Im Blick: Arbeitsrecht
Ist das Krankfeiern nach Kündigung vorbei?
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 13.12.2023 – 5 AZR 137/23
Kurz vor Weihnachten hat das BAG den Arbeitgebern noch ein Weihnachtsgeschenk gemacht. Es urteilte: Der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist erschüttert, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
Verortung des Urteils
Es geht um die sehr praxisrelevante Frage, ob ein Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung verweigern kann, wenn die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) des Arbeitnehmers mit der Dauer der Kündigungsfrist zusammenfällt.
Grundsätzlich muss derjenige, der arbeitsunfähig erkrankt ist, nicht arbeiten und bekommt gleichwohl vom Arbeitgeber bis zur Dauer von sechs Wochen den vollen Lohn gezahlt, erst danach springt die Krankenkasse ein und zahlt ein Krankengeld – so regelt es das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG).
Macht ein Arbeitnehmer Entgeltfortzahlungsansprüche nach § 3 Abs. 1 EFZG geltend, muss er die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit darlegen und beweisen. In der Regel genügt hierfür die Vorlage einer AU-Bescheinigung. Die Rechtsprechung misst der ordnungsgemäß ausgestellten AU-Bescheinigung einen hohen Beweiswert zu. Um diesen zu erschüttern, muss der Arbeitgeber zwar nicht das Gegenteil beweisen, aber er muss tatsächliche Umstände vortragen und ggf. beweisen, die ernsthafte Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründen. Dabei kommt allerdings erschwerend hinzu, dass der Arbeitgeber regelmäßig keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat. Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern, muss der Arbeitnehmer die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit weiter darlegen und ggf. beweisen.
Bereits 2021 hatte das BAG entschieden, dass sich ernsthafte Zweifel des Arbeitgebers auch aus der zeitlichen Koinzidenz von Arbeitsunfähigkeit und Laufzeit der Kündigungsfrist ergeben können (BAG, Urteil vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21).
Damals hatte eine Arbeitnehmerin dem Arbeitgeber zugleich mit ihrer Kündigung eine AU-Bescheinigung für den Zeitraum der Kündigungsfrist übergeben. Das BAG sah den Beweiswert der Bescheinigung als erschüttert an und hatte einen Entgeltfortzahlungsanspruch abgelehnt.
Diese Linie verfolgte das BAG auch im Sommer letzten Jahres (Urteil vom 28.06.2023, Az.: 5 AZR 335/22) weiter und äußerte sich mehrfach kritisch über den bis dato nahezu „unangreifbaren“ Beweiswert ärztlicher Atteste. Hieran knüpft das BAG nun an und verschärft seine Rechtsprechung zu Lasten der Arbeitnehmer weiter.
Der Sachverhalt
Der Kläger war seit März 2021 als Helfer bei der Beklagten beschäftigt. Er legte am Montag, dem 02.05.2022, eine AU-Bescheinigung für die Zeit vom 02.05. bis zum 06.05.2022 vor. Mit Schreiben vom 02.05.2022, das dem Kläger am 03.05.2022 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31.05.2022. Der Arbeitnehmer legte dann Folgebescheinigungen für die Zeit bis zum 31.05.2022 vor (AU-Bescheinigungen vom 06.05.2022 für die Zeit bis zum 20.05.2022 und vom 20.05.2022 für die Zeit bis zum 31.05.2022). Am 01.06.2022 war er wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Der Arbeitgeber hatte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit und verweigerte die Entgeltfortzahlung für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit. Hiergegen klagte der Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht (ArbG) und dem Landesarbeitsgericht (LAG) erfolgreich auf Entgeltfortzahlung.

