Arbeitszeit in Krisenzeiten : Arbeiten ohne Limit?
Die Regelungen zur Arbeitszeit erweisen sich momentan als zu unflexibel, um den Auswirkungen der Krise zu begegnen. Das betrifft nicht nur die sogenannten systemrelevanten Berufe in Gesundheitswesen und Versorgung, sondern auch die zahllosen Neu-Heimarbeiter. Noch sind die eigentlich fälligen gesetzlichen Neuregelungen eher zaghaft, dezentral, und der Bund ermächtigt sich zunächst einmal via Generalklausel.
Alles anders – das kennen wir nun schon. Doch während der Gesetzgeber in den vergangenen Wochen nicht müde wurde, Geld zu verteilen und die Zugangsschranken dahin zu senken, Verbraucher von Zahlungsverpflichtungen befreite und Fristen aussetzte, blieb offenbar kaum Zeit, sich mit dem allgemeinen gesetzlichen Rahmen des Wirtschaftens auseinanderzusetzen, der derzeit vielen Unternehmen Improvisation und Schadensbegrenzung schwer macht.
Denn noch immer gelten in den allermeisten Bereichen dieselben mitunter bürokratischen Regelungen wie zuvor – sei es beim Datenschutz, im Steuerrecht oder bei der Arbeitszeit. Nun sollte freilich keine Krise, egal welchen Ausmaßen, unmittelbar eine Umwertung aller Werte der Rechtsordnung nach sich ziehen, und doch, wer sich im Unternehmen derzeit neu sortiert, um zu überdauern, bewegt sich allzu oft auf dem schmalen Grat der Billigung des Rechtsbruchs.
Das betrifft in besonderer Weise die Arbeitszeit. So reicht das, was der Gesetzgeber als zumutbar für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in normalen Zeiten toleriert, gerade in den sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen und Branchen nicht aus. Doch man muss nicht bis ins Krankenhaus gehen, um zu sehen, wie viel Mehrarbeit jetzt für manche anfällt – es reicht ein Blick auf den ersten Lohnabrechnungsdurchlauf mit unzähligen neuen Regelungen und Ausnahmen.
Sozialpaket erlaubt Bund weitreichenden Durchgriff
Doch es sind eben nicht die Payroller, denen der Gesetzgeber jetzt längere Arbeitszeiten zumutet, sondern eben nur die wenigen ausgewählten Berufsgruppen, um die sich alle gesetzgeberische Anstrengung dreht. So hat der Bundestag im Rahmen des sogenannten Sozialpakets Ende März zwar auch eine Änderung des Arbeitsrechts beschlossen. Damit räumt sich die Kammer weitreichende Befugnisse über die Kompetenzen der Bundesländer hinweg ein.
Allerdings bezieht sich dieses Recht tatsächlich ausschließlich auf Tätigkeiten, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, des Gesundheitswesens und der pflegerischen Versorgung, der Daseinsvorsorge oder zur Versorgung der Bevölkerung mit existenziellen Gütern notwendig seien, heißt es im neu eingefügten Absatz des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG).
Demnach gilt: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann durch Rechtsverordnung im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit ohne Zustimmung des Bundesrates in außergewöhnlichen Notfällen mit bundesweiten Auswirkungen, insbesondere in epidemischen Lagen von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes, für Tätigkeiten der Arbeitnehmer für einen befristeten Zeitraum Ausnahmen zulassen, die über die in diesem Gesetz und in den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen sowie in Tarifverträgen vorgesehenen Ausnahmen hinausgehen.“
Darauf, dass dies tatsächlich geschieht, warten wir erstens gerade noch, denn momentan regeln Bundesländer und Bezirke diese Dinge individuell. Zweitens ist die Regelung selbstverständlich nicht weitreichend genug. Denn systemrelevant sind mittelbar nicht nur einzelne, sondern alle Unternehmen, die die Steuern erwirtschaften, die erst später zu Wohltaten werden können. Deshalb ist es kurzsichtig, Ausnahmen nur für die unmittelbare erste Frontlinie zu gewähren.
Warum dies bislang nicht der Fall ist, lässt sich nur schwer einschätzen. In der Begründung zum Gesetzentwurf hatte es in jedem Fall noch geheißen: „Die bisher im Arbeitszeitgesetz vorgesehenen Ausnahmeregelungen reichen nicht aus, um auf außergewöhnliche Notfälle, insbesondere epidemische Lagen von nationaler Tragweite, schnell, effektiv und bundeseinheitlich reagieren zu können.“
Länder und Bezirke lassen längere Arbeitszeiten zu
In der Zwischenzeit haben bereits einzelne Bundesländer und die Bezirksregierungen in Bayern etwa Ausnahmen beschlossen, die sich allerdings auch nur auf die sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen beziehen. Damit es besonders kompliziert wird, ist nicht automatisch jede Tätigkeit in diesen Bereichen durch die Ausnahmeregelung erfasst. Die Tätigkeiten müssen jeweils vor dem Hintergrund des außergewöhnlichen Notfalls notwendig sein.
Ohne Frage betroffen sind die Medizin und selbstverständlich die Versorgung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen mit Lebensmitteln, lebenserhaltenden Medizinprodukten und Geräten. Keine Frage stellt sich auch bei Apotheken, dem Güterverkehr, dem Lebensmittelhandel und der Lebensmittelproduktion, vornehmlich auch bei der Landwirtschaft sowie Lieferdiensten.
