszeit erbringen müssen. Hierzu zählt beispielsweise die Pflicht, um sicherzustellen, rechtzeitig zum Arbeitsbeginn am Betriebssitz zu erscheinen. D.h. der Arbeitnehmer müsse auch in seiner Freizeit überprüfen, ob beispielsweise Streikmaßnahmen oder bestimmte Witterungsverhältnisse eine Anreise mit dem öffentlichen Personennahverkehr ausschließen und sich um eine alternative Anreise zur Arbeit bemühen. Ebenso müsse der Arbeitnehmer den Arbeitgeber im Falle einer Arbeitsunfähigkeit auch ohne eine bestehende Arbeitspflicht unverzüglich über die Arbeitsunfähigkeit und ihre voraussichtliche Dauer informieren. Schließlich spricht nach Auffassung des Arbeitsgerichts auch die Zugangsregelung des § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB (und dem Zugang bspw. einer Kündigung beim Arbeitnehmer zu Hause in seiner Freizeit) dafür, dass Arbeitnehmer unabhängig von einer in dieser Zeit bestehenden Arbeitsverpflichtung für Mitteilungen des Arbeitgebers zur Verfügung stehen.
  • Ob das BAG sich dieser Argumentation anschließt, bleibt abzuwarten.

Praxistipp

Welche allgemeinen Grundsätze sich aus der Entscheidung ableiten lassen, steht noch nicht fest. Es ist aber davon auszugehen, dass insbesondere, wenn die Kommunikation per SMS/E-Mail zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer üblich und ständige Praxis ist, Arbeitgeber diese Kommunikationsweg auch bei kurzfristigen Dienstplanänderungen während der Freizeit nutzen können.

 von Frau Dr. Felisiak von Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte.

 

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