Die Entscheidung
Das BAG sah dies anders, sodass der Arbeitgeber zum Großteil (für den Zeitraum vom 07.05.2022 bis zum 31.05.2022) mit seiner Revision Erfolg hatte. Die Begründung: Erschütterung des Beweiswerts der zweiten und dritten AU-Bescheinigung. Nur hinsichtlich der ersten AU-Bescheinigung vom 02.05.2022 sei der Beweiswert gegeben. Insoweit fehle es an der zeitlichen Koinzidenz zwischen Beginn der Arbeitsunfähigkeit und Zugang der Kündigung. Für die beiden anderen AU-Bescheinigungen (vom 06.05.2022 und 20.05.2022) war dies anders.
Wie sich aus der Pressemitteilung zum Urteil vom 13.12.2023 ergibt, stellte das BAG Folgendes klar:
- Ein Arbeitnehmer kann die von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit mit ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen AU-Bescheinigungen nachweisen. Diese sind nach wie vor das gesetzlich vorgesehene Beweismittel.
- Den Beweiswert einer AU-Bescheinigung kann der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben.
- Das BAG stellte fest, dass es keine Rolle spielt, ob es sich um eine arbeitgeber- oder um eine arbeitnehmerseitige Kündigung handelt.
- Außerdem betonte das BAG, dass die Rechtsprechung nicht nur für Erst-, sondern auch für Folgebescheinigungen gilt. Dies bedeutet, dass eine Erschütterung des Beweiswerts für jede Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die nach Ausspruch der Kündigung ausgestellt wurde, denkbar ist. Selbst dann – und das ist eine weitere Neuerung –, wenn eine Erstbescheinigung schon vor Ausspruch der Kündigung ausgestellt wurde. Jede zeitliche Koinzidenz zwischen der (Verlängerung einer) AU-Bescheinigung und der Kündigungsfrist kann mithin zu einer Erschütterung des Beweiswerts führen.
- Ganz so einfach ist es aber nicht – erforderlich ist und bleibt stets eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände. In dem entschiedenen Fall hatte das LAG richtig erkannt, dass der Beweiswert für die AU-Bescheinigung vom 02.05.2022 besteht. Bei den anderen AU-Bescheinigungen verkannte das LAG hingegen die Erschütterung des Beweiswerts aufgrund der zeitlichen Koinzidenz.

Kurz erklärt
- In dem entschiedenen Fall war maßgeblich, dass zwischen der festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz bestand und der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen hat.
- Aus der Presseerklärung ergibt sich, dass Zweifel nicht nur angebracht sein können, wenn eine AU-Bescheinigung die gesamte Kündigungsfrist abdeckt. Auch wenn mehrere AU-Bescheinigungen vorgelegt werden, können Zweifel gerechtfertigt sein.
- Darüber hinaus liest sich die Pressemitteilung so, dass Zweifel selbst dann denkbar sind, wenn die Arbeitsunfähigkeit bereits vor Ausspruch der Kündigung begonnen hat, z.B. wenn der Arbeitnehmer vorab Kenntnis von einer geplanten Kündigung erlangt (wie im Rahmen einer Anhörung durch den Betriebsrat, § 102 Abs. 2 S. 4 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)) und dann entsprechende AU-Bescheinigungen vorlegt.
- Für die Praxis ist wichtig, was die Erschütterung des Beweiswerts konkret bedeutet: Eine Erschütterung des Beweiswerts eines ärztlichen Attests führt zunächst nur dazu, dass der Arbeitnehmer wieder in der Beweislast ist. Er muss dann darlegen, dass er tatsächlich krank war. Dies kann er machen durch genauere Angaben zum Krankheitsverlauf, Benennung seines Arztes als Zeugen oder Vorlage von Arztberichten etc. Gelingt ihm dies, ist „ganz normal“ die Entgeltfortzahlung bei Krankheit zu gewähren.

