Schwerbehinderung: Kein AGG-Schutz bei laufendem Gleichstellungsantrag
Die Ausweitung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) hatte sich die Große Koalition noch für diese Legislaturperiode auf die Fahne geschrieben. Ob dies tatsächlich noch umgesetzt wird, ist fraglich. Allerdings gab es in den letzten Monaten einige spannende Entscheidungen zu dem Thema – so auch ein Fall, der kürzlich vom BAG entschieden wurde.
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 23.11.2023 – 8 AZR 212/22
Verortung des Urteils
Kurz zur Erinnerung: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) will Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verhindern oder beseitigen (§ 1 AGG). Insbesondere in Zusammenhang mit Bewerbungen ist das Konfliktpotenzial weiterhin groß und Arbeitgeber sehen sich schnell mit AGG-Klagen konfrontiert.
Sachverhalt
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu zahlen hat wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung aufgrund einer Behinderung.
Ein Student hat eine Behinderung (40 Grad) und bewarb sich am 28.07.2020 um eine Teilnahme an einem Förderprogramm. Teilnehmer des Programms werden von der Beklagten mit einem monatlichen Betrag iHv. 880,00 Euro brutto gefördert. Für Zeiten der betrieblichen Praxis an den Einsatzorten der Beklagten in Bad Hersfeld, Fulda oder Frankfurt am Main erhalten die Teilnehmer eine monatliche Praktikumsvergütung iHv. 1.570,00 Euro brutto.
Die Stellenausschreibung lautet auszugsweise: „Erwerben Sie im Studium die theoretischen und wissenschaftsbezogenen Grundlagen und nutzen Sie Ihre vorlesungsfreien Zeiten, um erste praktische Erfahrungen bei der Bundesagentur für Arbeit zu sammeln und in weitere spannende Rechtsgebiete einzutauchen. Gemeinsam werden wir Ihre Kenntnisse in den genannten Fachgebieten schrittweise durch praktische Anwendung vertiefen.“
Mit Schreiben vom 31.07.2020 beantragte er die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen nach § 2 Abs. 3 SGB IX bei der für seinen Wohnort zuständigen Agentur für Arbeit. Am 12.08.2020 fand in der Agentur für Arbeit in Fulda das Auswahlgespräch für das Förderprogramm statt. In diesem Gespräch wies der Kläger auf seine Behinderung hin und erklärte, dass er einen Gleichstellungsantrag gestellt habe. Am 17.08.2020 sagte die Beklagte dem Kläger wegen des Förderprogramms telefonisch ab. Die Agentur für Arbeit Stuttgart stellte den Kläger mit Bescheid vom 10.09.2020 rückwirkend zum 31.07.2020 einem schwerbehinderten Menschen gleich.
Der Stundet fühlte sich aufgrund der Ablehnung, die er im Zusammenhang mit seinem Gleichstellungsantrag sah, benachteiligt. Entsprechend forderte er eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). in Höhe von mindestens 5.000 Euro. Das Argument: Da die Agentur für Arbeit von seinem Gleichstellungsantrag gewusst habe, hätte sie die Schwerbehindertenvertretung einschalten müssen. Stattdessen habe man ihm abgesagt, ohne auf die Entscheidung über den Antrag zu warten. Der Gleichstellungsantrag wurde rückwirkend genehmigt.
Das LAG Nürnberg wies die Entschädigungsklage zurück. Es sah keine ausreichenden Indizien für eine Benachteiligung wegen der Behinderung des Studenten. Die Beweislast nach § 22 AGG lag bei ihm, und diese konnte er nicht erbringen.
Die Entscheidung
Auch das BAG lehnte den Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG ab.
Zwar stellte das BAG fest, dass auch der Student Beschäftigter iSv. § 6 Abs. 1 AGG sei, allerdings fehlte es für das Vorliegen eines Entschädigungsanspruchs an einer Benachteiligung wegen der Behinderung.
Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGB IX die Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (st. Rspr., BAG 19.01.2023 – 8 AZR 437/21 – Rn. 28 mwN).
Zwar wurde der Student unmittelbar dadurch benachteiligt, dass er für das ausgeschriebene Förderprogramm nicht berücksichtigt wurde. Allerdings hat der Kläger – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hatte – die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG nicht wegen seiner Behinderung erfahren. Springender Punkt: Der Kläger hat keine hinreichenden Indizien iSv. § 22 AGG vorgetragen bzw. unter Beweis gestellt, die eine Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten ließen.
Allein der Hinweis, dass die Schwerbehindertenvertretung hätte eingeschaltet werden müssen, reichte insoweit nicht. Kurz zur Erinnerung: Bei schwerbehinderten Menschen und diesen gleichgestellten behinderten Menschen begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung iSv. § 22 AGG (st. Rspr., vgl. BAG 02.06.2022 – 8 AZR 191/21 – Rn. 30 mwN). Nach § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX haben die Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen unmittelbar nach Eingang über Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen zu unterrichten. Nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Beide Bestimmungen enthalten Verfahrenspflichten, deren Verletzung nach der Rechtsprechung des Senats die Vermutung iSv. § 22 AGG begründet, dass die Benachteiligung auf der (Schwer)Behinderung beruht.
