Anerkennung & Förderung : Hallo Hochglanz-Scheinwelt? Wo stehen Diversity, Gender und „gleichgestellte“ Alltagshelden?
Wo stehen Diversity, Gender und „gleichgestellte“ Alltagshelden?
Corona dominiert nicht nur die sozialen Netzwerke. Trotzdem bewegen in den vergangenen Monaten zwei weitere Themen die Arbeitswelt spürbar und konstant: Das sind Gender und Diversity. Sie sind zum Aushängeschild von „hip“ geltenden Unternehmen geworden. Handelt es sich dabei aber eher lediglich um „schicke Parolen“?
Plötzlich wimmelt es nur noch so vor Vorzeigearbeitgebern. Unternehmen bescheinigen sich selbst eine jahrelange Tradition, verleihen sich eigene „Awards“ für Mitarbeiterführung – feiern das Thema teils branchenspezifisch, als sei das nicht auch aus der Not geboren gewesen.
Wie immer mehr gesagt als getan?
In ihrer Neujahrsansprache hat Kanzlerin Merkel die „Kraft der Vielfalt“ beschworen – die Impfstoff-Entwickler*innen Ugur Sahin und Özlem Türeci hätten ihr berichtet, dass in ihrer Firma Biontech Menschen aus 60 Nationen arbeiten würden. Allerdings sagen herausgegriffene Zahlen und „bunte“ Postings noch nichts darüber aus, wie wirksam und nachhaltig Diversität insgesamt implementiert und gelebt wird.
Fakt ist: 9,2 Prozent der Menschen mit Migrationsgeschichte haben es bis zu einer Führungsposition in Deutschland geschafft, obwohl bereits jede*r Vierte einen Migrationshintergrund hat. „Diversität in Deutschland ist noch immer ein reines Lippenbekenntnis und keine gelebte Realität“, fasst Victoria Wagner das Ergebnis der Studie „German Diversity Monitor 2020“ der Initiative BeyondGenderAgenda zusammen.
Wer Vielfalt feiert, muss sie verstehen!
Geflüchtete in die Berufswelt zu bringen, ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Das alleinige Vermitteln funktioniert aber nicht ohne das Verstehen. Die „Jobhürden“ sind nicht „bloß“ mangelnde Sprachkenntnisse oder ein fehlender Führerschein. Integration und Inklusion bedeuten nicht nur Arbeit – es braucht echtes Einfühlungsvermögen, fundierte Kenntnisse und eine sorgfältige Vorbereitung. Migrationsbiographien sollten auch anders gelesen werden. Eine vielleicht „nicht sehr qualifiziert“ wirkende Person ist unter Umständen gleichzeitig jemand, der aus dem Nichts ein Essen zaubern könnte über einem einfachen Lagerfeuer, um 15 Personen satt zu machen. Etwas, was nicht jede*r von uns könnte. Die Frage ist, was man aus solchen Fähigkeiten ableiten kann.
Keine Änderung per Klick
Wer sich mit Diversity als Teil der Unternehmenskultur rühmt, hat generell viele Hausaufgaben zu erledigen. Ein Rollstuhlfahrer-Bild bei Facebook schafft noch keine behindertengerechte Einrichtung. Es reicht nicht, das Recruitment und vielleicht im besten Fall noch das Onboarding darauf auszurichten. Es muss eine komplette Kultursensibilisierung im Unternehmen stattfinden, auch damit die drei kleinen Buchstaben m/w/d (männlich/weiblich/divers) zur Grundlage von echten „Success Stories“ werden und nicht nur Blabla bleiben. Was kein Mensch braucht, ist, noch zusätzlich neue „Quoten-Exoten“ zu schaffen. Unsere Gesellschaft muss sich zudem fragen, wie die fehlende Bildungsgerechtigkeit bei einem gleichzeitigen „Happy End at Work“ funktionieren soll.
Heute schon gegendert?