Praxistipp
Die Entscheidung zeigt erneut, dass es durchaus berechtigt sein kann, die AU-Bescheinigung anzuzweifeln, wenn die Arbeitsunfähigkeit mit der Kündigungsfrist zusammenfällt. Auch wenn dabei nach dem BAG jeder Einzelfall zu würdigen ist. D. h. bei Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit und zeitlichem Zusammenfall von Kündigung bzw. Kündigungsfrist und Arbeitsunfähigkeit sollten Unternehmen einen Einbehalt des Entgelts für die Dauer der Erkrankung prüfen. Hierdurch wird der Druck auf Arbeitnehmer erhöht. Im sehr wahrscheinlichen Streitfall ist der Arbeitnehmer dann gefordert, dezidiert zu den Gründen der Arbeitsunfähigkeit auszuführen. Außerdem lässt sich diese Rechtsprechung – auch wenn dies in der Pressemitteilung nicht erwähnt ist – konsequenterweise auf Konstellationen übertragen, in denen AU-Bescheinigung(en) nach Abschluss eines Aufhebungsvertrags für die Restlaufzeit des Vertrags oder in denen AU-Bescheinigung(en) für die Dauer einer Freistellung vorgelegt werden.
(K)ein Annahmeverzugslohn nach unwirksamer Kündigung
Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg, Urteil vom 06.04.2023 – 8 Sa 51/22
In Bezug auf das Damoklesschwert „Annahmeverzugslohn“ hat sich in letzter Zeit einiges getan, das aus Arbeitgeberperspektive zu begrüßen ist. Das LAG Hamburg hat eine sehr praxisrelevante Entscheidung getroffen, die Arbeitgebern klare Leitlinien im Zusammenhang mit dem Risiko des Annahmeverzugslohns an die Hand gibt. Danach können Arbeitgeber die geltenden Darlegungs- und Beweislastregelungen nutzen und den gekündigten Arbeitnehmern konkrete offene Stellenangebote zusenden. Dies reduziert das Risiko, Annahmeverzugslohn zu zahlen, und stärkt entsprechend die Verhandlungsposition. Eine sehr praxisrelevante Entscheidung, die jede HR-Abteilung kennen und anwenden sollte.
Verortung des Urteils
Arbeitnehmer, die erfolgreich gegen eine ausgesprochene Kündigung vorgehen, können Anspruch auf Annahmeverzugslohn haben. Dies gilt nur dann nicht, wenn die Arbeitnehmer einen anderweitigen Erwerb böswillig unterlassen haben. D. h. sprechen Arbeitgeber eine „wackelige“ Kündigung aus, droht nicht nur, dass ein etwaiger Kündigungsschutzprozess verloren wird, sondern vor allem das Risiko des Annahmeverzugslohns (vgl. § 615 S. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)). Je nach Länge des Kündigungsschutzprozesses kann es sich hierbei um mehrere Monatsgehälter handeln. Allerdings müssen sich Arbeitnehmer bestimmte Leistungen auf den Annahmeverzugslohn anrechnen lassen (vgl. § 615 S. 2 BGB, § 11 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)). Hierzu zählt u. a., was der Arbeitnehmer während des Annahmeverzugszeitraums durch anderweitige Arbeit verdient hat (§ 11 Nr. 1 KSchG) oder was er hätte verdienen können, wenn er es nicht böswillig unterlassen hätte, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen (§ 11 Nr. 2 KSchG).
Um die Frage des böswilligen Unterlassens wird oft erbittert gestritten, insbesondere wenn im Einzelfall der Eindruck besteht, der Arbeitnehmer hätte es sich in seiner Arbeitslosigkeit gemütlich gemacht und auf den erwartungsgemäß hohen Annahmeverzugslohn spekuliert.
Die Rechtsprechung beschäftigt sich daher immer wieder mit dem Annahmeverzug und hat dabei folgende Leitlinien festgestellt:
- Das BAG (Urteil vom 27.05.2020 – 5 AZR 387/19) entschied, dass ein Arbeitnehmer, der eine Vergütung wegen eines Annahmeverzugslohns geltend macht, dem Arbeitgeber zur Auskunft über Vermittlungsangebote der Agentur für Arbeit verpflichtet (§ 242 BGB) ist. Im Rahmen dieses Auskunftsanspruchs muss der Arbeitnehmer auch darlegen, inwiefern er diesen Angeboten nachgekommen ist.
