Kündigungsschutz für Schwerbehinderte beginnt jetzt schon in der Probezeit
Betriebe müssen auch nach dem 19.03. weiterhin Basisschutzmaßnahmen in betrieblichen Hygienekonzepten festlegen. Das Bundeskabinett hat am 16.03.2022 die neugefasste Corona-Arbeitsschutzverordnung zur Kenntnis genommen. Danach werden Maßnahmen wie Testangebote und Homeoffice nun nicht mehr vorgeschrieben, aber als mögliche Schutzmaßnahmen festgeschrieben.

Nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist eine Kündigung von Arbeitnehmern mit Schwerbehinderung bereits in der Probezeit nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Das Urteil wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch in Deutschland dazu führen, dass Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung in der Probezeit zwingend eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem anderen Arbeitsplatz prüfen müssen.
Worum geht es?
Sowohl der allgemeine Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz als auch der besondere Kündigungsschutz für besondere Personengruppen (darunter auch Schwerbehinderte) beginnt nach den deutschen Regelungen erst nach Ablauf von sechs Monaten (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Erst danach muss im Fall der Kündigung eines Schwerbehinderten Menschen die Zustimmung zur Kündigung durch das Integrationsamt eingeholt werden, was in der Praxis oft eine hohe Hürde ist. Vor Ablauf der ersten sechs Monate ist das Integrationsamt vor Ausspruch der Kündigung lediglich zu informieren.
Die jüngste Rechtsprechung des EuGHs könnte dazu führen, dass die Hürden für die Kündigung eines Schwerbehinderten Menschen bereits vor Ablauf von sechs Monaten höher sind als es die deutschen Gesetze und die Rechtsprechung bisher vorsehen.
Der Sachverhalt
In dem vom EuGH entschiedenen Fall ging es um einen Gleisarbeiter, der von der belgischen Eisenbahngesellschaft während der Probezeit gekündigt wurde. Grund für die Kündigung war seine fehlende Einsatzmöglichkeit auf dem ursprünglichen Arbeitsplatz, die sich erst während der Probezeit zeigte. Bei dem Gleisarbeiter wurde in dieser Zeit ein Herzproblem diagnostiziert, weshalb er einen Herzschrittmacher eingesetzt bekam. Der Herzschrittmacher und die Tätigkeit als Gleisarbeiter passten aufgrund der möglichen, sensiblen Reaktionen des Herzschrittmachers auf die elektromagnetischen Felder in Gleisanlagen nicht zusammen und entsprechend konnte der Gleisarbeiter nicht mehr in seiner ursprünglichen Funktion beschäftigt werden.
Eine Schwerbehinderung des Gleisarbeiters wurde offiziell anerkannt. Außerdem erklärte eine übergeordnete Stelle den Gleisarbeiter für ungeeignet, die Funktionen, für die er eingestellt worden war, zu erfüllen. Diese übergeordnete Stelle führte jedoch auch aus, dass er einen Arbeitsplatz einnehmen könne, der folgende Anforderungen erfülle: „durchschnittliche Aktivität, keine Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern, keine Arbeit in Höhenlage oder bei Vibrationen“.
Zunächst setzte die belgische Eisenbahngesellschaft den Gleisarbeiter im Lager ein, kündigte ihn kurze Zeit später während der Probezeit mit dem Argument, dass es ihm völlig unmöglich sei, die Aufgaben zu erfüllen, für die er eingestellt worden war.
Der Gleisarbeiter klagte vor einem belgischen Arbeitsgericht und berief sich darauf, dass er wegen seiner Behinderung diskriminiert worden sei und dies der europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG) widerspreche. Art. 5 dieser Richtlinie sieht vor, dass „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ getroffen werden. Daran anknüpfend legte das Belgische Gericht dem EuGH die Frage vor, ob dies bedeutet, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, Arbeitnehmer in einem solchen Fall einen anderen Arbeitsplatz zuzuweisen, anstatt ihm zu kündigen.
Die Entscheidung
Der EuGH entschied, dass auch Arbeitnehmer in der Probezeit von der genannten Richtlinie erfasst sind und als „angemessene Vorkehrung“ einem behinderten Arbeitnehmer zunächst statt einer Kündigung ein anderer Arbeitsplatz zuzuweisen ist, sofern der Arbeitgeber dadurch nicht unverhältnismäßig belastet wird.
Der Arbeitgeber hat geeignete und im konkreten Fall erforderliche Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Dies umfasst auch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung der Arbeitsgeräte, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung sowie das Angebot an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen.
Für die Beurteilung, wann eine Belastung des Arbeitgebers unverhältnismäßig ist, sind insbesondere der finanzielle Aufwand, die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz des Arbeitgebers, öffentliche Mittel oder andere Unterstützungsmöglichkeiten entscheidend. Auch müsse es eine freie, für den Arbeitnehmer aufgrund seiner Kompetenz und die Fähigkeiten geeignete Stelle geben.
Was bedeutet das?
Es ist zu erwarten, dass dieses EuGH Urteil auch in Deutschland von den deutschen Gerichten beachtet wird. Dies führt dazu, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer – auch ohne eine gesetzliche Regelung – innerhalb der Probezeit eine Art Kündigungsschutz „light“ genießen, da Arbeitgeber die Kündigung bereits in dieser Zeit rechtfertigen müssen.
Das Urteil kontaktiert die Intension des deutschen Gesetzgebers, der einen sofortigen Kündigungsschutz (ab Tag eins) bewusst nicht eingeführt hat, um Einstellungshemmnisse zu vermeiden. Das EuGH Urteil, dass den Schutz der Schwerbehinderten ausbaut, kann am Ende des Tages zu Lasten schwerbehinderter Menschen gehen.
Handlungsempfehlung Die Kündigung von schwerbehinderten Beschäftigen ist nach dem deutschen Gesetzgeber bereits jetzt mit einigen Hürden verbunden. So ist beispielsweise zwingend an die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung zu denken. Selbst wenn es sich um eine Kündigung in der Probezeit handelt. Andernfalls ist die Kündigung wegen § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX unwirksam. Durch das EuGH Urteil wird die Kündigung von Schwerbehinderten in der Probezeit erschwert. Damit Arbeitgebern der vom EuGH intendierten Kündigungsschutz nicht auf die Füße fällt, könnten Arbeitgeber künftig dazu übergehen, Arbeitsverhältnisse zu befristen. Soweit sich Arbeitgeber hierzu entscheiden, ist darauf zu achten, nicht nur Arbeitsverhältnisse von Schwerbehinderten zu befristen, sondern auch alle vergleichbaren Arbeitsverhältnisse. Andernfalls könnten sie sich dem Vorwurf der Diskriminierung von Schwerbehinderten ausgesetzt sehen. |
(Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 10.02.2022 – C-485/20)
Autorin: Dr. Michaela Felisiak LL.M. von ADVANT Beiten Rechtsanwaltsgesellschaft mbH München
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