Dort dürfen, wie es etwa in einer Allgemeinverfügung aus den bayerischen Regierungsbezirken heißt, „abweichend von § 3 ArbZG […] Arbeitnehmer zur Produktion von existentiellen Gütern und für Dienstleistungen zur Gewährleistung der Daseinsvorsorge, die im Zusammenhang mit den Folgen der Ausbreitung des Corona-Virus anfallen, täglich über acht bzw. zehn Stunden hinaus beschäftigt werden“.
Zudem dürfen sie auch an Sonn- und Feiertagen arbeiten; die Ruhepausen dürfen um eine Viertelstunde verkürzt werden, und zwar auf mindestens 15 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs bis zu neun Stunden und auf mindestens 30 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden insgesamt. Soweit erforderlich, könne die Gesamtdauer der Ruhepausen auf Kurzpausen von angemessener Dauer aufgeteilt werden.
Regelungen gelten lokal begrenzt
Die Regelungen sind gemäß föderalem Prinzip in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich ausgestaltet, ihre Anpassung ist einem ständigen Veränderungsprozess unterzogen, so dass Unternehmen pausenlos prüfen müssen, was für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nun eigentlich gilt – vor allem, wenn sie Grenzen überschreiten.
So änderten sich auch die Vorgaben für den Lkw-Verkehr: Um Lieferengpässen entgegenzuwirken, erlaubt etwa Hessen sofort alle Transporte mit Warenlieferungen für den Einzelhandel auch ohne eine gesonderte Ausnahmegenehmigung an Sonn- und Feiertagen. Bisher galt in Hessen die Lockerung nur für Lieferungen mit Waren des Trockensortiments, also etwa haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel. Die noch weitergehende Aufhebung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots gilt dort zunächst bis Ende Juni 2020.
Auch in Bayern dürfen wie im Nachbarland Österreich Lastwagen über 7,5 Tonnen auch am Wochenende fahren. Bereits vor wenigen Wochen hatten viele europäische Länder die Lenk- und Ruhezeiten etwa für Lkw-Fahrer gelockert, die mit dem Transport von medizinischen Gütern oder Lebensmitteln befasst sind.
Änderungen auch für geringfügig Beschäftigte
Dass dies das Ende der Änderungen ist, darf zumindest bezweifelt werden. Auch bei den geringfügigen Beschäftigten sind indes Anpassungen vorgesehen. Das Bundesarbeitsministerium will die Zeitgrenzen für die geringfügige Beschäftigung in Form der kurzfristigen Beschäftigung befristet auf eine Höchstdauer von fünf Monaten oder 115 Tagen ausweiten. Außerdem sollen Kurzarbeitende nebenbei einer Beschäftigung nachgehen dürfen.
Ehe Kurzarbeitergeld in Anspruch genommen werden kann, ist der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, Überstundenguthaben und Urlaubsansprüche abzubauen. Allerdings ist es nach der Gesetzesänderung nicht mehr nötig, zunächst Minusstunden aufbauen zu lassen.
Entgrenzung der Arbeitszeit
Allgegenwärtig ist momentan die Diskussion der Situation in der Vielzahl der aus der Not rasch entstandenen Homeoffice-Arbeitsplätze. Hierfür gibt es bislang keine Neuregelungen – was Unternehmen de facto rechtlichen Risiken aussetzt. Denn nicht nur, dass die Vermessung der produktiv im Sinne des Unternehmens verbrachten häuslichen Stunden schwierig ist, Arbeitszeitregelungen gehen hier besonders oft an der Realität vorbei.
So dürfte etwa eine Ruhezeit von elf Stunden nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit für viele Neu-Heimarbeiter schwierig sein – zumindest für jene, die auch noch schulpflichtige Kinder zu Hause zu betreuen und beim Digitalunterricht zu unterstützen haben. Denn in dem Moment, in dem die Arbeit an die Randzeiten des Tages geschoben wird, lässt sich dieser Wert nicht mehr erreichen. Das Modell morgens von 6 bis 8 Uhr, dann noch mal von 10 bis 12 Uhr, später wieder von 15 bis 18 Uhr und dann nach einmal abends von 21 Uhr an geht gesetzeskonform nicht.
Und das ist nicht allein Sache des Arbeitnehmers, da der Arbeitgeber zwar in den meisten Fällen Vertrauensarbeitszeit vereinbart haben dürfte. Und dabei erfolgt qua Definition keine Kontrolle der Zeiteinteilung. Dennoch ist der Arbeitgeber verpflichtet, die bestehenden gesetzlichen Regelungen zu beachten. Das betrifft neben dem Arbeitszeitgesetz das Arbeitsschutzgesetz sowie die Bildschirmarbeitsverordnung, ganz zu schweigen von Datenschutz und Datensicherheit.
In letzter Konsequenz bleiben damit nicht nur Arbeitgeber mit ihrer Verantwortung allein, sondern auch die Arbeitnehmer, deren Schutz die Gesetze eigentlich dienen sollen. Denn wo unrealistische Vorgaben nicht umgesetzt werden können, gelten in den Augen der Mehrheit: gar keine. Und das kann niemand wollen.
Alexandra Buba