- Das LAG Niedersachsen (Urteil vom 09.11.2021 – 10 Sa 15/21) knüpfte hieran an und urteilte wie folgt: Unterlässt der Arbeitnehmer es, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend zu melden, erfüllt das bereits das Merkmal des böswilligen Unterlassens i. S. v. § 11 Nr. 2 KSchG. Auch wenn es sich um eine rein sozialversicherungsrechtliche Meldeobliegenheit handelt (§ 38 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) III), findet diese Vorschrift beim Annahmeverzug Beachtung. Dies bestätigte das BAG mit Urteil vom 12.10.2022 – 5 AZR 30/22.
- Das LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 30.09.2022 – 6 Sa 280/22) ist hingegen der Auffassung, dass es nach einer unwirksamen Arbeitgeberkündigung zur Begründung des Annahmeverzugs nicht eines Angebots des Arbeitnehmers (so etwa BAG, Urteil vom 22.02.2012 – 5 AZR 249/11) bedarf. Dies sieht das LAG Hamburg anders. Inwieweit es Arbeitgeber selbst in der Hand haben, das genannte Risiko zu reduzieren, zeigt seine im Folgenden dargestellte Entscheidung.
Der Sachverhalt
Der Kläger macht mit seiner Klage Annahmeverzugslohn aus einer Teilzeitbeschäftigung für den Zeitraum ab dem 16. Juli 2021 bis zum Januar 2022 unter Anrechnung von Arbeitslosengeld geltend. Der Kläger war ab dem 9. Juni 2021 freigestellt.
Das Arbeitsgericht wies die Klage teilweise ab und sprach dem Arbeitnehmer nur für einen begrenzten Zeitraum der Freistellung (bis einschließlich zum 31.08.2021) den Annahmeverzugslohn zu. Der Kläger hätte – nach Auffassung der Beklagten – bereits ab dem Zeitpunkt der Freistellung unverzüglich Eigenbemühungen, im Arbeitsmarkt Hamburg eine neue Stelle zu finden, aufnehmen können. Hierzu benannte die Beklagte 16 Pflegeeinrichtungen und deren Führungskräfte als Zeugen für eine entsprechende Einstellungsbereitschaft. Der Kläger hatte lediglich einen Vermittlungsvorschlag der Agentur für Arbeit erhalten, welcher sich jedoch nicht auf eine Teilzeitstelle, sondern eine Vollzeitstelle richtete. Er wehrte sich gegen das erstinstanzliche Urteil.
Das Arbeitsgericht, so der klägerische Vortrag in der zweiten Instanz, habe seine Verzugslohnansprüche verneint, weil es dem Kläger ein böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes unterstellt habe. Dies sei unzutreffend. Das Arbeitsgericht habe keine Tatsachen festgestellt, aus denen sich ergibt, dass der Kläger tatsächlich ab dem 1. September 2021 ein Arbeitsverhältnis hätte eingehen können, welches zu einem Verdienst geführt hätte, den er bei der Beklagten erzielt hatte.
Gegen die vom Arbeitsgericht unterstellte Böswilligkeit spreche außerdem bereits, dass der Kläger sich bei der Bundesagentur für Arbeit arbeitssuchend gemeldet hat. Von dort habe er im fraglichen Zeitraum nur ein Vermittlungsangebot erhalten. Auf telefonische Rücksprache habe ihm die Sachbearbeiterin erklärt, er werde weiterhin Arbeitslosengeld bekommen, auch wenn er sich dort nicht bewerbe. Auf eine Bewerbung habe er aus diesem Grund verzichtet.