Wo die einen auf Gender-Balance bei der Personalauswahl setzen, beklagen andere die stattfindende Verstümmelung der Sprache. So hat nun auch der Duden beschlossen, beim Gendern von Hauptwörtern mitzuwirken und Formen wie das generische Maskulinum abzuschaffen, obwohl es längst Konsens ist, dass unter „Menschen“ alle Geschlechter subsumiert sind. Wer im Corona-Homeoffice-Winterloch viel in den beruflichen Netzwerken unterwegs war, der konnte sich durchaus fragen, ob sich der Gender-Diskurs mit all seinen Auswüchsen wirklich einen Gefallen tut. Die Große Koalition hat sich im Oktober 2020 grundsätzlich auf eine verbindliche Frauenquote in Vorständen geeinigt. Bei börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Unternehmen mit mehr als drei Mitgliedern im Vorstand muss demnach künftig ein Mitglied eine Frau sein, so teilte Justizministerin Christine Lambrecht mit. Frauen verlieren in der Pandemie aber häufiger ihren Job – vor allem, wenn sie alleinerziehend sind – bzw. fürchten das nicht zu Unrecht.
Gleichgestellt oder eher abgeschminkt?
Erstaunlicherweise sind die Topics im Netz sehr oft traditionell und klassisch besetzt – und das genau unter dem Deckmantel des „New Normal“. Fragen wie „Soll ich mich im Homeoffice schminken?“ oder Diskussionen zum Thema, warum ein knallroter Lippenstift zu Unrecht nach wie vor oft als Symbol von Inkompetenz gewertet wird, erfreuen sich zum Jahreswechsel großer Aufmerksamkeit. „Für mich ist mein roter Lippenstift Emanzipation“, sagt Influencerin und Unternehmerin Tijen Onaran (u. a. CEO von Global Digital Women). Flavia Tata Nardini – CEO und Co-Founder von Fleet Space Technologies – wird weltweit in den sozialen Medien gefeiert, weil sie ihre Töchter in Ermangelung eines Babysitters einfach mitgebracht hatte. Sie sprach vor hunderten von australischen Highschool-Mädchen über MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik), während sie ihre kleinere Tochter auf dem Arm trug und die größere stolz für die gesamte Dauer des Vortrags neben ihr stand. Ihre Botschaft: „Nichts kann Frauen davon abhalten, die Welt zu verändern.“ Beiträge, in denen weibliche Stärken – auch aus noch bestehenden Mustern – zur Krisenbewältigung beitragen, sieht man selten. Geredet wird nach wie vor viel über Kinder und Kosmetik.
Kinder als Karriere-Killer?
Aktuelle Studien zeigen, dass die Corona-Homeoffice-Situation Frauen deutlich mehr in ihre alten Rollenklischees drängt, während Männer in der Übernahme von kleinen eher selbstverständlichen Alltagstätigkeiten eine deutliche Entlastung sehen, als täten sie einen Gefallen. Der Spiegel hat aktuell recherchiert, wie Mütter nach der Elternzeit im Unternehmen aufgenommen werden – mit recht ernüchternden Ergebnissen, wobei es natürlich auch positive Beispiele gab. Frauen wurden u. a. bei ihrer Rückkehr von Kolleginnen als Rabenmüttern deklariert, ihre Arbeitsplätze waren nicht nur ausstattungstechnisch nicht mehr existent. Gestrichen war neben der Mail-Adresse in wichtigen Verteilern nicht selten gleich die ganze Karrierechance.
„Wie oft fragen wir eigentlich CEOs, wie sie Familie und Karriere unter einen Hut bekommen oder wie sie es schaffen, als ‚Karrieremänner‘ mitten im Leben zu stehen?“ – das gibt Kadriye Samsunl, Expertin für digitale Transformation, mit Recht zu bedenken. Weitere und neue Lippenbekenntnisse helfen bei Gender und Diversity nicht, wenn am Ende nur „Kulturkosmetik“ dabei herauskommt.
Dr. Silvija Franjic, Online-Redakteurin + Jobcoach