Sozialversicherung : Das dritte Geschlecht in der Praxis
Im Oktober 2017 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Geschlecht im Sinne des Grundgesetzes „auch ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich sein kann“. Es erteilte dem Gesetzgeber den Auftrag, das Personenstandsgesetz entsprechend zu ändern, was mit Wirkung ab 2019 dann auch geschah. Neben den Geschlechtern „männlich“ und „weiblich“ wurden die Geschlechtsbezeichnungen „divers“ und „unbestimmt“ für das Personenstandsregister eingeführt. Diese Klassifizierung wurde auch in das Meldeverfahren zur Sozialversicherung übernommen.
Wichtig: Das Gesetz regelt nur die Eintragung von intersexuellen Menschen, das sind solche mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung, die körperlich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können. Nicht erfasst sind transsexuelle Personen, also Menschen, die ihre vorhandenen eindeutigen Geschlechtsmerkmale durch Hormongaben und Operationen willentlich verändern.
Kein Massenphänomen
Bei der Aufmerksamkeit, die das Thema Anfang 2019 sowohl in der Publikums- als auch in der Fachpresse erregt hatte, könnte man auf die Idee kommen, dass es solche Personen in großer Anzahl geben würde. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall.
Im Mai 2019 wurde in einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage berichtet, dass bis dahin 69 Menschen als „divers“ in die Personenstandsregister eingetragen wurden. Zum Vergleich: Änderungen des Personenstandes von „männlich“ zu „weiblich“ oder umgekehrt wurden 250-mal vorgenommen.
Die Auswirkungen auf die Praxis
Stellenausschreibungen: Auch wenn es sich offensichtlich bisher um Einzelfälle handelt, hat die Rechtsänderung erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitspraxis. Am deutlichsten wird dies bei den Stellenausschreibungen, die inzwischen fast durchgängig geschlechtsneutral mit dem Hinweis „m/w/d“ versehen werden. Aus gutem Grunde: Bei einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts drohen den Unternehmen Schadenersatzforderungen.
Die Anrede/Ansprache: Das klassische „Sehr geehrte Damen und Herren“ hat im Grunde ausgedient – es sei denn, man ist sich sicher, dass unter den Angesprochenen oder Angeschriebenen wirklich nur männliche und weibliche Adressaten befinden.
Soll eine größere Gruppe angesprochen werden, bieten sich geschlechtsneutrale Formulierungen wie zum Beispiel „liebe Mitarbeitende“, „liebes Kollegium“, „liebes Team“ oder ähnliche Begriffe an.
Bei direkter Benennung kann man auf ein vorgestelltes „Herr“ oder „Frau“ verzichten und stattdessen den Vor- und Zunamen nennen, zum Beispiel „Guten Tag Maxi Mustermann“.
Im direkten Kontakt empfiehlt die Bundesvereinigung Trans* e. V. – eine Interessenvertretung von diversen Menschen –, den Betroffenen einfach danach zu fragen, wie er/sie angesprochen werden möchte. Das wird von diesen keineswegs als diskriminierend, sondern eher als wertschätzend empfunden.
Und die Toilette? Rechtlich ist das zunächst einmal eigentlich kein Problem. Die Arbeitsstättenverordnung sieht getrennte Toiletten für „Männer und Frauen“ vor. Die Einführung des dritten Geschlechts hat der Gesetzgeber hier (noch) nicht nachvollzogen. Zudem ist es auch ausreichend, wenn eine getrennte Nutzung sichergestellt ist.
Aufgrund der bisher geringen Anzahl von diversgeschlechtlichen Menschen dürften größere Umbauten nicht erforderlich sein. Alternativ könnten auch Unisextoiletten eine Lösung sein. Hilfreich ist meistens ein Gespräch mit dem/der Betroffenen.
Und dann ist da noch …
Gleichstellung von Mann und Frau: Alle Gleichstellungsregelungen sind bisher auf Männer und Frauen bezogen. Ob und in welcher Form der Gesetzgeber hier eine Änderung vornimmt, ist derzeit völlig offen. Vermutlich wird erst wieder das Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts Aktivitäten auslösen. Für die Unternehmen bleibt daher ein gewisses Restrisiko, dass sie – unbewusst und unwillentlich – gegen Gleichstellungsgrundsätze gegenüber dem dritten Geschlecht verstoßen. Aufgrund der kleinen Zahl Betroffener scheinen allerdings bei objektiver Betrachtung einige für die Gleichstellung von Männern und Frauen ergangenen Regelungen nicht übertragbar zu sein. Wie sollten beispielsweise die großen Unternehmen sicherstellen, dass neben der Quote für Frauen auch eine Quote für das dritte Geschlecht etwa bei der Besetzung von Vorständen oder Aufsichtsräten umgesetzt werden kann? Und ein wesentlicher Grundsatz unseres Rechtssystems besteht darin, dass Unmögliches nicht verlangt werden kann. Warten wir da also mal in Ruhe ab, ob und was sich in der Zukunft tut.
Die Betriebsratswahl:
Ähnliches gilt bei den aktuellen Regelungen zur Betriebsratswahl. Das Minderheitsgeschlecht soll im Betriebsrat mindestens so stark vertreten sein wie in der Gesamtbelegschaft. Bisher waren das entweder die Männer oder die Frauen. In Betrieben, in denen ein Mitarbeiter mit dem dritten Geschlecht beschäftigt ist, würde automatisch diese Gruppe zur Minderheit. Die sinnvollen Regelungen für eine Gleichstellung von Männern und Frauen würden damit quasi ausgehebelt – eine Entwicklung, die niemand ernsthaft wollen kann. Dieses Problem zu lösen, wird Aufgabe des Gesetzgebers bis zur Betriebsratswahl 2022 sein.
Jürgen Heidenreich
Die Rentenversicherung hat ein Problem
Dumm, dass in der Rentenversicherungsnummer das Geschlecht des/der Versicherten erkennbar verschlüsselt ist. Die ersten zwei Ziffern nach dem Buchstaben (erste Stelle des Geburtsnamens) werden nach dem Geschlecht vergeben: 00-49 bedeutet „männlich“, bei 50-99 handelt es sich um eine weibliche Versicherte. An dieser Systematik hat sich auch durch das neue Gesetz nichts geändert. Bei Personen mit dem neuen Geschlecht „divers“ wird eine Nummer für „weibliche“ Personen vergeben, die Geschlechtskategorie wird aber in einem gesonderten Feld in der Datenbank dokumentiert.
Kurios!
Es gibt allerdings erste Berichte von Unternehmen, die diversgeschlechtliche Mitarbeiter beschäftigen, dass die Probleme nicht von den Menschen des dritten Geschlechts, sondern von den „normalen“ Arbeitskollegen ausgehen. Diese weigern sich im Einzelfall, eine gemeinsame Toilettennutzung mit dem diversen Kollegen zu akzeptieren. Eigentlich erstaunlich in der heutigen Zeit.
Viel spricht dafür, dass in diesen Fällen beim Thema „Diversität“ noch einiger Nachholbedarf besteht.