Die Entscheidung
Das LAG teilt ganz überwiegend die Ansicht des Klägers. Ein böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes kann entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts und der Beklagten im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden.
Das LAG stützte seine Entscheidung darauf, dass der bloße Verweis auf einen günstigen Arbeitsmarkt kein Vortrag von Beschäftigungsmöglichkeiten sei, die konkret für eine Zwischenverdienstmöglichkeit im Rahmen des § 615 S. 2 BGB in Betracht kommen würden. Ein böswilliges Unterlassen eines anderweitigen Verdienstes komme – so das LAG – nur in Betracht, wenn es mindestens eine konkrete Erwerbsmöglichkeit gab, die dem Arbeitnehmer in dem Zeitraum bekannt war, für den er Verzugslohn verlangt.
Im Rahmen der sekundären Darlegungslast des Klägers hätte der Kläger nur auf konkret nachgewiesene Beschäftigungsmöglichkeiten reagieren müssen. Zur Abgabe von eigenen Angeboten sei der Arbeitnehmer nur verpflichtet, wenn sich ihm eine realistische Arbeitsmöglichkeit biete (BAG, Urteil vom 22.03.2017 – 5 AZR 337/ 16). Darüber hinaus hätte der Kläger keine anderen Aktivitäten entfalten müssen, um eine andere Beschäftigungsmöglichkeit zu erlangen. Die von der Agentur für Arbeit vermittelte Vollzeitstelle hätte der Kläger nicht annehmen müssen, da er bislang auch nur eine Teilzeitstelle innehatte.
Auch die Behauptung des Arbeitgebers, bei bestimmten Arbeitgebern seien für den Arbeitnehmer geeignete Stellen zu besetzen gewesen, genügt nur, wenn festgestellt werden kann, dass dem Arbeitnehmer diese offenen Stellen im fraglichen Zeitraum bekannt gewesen sind.
D. h. es müssen konkrete Erwerbsmöglichkeiten vorgetragen werden, die dem betreffenden Arbeitnehmer auch bekannt gewesen sein müssen. Der Arbeitgeber trägt die diesbezügliche Beweislast, was ihn auch nicht benachteiligt. Schließlich hätte er dem Arbeitnehmer eine zumutbare Prozessbeschäftigung im eigenen Unternehmen anbieten können. Die Ablehnung einer solchen Prozessbeschäftigung führt regelmäßig zur Annahme eines böswilligen Unterlassens, sofern sie für den Arbeitnehmer zumutbar ist. Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer auch auf bestimmte Beschäftigungsmöglichkeiten bei anderen Unternehmen hinweisen. Tut er dies, ist es Sache des Arbeitnehmers, zu erklären, wie er auf diese Mitteilungen reagiert hat oder weshalb ihm solche Bemühungen oder die Annahme eines Angebots nicht zumutbar gewesen sind. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht erfüllt.

Kurz erklärt
- In langwierigen Kündigungsschutzprozessen steigt für Arbeitgeber regelmäßig der Einigungsdruck, weil erhebliche Nachzahlungen (Annahmeverzugslohn) drohen können, wenn sich herausstellt, dass die ausgesprochene Kündigung unwirksam war.
- Ein Anspruch auf Annahmeverzugslohn nach Ausspruch einer unwirksamen Arbeitgeberkündigung besteht dann nicht, wenn der Arbeitnehmer es böswillig unterlassen hat, einen anderweitigen Verdienst zu erzielen (§ 615 Satz 2 BGB). Dies setzt voraus, dass es eine konkrete Erwerbsmöglichkeit gab, die dem Arbeitnehmer bekannt und deren Annahme zumutbar war.
- Die Entscheidung des LAG Hamburg ist so zu verstehen, dass der Kläger zwar Eigenbemühungen auf verfügbare Stellenangebote zum Erwerb von Zwischenverdienst zu entfalten hat. Der Arbeitgeber muss jedoch eine Kenntnis von diesen Stellenangeboten nachweisen. Dies gelingt (rechtssicher) nur mit der Auswertung und Zusendung von geeigneten Stellenangeboten. Dies eröffnet die Verteidigungsmöglichkeiten für Arbeitgeber.
