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Schwerbehinderte Menschen – außerordentliche Kündigung

Gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX kann die außerordentliche Kündigung eines schwerbehinderten Menschen auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erfolgen, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung durch das Integrationsamt erklärt wird.

Arbeitsrecht
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Gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX kann die außerordentliche Kündigung eines schwerbehinderten Menschen auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2     Satz 1 BGB erfolgen, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung durch das Integrationsamt erklärt wird.

„Erteilt“ im Sinne von § 174 Abs. 5 SGB IX ist die Zustimmung, sobald eine solche Entscheidung innerhalb der Frist des § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX getroffen und der antragstellende Arbeitgeber hierüber in Kenntnis gesetzt oder wenn eine Entscheidung innerhalb der Frist des § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nicht getroffen worden ist. In diesem Fall gilt die Zustimmung mit Ablauf der Frist gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX als erteilt.

Entsprechend der Legaldefinition des § 121 Abs. 1 BGB bedeutet „unverzüglich“ auch im Rahmen von § 174 Abs. 5 SGB IX „ohne schuldhaftes Zögern“. Schuldhaft ist ein Zögern dann, wenn das Zuwarten durch die Umstände des Einzelfalls nicht geboten ist. Da „unverzüglich“ weder „sofort“ bedeutet noch damit eine starre Zeitvorgabe verbunden ist, kommt es auf eine verständige Abwägung der beiderseitigen Interessen an. Dabei ist nicht allein die objektive Lage maßgebend. Solange derjenige, dem unverzügliches Handeln abverlangt wird, nicht weiß, dass er die betreffende Rechtshandlung vornehmen muss, oder es mit vertretbaren Gründen annehmen kann, er müsse sie noch nicht vornehmen, liegt kein „schuldhaftes Zögern“ vor. Diese Grundsätze gelten auch, wenn der Arbeitgeber die zuständigen Arbeitnehmervertretungen erst nach Abschluss des Verfahrens vor dem Integrationsamt beteiligt.

Die Kündigung ist im Sinne von § 174 Abs. 5 SGB IX „erklärt“, wenn sie dem schwerbehinderten Menschen gemäß § 130 BGB zugegangen ist.

Die Regelung in § 174 Abs. 5 SGB IX ist nicht so zu verstehen, dass sie nur Anwendung findet, wenn der Arbeitgeber die erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB beantragt. Das kann – entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die von einer „Ausdehnung“ der Frist des § 626 Abs. 2 BGB beziehungsweise einem „Aufschieben“ ausgegangen ist – nicht angenommen werden. Das BAG hält insofern an seiner bisherigen Rechtsprechung nicht mehr fest.

Die Frage der Rechtzeitigkeit der Antragstellung beim Integrationsamt bestimmt sich nach § 174 Abs. 2 SGB IX. Die Einhaltung der Frist ist Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Erteilung der Zustimmung. Sie ist allein vom Integrationsamt bzw. im Falle der Anfechtung der Entscheidung, von den Verwaltungsgerichten zu prüfen. Liegt eine Zustimmung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Die Arbeitsgerichte sind an eine erteilte Zustimmung gebunden und auf eine Prüfung der Unverzüglichkeit der Kündigung gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX beschränkt.

Die Frist für die Erklärung der Kündigung beginnt nach § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Dies ist der Fall, sobald er eine zuverlässige und hinreichend vollständige Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Arbeitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht. Zu den maßgebenden Tatsachen gehören sowohl die für als auch gegen die Kündigung sprechenden Umstände.

Der Kündigungsberechtigte, der bislang nur Anhaltspunkte für einen Sachverhalt hat, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigen könnte, kann nach pflichtgemäßem Ermessen weitere Ermittlungen anstellen und den Betroffenen anhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB zu laufen begänne. Dies gilt allerdings nur so lange, wie er aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile Ermittlungen durchführt, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts und der Beweismittel verschaffen sollen. Soll der Kündigungsgegner angehört werden, muss dies innerhalb einer kurzen Frist erfolgen. Sie darf im Allgemeinen nicht mehr als eine Woche betragen und nur bei Vorliegen besonderer Umstände überschritten werden.

Eine schlichte Untätigkeit des Arbeitgebers reicht grundsätzlich nicht aus, um den Beginn des Laufs der Kündigungserklärungsfrist zu verhindern.  Während der Dauer einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist eine Kontaktaufnahme mit dem Arbeitnehmer aus Gründen der Rücksichtnahme auf dessen Genesungsprozess nur begrenzt zulässig. Der Arbeitgeber muss wegen seiner sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebenden Pflicht, auf die Erkrankung des Arbeitnehmers Rücksicht nehmen und alles unterlassen, was dem Genesungsprozess abträglich wäre.

Wegen seiner eingeschränkten Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit dem erkrankten Arbeitnehmer und dessen fehlender Verpflichtung, den Grund und die Auswirkungen seiner Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen, muss der Arbeitgeber regelmäßig nicht nachforschen, ob der Arbeitnehmer trotz Arbeitsunfähigkeit an einer Anhörung teilnehmen kann.

Andererseits kann der Arbeitgeber auch während einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit außerordentlich kündigen. Daher darf er, sofern er sich die Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung offenhalten will, auch im Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers, nicht beliebig lang zuwarten, bis er versucht, mit diesem auch während der Arbeitsunfähigkeit die erforderliche Sachverhaltsaufklärung durchzuführen. Insoweit ist der Arbeitgeber nach einer angemessenen Frist gehalten, mit dem Arbeitnehmer Kontakt aufzunehmen, um zu klären, ob dieser gesundheitlich in der Lage ist, an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken

Für die Dauer der „angemessenen Frist“, binnen welcher der Arbeitgeber an den erkrankten Arbeitnehmer zur Klärung seiner Fähigkeit herantreten muss, an der Aufklärung des möglichen Kündigungssachverhalts mitzuwirken bestehen keine starren Grenzen. Das BAG hat in einer Entscheidung von 2019 einen Zeitraum von drei Wochen für die Kontaktaufnahme mit einer arbeitsunfähig erkrankten Zeugin wegen der Entbindung von einer Vertraulichkeitsvereinbarung noch als ausreichend angesehen und nicht beanstandet.

 

Quelle: BAG, Urteil vom 11.6.2020 – 2 AZR 442/19, bearbeitet durch das alga-Competence-Center

 

 

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