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Betriebsratswahl – Anfechtung – Wahlumschläge
(Bundesarbeitsgericht (BAG), Beschluss vom 20.01.2021 – 7 ABR 3/20)
Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 Wahlordnung (WO) erfolgt die Stimmabgabe bei der Betriebsratswahl durch Abgabe von Stimmzetteln in den hierfür bestimmten Wahlumschlägen. Nach § 12 Abs. 3 WO gibt die Wählerin oder der Wähler ihren bzw. seinen Namen an und wirft den Wahlumschlag, in den der Stimmzettel eingelegt ist, in die Wahlurne ein, nachdem die Stimmabgabe in der Wählerliste vermerkt worden ist. Demnach schreibt die Wahlordnung die Verwendung von Wahlumschlägen bei der Stimmabgabe vor. Diese Wahlumschläge sind vom Wahlvorstand den Wählern bereitzustellen.
Die Regelungen in § 11 Abs. 1 Satz 2, § 12 Abs. 3 WO sind wesentliche Vorschriften über das Wahlverfahren im Sinne von § 19 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Es handelt sich um zwingende Bestimmungen der Wahlordnung, die dem elementaren Grundsatz der geheimen Wahl dienen.
Nach dem Grundsatz der geheimen Wahl darf die Stimmabgabe des Wählers keinem anderen bekannt werden. Dies dient dem Zweck, den Wähler vor jeglichem sozialen Druck zu schützen. Dadurch wird sichergestellt, dass jeder Arbeitnehmer seine Wahl in Ansehung der ihm bekannten Tatsachen und Meinungen nach seiner freien Überzeugung treffen kann. Diese Grundsätze sind insbesondere durch das Verfahren über die Stimmabgabe, den Wahlvorgang und die Stimmauszählung in §§ 11 ff. WO formalisiert und unabdingbar ausgestaltet. Bei der Stimmabgabe wird die Wahrung des Wahlgeheimnisses dadurch gewährleistet, dass der Wähler den Stimmzettel unbeobachtet persönlich kennzeichnet und in den Wahlumschlag einlegt. Dadurch wird verhindert, dass das Stimmverhalten bei der Stimmabgabe sichtbar wird.
Dem steht nicht entgegen, dass bei anderen als Betriebsratswahlen – etwa bei Bundestagswahlen und den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat – keine Wahlumschläge mehr verwendet werden. Bei diesen Wahlen wird auf andere Weise, nämlich durch das Erfordernis der Faltung des Stimmzettels, dem Grundsatz der geheimen Wahl Rechnung getragen. So sieht § 56 Abs. 4 Satz 2 Bundeswahlordnung (BWO) vor, dass der gefaltete Stimmzettel in die Wahlurne eingeworfen wird. Der Wahlvorstand muss nach § 56 Abs. 6 Nr. 5 BWO einen Wähler unter anderem dann zurückweisen, wenn dieser seinen Stimmzettel so gefaltet hat, dass eine Stimmabgabe erkennbar ist.
Nach § 19 Abs. 1 letzter Halbs. BetrVG berechtigt ein Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften nicht zur Anfechtung der Wahl, wenn er das Wahlergebnis objektiv weder ändern noch beeinflussen konnte. Dafür ist entscheidend, ob bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne den Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte. Eine verfahrensfehlerhafte Betriebsratswahl muss nur dann nicht wiederholt werden, wenn sich konkret feststellen lässt, dass auch bei der Einhaltung der Wahlvorschriften kein anderes Wahlergebnis erzielt worden wäre.
Benachteiligung wegen Schwerbehinderung
(BAG, Urteil vom 17.12.2020 – 8 AZR 171/20)
Bei einem Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstehenden Schaden zu ersetzen. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wobei § 7 Abs. 1 AGG sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen verbietet.
Das Verbot untersagt im Anwendungsbereich des Gesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, unter anderem wegen einer Behinderung. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund muss ein Kausalzusammenhang bestehen.
Dasselbe gilt für das besondere Benachteiligungsverbot in § 164 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IX. Auch hier ist zwischen der Benachteiligung und dem Grund – in diesem Fall der Schwerbehinderung – ein Kausalzusammenhang erforderlich. Danach genügt jemand, der sich durch die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, seiner Darlegungslast bereits dann, wenn er Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, mithin auch der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen die in § 165 Satz 3 SGB IX geregelte Pflicht, eine/n schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer-)Behinderung.
Diese Pflichtverletzungen sind grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht interessiert zu sein. Der Verstoß kann die Vermutung der Benachteiligung wegen der (Schwer-)Behinderung allerdings nur begründen, wenn dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung bekannt war oder er diese kennen musste. Deshalb muss ein Bewerber, der seine Schwerbehinderung bei der Behandlung seiner Bewerbung berücksichtigt wissen will, den (potenziellen) Arbeitgeber in Kenntnis setzen, soweit dieser nicht ausnahmsweise – so gegebenenfalls bei internen Bewerbern – bereits über diese Information verfügt.
(Schwer-)Behinderung – Vorstellungsgespräch
(BAG, Urteil vom 26.11.2020 – 8 AZR 59/20)
Durch den Hinweis auf die Schwerbehinderung sollen die besonderen, zugunsten schwerbehinderter Menschen bestehenden Verfahrens- und/oder Förderpflichten des Arbeitgebers ausgelöst werden.
Deshalb muss der Arbeitgeber prüfen und entscheiden können, ob und welchen besonderen Pflichten er insoweit nachkommen muss. Diese Prüfung und Entscheidung muss der/die schwerbehinderte Bewerber/in dem Arbeitgeber aufgrund der ihn/sie nach § 241 Abs. 2 in Verbindung mit § 311 Abs. 2 Nr. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) treffenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers an der Durchführung eines fehlerfreien Stellenbesetzungsverfahrens und an einer möglichst zügigen Entscheidung über die Besetzung der ausgeschriebenen Stelle rechtzeitig ermöglichen.
Kommt der schwerbehinderte Mensch dieser Mitwirkungspflicht nicht nach, geht dies regelmäßig zu seinen Lasten.
Eine hinreichende Mitteilung einer Schwerbehinderung liegt vor, wenn die Mitteilung in einer Weise in den Empfangsbereich des Arbeitgebers gelangt ist, die es diesem ermöglicht, die Schwerbehinderung des Bewerbers zur Kenntnis zu nehmen. Dem Arbeitgeber muss die erforderliche Mitteilung entsprechend § 130 BGB zugehen. Dabei reicht eine Information im Bewerbungsschreiben oder an gut erkennbarer Stelle im Lebenslauf regelmäßig aus, und es genügt, nur über das Vorliegen einer Schwerbehinderung zu informieren.
Es ist nicht erforderlich, dabei auch den Grad der Behinderung mitzuteilen. Bei einer Verpflichtung hierzu stünde zu befürchten, dass insbesondere Menschen mit einem sehr hohen Grad der Behinderung, die im Arbeitsleben besonderen Vorbehalten ausgesetzt sein können, von vornherein davon absehen, ihre Schwerbehinderung mitzuteilen, mit der Folge, dass die zu ihren Gunsten bestehenden Verfahrens- und/oder Förderpflichten des Arbeitgebers erst gar nicht ausgelöst würden.
Der Begriff der „Schwerbehinderung“ ist ein Rechtsbegriff, dem im Rechtsverkehr, vor allem im Arbeits- und Sozialrecht, eine feste Bedeutung zukommt; er ist in § 2 Abs. 2 SGB IX gesetzlich definiert. Nach dieser Bestimmung sind Menschen schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt. Weist ein/e Bewerber/in im Zusammenhang mit einer Bewerbung darauf hin, „schwerbehindert“ zu sein, ist in der Regel davon auszugehen, dass der Begriff im Sinne der in § 2 Abs. 2 SGB IX gegebenen Definition verwendet wurde und damit beim Bewerber mindestens ein Grad der Behinderung von 50 vorliegt. Durch das in § 165 Satz 3 SGB IX genannte Vorstellungsgespräch sollen schwerbehinderte Bewerber/innen die Möglichkeit erhalten, den Arbeitgeber von ihrer Eignung zu überzeugen und ihre Chancen im Auswahlverfahren zu verbessern. Maßstab für die fachliche Eignung eines Bewerbers ist der Aufgabenbereich des zu besetzenden Arbeitsplatzes. Ob ein schwerbehinderter Mensch für eine zu besetzende Stelle fachlich ungeeignet ist, ist anhand eines Vergleichs zwischen dem fachlichen Anforderungsprofil des zu besetzenden Arbeitsplatzes und dem fachlichen Leistungsprofil des Bewerbers oder der Bewerberin zu ermitteln.
„Offensichtlich“ fachlich nicht geeignet ist, wer „unzweifelhaft“ insoweit nicht dem fachlichen Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle entspricht. Bloße Zweifel an der fachlichen Eignung rechtfertigen es nicht, von einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch abzusehen, weil sich dort Zweifel ausräumen lassen können. Sofern allerdings bereits die Bewerbungsunterlagen zweifelsfrei erkennen lassen, dass die durch das Anforderungsprofil zulässig vorgegebenen fachlichen Kriterien nicht erfüllt werden, besteht für den öffentlichen Arbeitgeber keine Verpflichtung, den schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.
Arbeitnehmerstatus
(BAG, Urteil vom 01.12.2020 – 9 AZR 102/20)
Nach § 611a Abs. 1 BGB wird ein Arbeitnehmer durch den Arbeitsvertrag im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet.
Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen. Zeigt die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an.
Ein Arbeitsverhältnis unterscheidet sich danach von dem Rechtsverhältnis eines selbstständig Tätigen durch den Grad der persönlichen Abhängigkeit des Verpflichteten. Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Die Begriffe der Weisungsgebundenheit und Fremdbestimmung sind eng miteinander verbunden und überschneiden sich teilweise.
Eine weisungsgebundene Tätigkeit ist in der Regel zugleich fremdbestimmt. Weisungsbindung ist das engere, den Vertragstyp im Kern kennzeichnende Kriterium, das durch § 611a Abs. 1 Sätze 2 bis 4 BGB näher ausgestaltet ist. Es kann, muss aber nicht gleichermaßen Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Nur wenn jedwede Weisungsgebundenheit fehlt, liegt in der Regel kein Arbeitsverhältnis vor. Das Kriterium der Fremdbestimmung erfasst insbesondere vom Normaltyp des Arbeitsvertrags abweichende Vertragsgestaltungen. Sie zeigt sich vor allem in der Eingliederung des Arbeitnehmers in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers.
Weisungsgebundenheit kann in verschiedenen Erscheinungsformen bestehen. In der Regel wird eine vertraglich nur rahmenmäßig bestimmte Arbeitspflicht durch die Ausübung des Weisungsrechts konkretisiert. Nach § 106 Satz 1 Gewerbeordnung (GewO) kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrags oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.
§ 106 Satz 2 GewO erkennt zusätzlich die Ordnung und das Verhalten des Arbeitnehmers im Betrieb als Gegenstand des Weisungsrechts an. Die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers korrespondiert mit dem Weisungsrecht des Arbeitgebers. Durch die Ausübung des Weisungsrechts nach § 106 Satz 2 GewO wird regelmäßig erst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Beschäftigte seine Arbeit leisten und das Rechtsverhältnis praktisch durchgeführt werden kann.
Weisungsrechte können auch außerhalb des Arbeitsverhältnisses bestehen. Weisungsgebundenheit im Sinne von § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB setzt voraus, dass der Beschäftigte in der Gestaltung seiner Tätigkeit nicht „im Wesentlichen frei“ ist. Zeitliche Vorgaben oder die Verpflichtung, bestimmte Termine für die Erledigung der übertragenen Aufgaben einzuhalten, sind für sich allein kein wesentliches Merkmal für ein Arbeitsverhältnis. Auch gegenüber einem freien Mitarbeiter können Termine für die Erledigung der Arbeit bestimmt werden, ohne dass daraus eine arbeitnehmertypische zeitliche Weisungsgebundenheit folgt. Zudem steht einem Auftraggeber gegenüber einem freien Mitarbeiter grundsätzlich das Recht zu, Anweisungen hinsichtlich des Arbeitsergebnisses zu erteilen. Die arbeitsrechtliche Weisungsbefugnis ist daher gegenüber dem Weisungsrecht für Vertragsverhältnisse mit Selbstständigen und Werkunternehmern abzugrenzen. In der Beurteilung, ob der für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses erforderliche Grad der persönlichen Abhängigkeit erreicht ist, ist nach § 611a Abs. 1 Satz 4 BGB die Eigenart der jeweiligen Tätigkeit einzubeziehen. Die Art der Dienstleistung und die Zugehörigkeit der Tätigkeit zu einem bestimmten Berufsbild können den zugrunde liegenden Vertragstyp ebenso beeinflussen wie die Organisation der zu verrichtenden Arbeiten. Bestimmte Tätigkeiten lassen sich sowohl in einem Arbeitsverhältnis als auch in einem Werk- oder freien Dienstvertrag verrichten, während andere regelmäßig im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses ausgeübt werden. Bei untergeordneten, einfachen Arbeiten besteht eher die persönliche Abhängigkeit als bei gehobenen Tätigkeiten.
Nach § 611a Abs. 1 Satz 5 BGB bedarf es für die Feststellung des Rechtsverhältnisses einer Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls. Anknüpfungspunkt für die Zuordnung des Rechtsverhältnisses zu einem bestimmten Vertragstyp sind insbesondere die in § 611a Abs. 1 Satz 1 BGB genannten Abgrenzungskriterien; es können aber auch weitere Umstände sein, die teleologisch zur Abgrenzung beitragen.
Vom Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses kann erst dann ausgegangen werden, wenn den Kriterien, die für eine persönliche Abhängigkeit sprechen, im Rahmen der Gesamtbetrachtung hinreichendes Gewicht beizumessen ist oder sie dem Rechtsverhältnis ihr Gepräge geben.
Dr. iur. Hans-Otto Blaeser, Köln