- Es reicht nicht, wenn Arbeitgeber auf den allgemein günstigen Arbeitsmarkt verweisen, um sich von dem Risiko des Annahmeverzugslohns zu befreien. Hierbei handelt es sich – so das LAG Hamburg – nicht um eine feststellungsfähige Tatsache. Auch die bloße Behauptung eines Arbeitgebers, bei bestimmten Arbeitgebern seien für den Arbeitnehmer geeignete Stellen zu besetzen gewesen, genügt insoweit nicht.
Praxistipp
Arbeitgeber sind gut beraten, das Risiko des Annahmeverzugslohns zu minimieren und insoweit wie folgt vorzugehen:
- Schritt: Schreiben, in dem der Arbeitnehmer aufgefordert wird:
- offenzulegen, ob und wann er sich arbeitssuchend gemeldet hat,
- welche Vermittlungsvorschläge ihm von der Agentur für Arbeit unterbreitet und welche Eigenbemühungen entfaltet wurden
- und ob eine Einstellung angeboten wurde bzw. Gründe für eine Ablehnung der Stellen mitteilt wurden.
- Schritt: Schreiben mit Stellenausschreibungen, für die der Arbeitnehmer passende Qualifikationen aufweist:
- Aufforderung, sich auf die beigefügten Stellen zu bewerben und
- Auskunft über Bewerbungsunterlagen, Rückmeldung der Arbeitgeber oder Gründe für das Unterlassen der Bewerbung/Ablehnung der Einstellung zu erteilen.
EuGH: Keine Übertragung des Urlaubs, der für einen mit einem Quarantänezeitraum zusammen- fallenden Zeitraum gewährt wurde
Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 14.12.2023 – Rs. C-206/22
Verbringen Arbeitnehmer ihren Urlaub in Quarantäne, müssen diese Tage nicht gutgeschrieben werden – so der EuGH. Dies ist für Arbeitnehmer gleich doppelt ärgerlich. Zum einen müssen sie – auch ohne selbst infiziert zu sein – sich isolieren und sich in häusliche Quarantäne begeben. Zum anderen bekommen sie für die hiermit zusammenfallenden Urlaubstage keinen Ersatz!
Verortung des Urteils
Der EuGH musste sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens mit der Frage beschäftigen, ob bereits gewährter Jahresurlaub übertragen werden kann, wenn der Arbeitnehmer in diesem Zeitraum, ohne erkrankt zu sein, einer Quarantäneanordnung einer Behörde nachkommen muss.
Die bisherige Rechtsprechung in Deutschland war uneinheitlich. Weit überwiegend sahen die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte die Rechtslage wie der EuGH und lehnten die Gutschrift von Urlaubstagen ab (u. a. LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.02.2022 – 1 Sa 208/21, ArbG Neumünster, Urteil vom 03.08.2021 – 3 Ca 362 b/21). Anders sah dies hingegen das LAG Hamm (Urteil vom 27.01.2022 – 5 Sa 1030/21).
Der EuGH klärt nun die unionsrechtlichen Vorgaben für das Zusammenfallen von Erholungsurlaub und behördlich angeordneter Quarantäne.
Der Sachverhalt
Ein Arbeitnehmer der Sparkasse Südpfalz hatte im Dezember 2020 einige Tage Urlaub genommen. Weil er noch Kontakt mit einem Corona-positiven Kollegen hatte, musste er diesen allerdings zu Hause in Quarantäne verbringen. Um die Menschen in seinem Haushalt nicht anzustecken, bewegte er sich nur zwischen Schlaf- und Badezimmer. Daraufhin beantragte er bei der Sparkasse, diese Urlaubstage auf einen späteren Zeitraum übertragen zu dürfen.