Nach der Rechtsprechung des Siebten Senats des Bundesarbeitsgerichts ist der Arbeitgeber allerdings nicht verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung vor der beabsichtigten Umsetzung eines Arbeitnehmers (vorsorglich) zu unterrichten und anzuhören, wenn der Arbeitnehmer die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen zwar beantragt und dies dem Arbeitgeber mitgeteilt hat, über den Gleichstellungsantrag jedoch noch nicht entschieden worden ist (BAG 22.01.2020 – 7 ABR 18/18 – Rn. 25 ff., BAGE 169, 267). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat für die vorliegende Fallgestaltung der Bewerbung eines behinderten Menschen an. Ob Beteiligungspflichten nach § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX bestehen, ist nach den Umständen während des Bewerbungsverfahrens zu beurteilen.
#Kurz erklärt
- Nach der Rechtsprechung des 7. Senats des BAG in vergleichbaren Fällen, der sich der 8. Senat in der Entscheidung anschloss, ist nun geklärt, dass Arbeitgeber gerade nicht verpflichtet sind, die Schwerbehindertenvertretung (vorsorglich) zu unterrichten und sie nach §§ 164 Abs. 14, 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX zu beteiligen, wenn über einen Gleichstellungsantrag noch nicht entschieden worden ist.
- Der Student wandte ein, dass ein erfolgversprechender Gleichstellungsantrag stets erst gestellt werden kann, wenn eine konkrete Stelle ausgeschrieben ist, sodass aufgrund der üblichen Dauer eines Gleichstellungsverfahrens zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Bewerbung regelmäßig noch kein Gleichstellungsbescheid vorliegt. Diese Auffassung lehnte das BAG allerdings ab. Argument: Die Bundesagentur für Arbeit verlangt für eine Gleichstellung nach § 2 Abs. 3 Alt. 1 SGB IX, dass der Antragsteller perspektivisch die Erlangung eines konkreten Arbeitsplatzes anstrebt. Die Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt bemisst sich dabei anhand des Berufs bzw. der Tätigkeit, auf den bzw. die sich die Stellensuche bezieht (Zielberuf). Ein konkretes Stellenangebot muss dagegen für eine Gleichstellung durch die Bundesagentur für Arbeit nicht vorliegen (Bundesagentur für Arbeit Fachliche Weisungen Neuntes Buch Sozialgesetzbuch § 2 SGB IX Begriffsbestimmungen Stand September 2023 unter Ziff. 3.4 Abs. 2 und Abs. 4 „Gleichstellung zur Erlangung eines Arbeitsplatzes“). Die Gleichstellung erfolgt danach nicht bezogen auf eine einzelne Stellenausschreibung, sondern wird unbefristet oder nach § 151 Abs. 2 Satz 3 SGB IX befristet bewilligt und kann für eine Vielzahl von Bewerbungen oder Vermittlungsversuchen die Wettbewerbsfähigkeit behinderter Menschen in der Konkurrenz um freie Arbeitsplätze stärken.
- Im Übrigen hatte das BAG mit einer Entscheidung vom gleichen Tag (Urteil vom 23. November 2023 – 8 AZR 164/22) darüber zu entscheiden, ob ein ausbleibendes Angebot eines neuen Termins für ein Vorstellungsgespräch, nachdem seitens der sich bewerbenden Person um eine Verlegung gebeten worden war, eine Benachteiligung wegen einer Schwerbehinderung darstellen kann und ob die Verwendung des Gendersterns auch Menschen umfasst, die weder dem männlichen noch weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind. In beiden Punkten wurde die Klage abgewiesen.
Praxistipp
Wichtig für die Praxis sind die folgenden Aussagen des BAG wichtig:
Das AGG gilt auch für schwerbehinderte oder gleichgestellte Praktikanten gilt, die für ein Berufspraktikum im Sinn von § 26 BBiG eingestellt werden. Daher ist die Beachtung der Antidiskriminierungsvorschriften und der Dokumentation der ordnungsgemäßen Entscheidung auch im Rahmen von Praktika sinnvoll, um sich im Nachgang der Entscheidung vor vermeintlichen Entschädigungsforderungen wirksam schützen zu können. |
Die Ausschlussfrist für Entschädigungen nach § 15 Abs. 1, Abs. 2 AGG kann auch durch telefonische Absage auf eine Bewerbung in Gang gesetzt werden. Die für die Geltendmachung der Entschädigung erforderliche Schriftform kann wiederum durch Klageerhebung gewahrt werden. Die Berechnung der Frist und der mögliche Zugang der jeweiligen Erklärungen kann streitentscheidend sein und ist daher genau zu überprüfen. |
Wenn über den Antrag auf Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen noch nicht entschieden ist, ist die Einbeziehung der Schwerbehindertenvertretung in den Bewerbungsprozess nach §§ 164 Abs. 1 S. 4, 178 Abs. 2 S.1 SGB IX nicht zwingend notwendig. Hieran scheiterte schlussendlich die Klage des Studenten. |
von Frau Dr. Felisiak von Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte