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Der unerschütterliche Beweiswert einer AU

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist, betrifft. Zudem lässt auch eine zu Beginn der Erkrankung rund zehnstündige Bahnfahrt des Arbeitnehmers zum Heimatwohnsitz, um dort die Hausärztin aufzusuchen, die attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen. Dies gilt jedenfalls solange, nicht weitere verdächtige Umstände hinzutreten, entschied das LAG Mecklenburg-Vorpommern.

Arbeitsrecht
Lesezeit 3 Min.
Eine Nahaufnahme der Hände einer Person, die eine deutsche Krankschreibung (auch „Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“ genannt) hält, wobei der Fokus auf dem Abschnitt liegt, der angibt, ob es sich um eine Erstbescheinigung oder eine Folgebescheinigung handelt.
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Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 13.07.2023 – 5 Sa 1/23

Worum geht es?

Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (nachfolgend „AU“) in Deutschland genießt einen sehr hohen Beweiswert. Mit einer ordnungsgemäß ausgestellten AU besteht eine tatsächliche Vermutung, dass der Arbeitnehmer infolge Krankheit arbeitsunfähig ist.

Wenn der Arbeitgeber den Beweiswert der AU erschüttern möchte und eine ärztliche AU nicht gelten lassen will, müssen Umstände dargelegt und nachgewiesen werden, die zu ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit führen. In der Praxis ist die Erschütterung des Beweiswerts durch den Arbeitgeber nicht einfach, da der Arbeitgeber häufig weder etwas über die Art der Erkrankung noch deren Ursache erfährt. Eine Erschütterung des Beweiswertes einer AU verlangt aber ernsthafte und objektiv begründete Zweifel an dem tatsächlichen Bestehen der Arbeitsunfähigkeit. Nach Ansicht des BAG darf an die Voraussetzungen für die Erschütterung des Beweiswertes keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. In vielen Urteilen der Arbeitsgerichte entspricht der angelegte Maßstab an die Erschütterung des Beweiswertes jedoch nicht der im Gesetz angelegten Verteilung der Darlegungs- und Beweislast und es kommt immer wieder kaum nachvollziehbaren Urteilen.

Der Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Ein Facharzt für Orthopädie war als Chefarzt beschäftigt. Er hatte eine Wohnung in der Nähe der Arbeitsstätte und einen ca. 1.000 km entfernt liegenden Hauptwohnsitz. Der Chefarzt war wiederholt arbeitsunfähig erkrankt.

Mit Schreiben vom 16.08.2021 kündigte der Chefarzt das Arbeitsverhältnis innerhalb der arbeitsvertraglich vereinbarten Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Monatsende zum 28.02.2022.

Am 08.02.2022 sagte der Chefarzt seine Teilnahme an einer Dienstbesprechung aus gesundheitlichen Gründen ab. Am 09.02.2022 meldete er sich krank und fuhr mit der Bahn rund 10 Stunden zu seinem Hauptwohnsitz. Am 10.02.2022 stellte die Hausärztin am Hauptwohnsitz des Chefarztes eine AU für den Zeitraum ab dem 09.02.2022 aus. Sie diagnostizierte Hypertonie, Kopfschmerzen, HWS-Syndrom und Myogelosen.

Ab dem 09.02.2022 erhielt der Chefarzt keine Vergütung mehr. Der Chefarzt erhob daraufhin Klage.

Die Entscheidung

Zu Recht, wie das LAG entschied und feststellt, dass der Chefarzt Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Zeit ab dem 09.02.2022 hat.

Das LAG führte aus, dass der Arbeitgeber den Beweiswert einer AU dadurch erschüttern könne, dass er tatsächliche Umstände darlege, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers begründen mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukomme. Das LAG stellte weiter fest, dass die rund zehnstündige Bahnreise des Chefarztes unter Berücksichtigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung zu keinen Zweifeln an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führe. Die Belastung durch die Bahnreise sei nicht annähernd mit derjenigen einer Chefarzttätigkeit vergleichbar. Letztere erfordere ein hohes Maß an Konzentration, Reaktionsvermögen sowie Flexibilität. Eine Bahnreise erfordere weder Konzentration noch körperliche Anstrengungen, sondern ermögliche eine entspannte Körperhaltung und bei Bedarf Bewegung. Vielmehr habe sich aus dem Gesundheitszustand des Chefarztes keinGrund ergeben, auf eine längere Bahnfahrt zu verzichten und umgehend einen Notarzt oder eine Klinik aufzusuchen.

Der Arbeitgeber wurde verurteilt, die nicht geleistete Entgeltfortzahlung an den Arbeitnehmer zu zahlen.

Was heißt das?

  • Die getroffene Entscheidung verdeutlicht, welche Hindernisse Arbeitgeber überwinden müssen, um den Beweiswert einer AU zu erschüttern.
  • Bloße Anhaltspunkte, die darauf hinweisen, dass die Motivation eines Arbeitnehmers in der Endphase des Arbeitsverhältnisses nachlässt, reichen nicht aus, um den Schluss zu ziehen, dass jede AU in diesem Zeitraum möglicherweise erschlichen ist.
  • Wenn der Arbeitgeber die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit ernsthaft anzweifelt und die Bescheinigung erschüttern möchte, muss er konkrete objektive Umstände des Einzelfalls darlegen. Diese Umstände müssen ernsthafte Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen.
  • Diese Grundsätze gelten auch für die elektronische AU.

Handlungsempfehlung

Trotz der hohen Hürden ist die Erschütterung einer AU nicht ausgeschlossen. Arbeitgeber sollten vor allem bei folgenden Fallgruppen, eine Erschütterung der Beweiskraft der AU in Betracht ziehen:

  • Der Arbeitnehmer leistet während der Arbeitsunfähigkeit besondere körperliche Anstrengungen.
  • Der Arbeitnehmer geht während der Arbeitsunfähigkeit einer Nebentätigkeit nach.
  • Der Arbeitnehmer kündigt die Arbeitsunfähigkeit an, z.B. nachdem ein Urlaubsantrag versagt wurde.
  • Der Arbeitnehmer ist passgenau die gesamte Kündigungsfrist krank.
  • Der Arbeitnehmer ist gehäuft vor und nach freien Tagen, etwa am Montag und Freitag, an Brückentagen und vor oder nach dem Urlaub krank.

Von Frau Dr. Felisiak von Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte.

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