Nach der 2020 geltenden Rechtslage galt der Urlaub als genommen, die Sparkasse lehnte eine Gutschrift der Urlaubstage ab. Das angerufene Arbeitsgericht Ludwigshafen am Rhein vertrat die Ansicht, dass Arbeitgeber nur dann zur Übertragung der gewährten Urlaubstage verpflichtet sind, wenn der Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeit nachweisen kann, die während des Urlaubszeitraums eingetreten ist. Die bloße Quarantäne sei aber – so die deutsche Rechtsprechung – nicht mit einer Arbeitsunfähigkeit gleichzusetzen. Daher wandte sich das Arbeitsgericht Ludwigshafen an den EuGH. Es wollte wissen, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, dass der Urlaub als verbraucht gilt, wenn der Arbeitnehmer während eines genehmigten Urlaubs von einem unvorhersehbaren Ereignis (Quarantäne) betroffen ist.

Die Entscheidung
Dies bestätigte der EuGH. Wenn Beschäftigte einige Tage ihres Jahresurlaubs in Quarantäne verbringen müssen, so müssen diese nicht gutgeschrieben werden. Dies sei mit dem Unionsrecht vereinbar.
Zur Beantwortung dieser Vorlagefrage hat der EuGH zunächst ausgeführt, dass sich die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub und auf Abgeltung des Urlaubs unmittelbar aus Art. 31 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) ergeben, während in Art. 7 der RL 2003/88 lediglich die Modalitäten hierzu näher konkretisiert werden. Das in Art. 31 Abs. 2 GRCh verankerte und in Art. 7 RL 2003/88 konkretisierte Recht jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub müsse daher stets im Lichte des Art. 31 Abs. 2 GRCh ausgelegt werden.
Anschließend wurden die unterschiedlichen Zweckrichtungen verglichen:
- Der Zweck des Urlaubsanspruchs bestehe darin, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen.
- Zeiten der Arbeitsunfähigkeit seien hingegen von der Ermöglichung einer Genesung geprägt und nicht mit dem Zweck des Urlaubsanspruchs vergleichbar.
- Zweck einer Quarantänemaßnahme sei es hingegen, die Verbreitung einer ansteckenden Krankheit durch Isolierung von Personen, die deren Symptome entwickeln können, zu verhindern.
Der Zweck einer Quarantänemaßnahme unterscheide sich zwar ebenfalls vom Zweck des bezahlten Jahresurlaubs. Ein Arbeitnehmer, der sich – ohne erkrankt zu sein – in Quarantäne befindet, unterscheide sich aber von einem Arbeitnehmer im Krankenstand, der unter physischen oder psychischen Beschwerden leidet. Daher könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Zweck der Quarantäne grundsätzlich mit dem Zweck eines „Krankheitsurlaubs“ vergleichbar ist.
Ein Quarantänezeitraum als solcher könne der Verwirklichung des Zwecks des Jahresurlaubs, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen, nicht entgegenstehen. Die Quarantäne könne zwar auch Auswirkungen auf die Bedingungen haben, unter denen ein Arbeitnehmer über seine Freizeit verfügt. Es könne jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass sie als solche den Anspruch dieses Arbeitnehmers auf tatsächliche Inanspruchnahme seines bezahlten Jahresurlaubs beeinträchtigt.
Kurz erklärt
- Das EuGH-Urteil setzt die bisherige Rechtsprechungslinie fort. Der Erholungszweck des Jahresurlaubs als solcher ist durch die Quarantäneanordnung nicht beeinträchtigt. Anders ist der Fall selbstverständlich zu entscheiden, falls der Arbeitnehmer während der Quarantäne tatsächlich erkrankt und arbeitsunfähig ist. In diesem Fall findet § 9 Bundesurlaubsgesetz (BurlG) Anwendung.
- Die Entscheidung ist in Deutschland nur auf begrenzte Sachverhaltskonstellationen anwendbar. Die EU-Länder sind nämlich berechtigt, arbeitnehmerfreundlichere Regelungen zu treffen. Deutschland hat davon Gebrauch gemacht. Die Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes vom September 2022 sieht in § 59 Abs. 1 IfSG vor, dass behördlich angeordnete Quarantänezeiten nicht auf den Urlaub angerechnet werden. Für frühere Zeiten, also den Großteil der Corona-Zeit, gilt diese Regelung aber nicht rückwirkend – insoweit kommt es auf die Rechtsprechung an.
Praxistipp
Damit ist die Rechtslage klar. Arbeitgeber können unter Berufung auf diese Rechtsprechung Forderungen nach Gutschriften ablehnen. Hierbei ist darauf zu achten, ob § 59 Abs. 1 IfSG für den begehrten Zeitraum bereits in Kraft war oder nicht.
Dr. Michaela Felisiak, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte
Quick-Check: Fit für ESG?
2024 wird der ESG-Report für viele Unternehmen zur Pflicht. ESG steht für „Environmental“, „Social“ und „Governance“. Die EU hat die sogenannte CSRD verabschiedet (Corporate Sustainability Reporting Directive), die am 05.01.2023 in Kraft getreten ist. In Zukunft müssen fast alle Unternehmen, die kapitalmarktorientiert sind, einen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlichen – und zwar als Teil ihres Geschäftsberichts. Nur Kleinstunternehmen sind davon ausgenommen. Dies ist eine zusätzliche Arbeit, ja, aber es ist auch eine Chance, sich mit den Themen zu beschäftigen, die für Mitarbeiter und Bewerber schon heute wichtig sind.
Ähnlich wie beim Hinweisgeberschutzgesetz bieten Pflichten auch stets Chancen. Das ESG-Reporting kann und sollte zum Zwecke des Employer Branding genutzt werden. Dies kann eine Magnet-Wirkung insbesondere auf junge Fachkräfte haben. Denn gerade für diese sind die Inhalte des Reports wichtig. Laut einer KPMG-Studie haben 30 Prozent der 18- bis 24-Jährigen schon einmal ein Jobangebot abgelehnt, weil ihnen die ESG-Maßnahmen des Unternehmens nicht reichen. Werte wie soziale Gerechtigkeit, Diversität und Familienfreundlichkeit sind (jungen) Menschen wichtiger denn je. Unternehmen können im ESG-Report zeigen, was sie in diesen Bereichen zu bieten haben, und das sowohl anhand von Zahlen als auch ganz lebendig und eingebettet in Geschichten von Mitarbeitern belegen.
D. h., das ESG-Reporting kann sich lohnen und sollte im Zusammenhang mit dem Recruiting verwendet werden. Ein dabei bislang wenig beachteter Aspekt ist beispielsweise die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Diese Frage ist für neue und bereits bestehende Mitarbeiter wichtig. Die Förderung von Vereinbarkeit kann ein sinnvoller und niedrigschwelliger Schritt hin zu mehr Vielfalt und Wohlbefinden der Mitarbeiter sein und damit das „S“ im ESG-Report stärken.
Fazit
Schon aus Imagegründen kommen die Führungsetagen nicht umhin, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen und entsprechende Unternehmensstrategien unter dem Stichwort ESG zu entwickeln. Daher ist es jetzt an der Zeit, sich Prozesse anzusehen und zu prüfen, ob es insoweit Anpassungsbedarf gibt, der sich sowohl im ESG-Reporting gut macht als auch andere Themen (Employer Branding, Recruiting, Mitarbeiterzufriedenheit etc.) unterstützt. Dies kann Herausforderungen mit sich bringen, bietet aber auch Chancen und sollte dazu genutzt werden, einen Wettbewerbsvorteil (z. B. Vereinbarkeit) zu entwickeln.