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Rechtssicherheit oder finanzielles Risiko? : Status 4.0: Scheinselbstständigkeit

Die wirtschaftliche Fremdvergabe von Aufträgen gewinnt im Zuge der Digitalisierung und der weiteren gesetzlichen Durchdringung der Arbeitswelt an Bedeutung. Hier bieten eine Vielzahl von Akteuren ihre fachlichen und managementbezogenen Dienste am Markt an. Neben klassischen Selbstständigen und Interim Managern präsentieren sich zunehmend Anbieter auf Online-Plattformen. Welche Folgen hat das für Auftraggeber und Auftragnehmer? Welche Risiken bestehen und wie können sich Unternehmen hier absichern?

Lesezeit 7 Min.
Eine kreative Illustration von Papierbooten, die auf dem Wasser segeln, von denen sich eines in einen Heißluftballon verwandelt hat und vor einem bewölkten Himmel über die anderen aufsteigt, als Symbol für innovatives Personalmanagement.

Haftungsfalle: Scheinselbstständigkeit

Tatsächlich geht es bei der Scheinselbstständigkeit um die Regelung des § 7 Sozialgesetzbuch (SGB) IV mit dem Beitragsrisiko für den Auftraggeber in Form einer Nachzahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags sowie möglicher strafrechtlicher Konsequenzen. Zugleich wird der „Schein“-Selbstständige seinen Anspruch auf die übliche Vergütung gemäß § 612 Abs. 2 BGB geltend machen (z. B. Urlaubsentgelt, Entgeltfortzahlung bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit usw.).

Die Abbildung zeigt eine Tabelle mit zwei Spalten, in denen die Begriffe im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsstatus im Deutschen gegenübergestellt sind. Die erste Spalte trägt die Überschrift „Scheinselbstständige“, was sich auf Scheinselbständige bezieht, bei denen der Auftraggeber die gesamten Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen hat. Die zweite Spalte trägt die Überschrift „arbeitnehmerähnliche Selbständige“, was sich auf arbeitnehmerähnliche Selbstständige bezieht, bei denen der Auftraggeber rentenversicherungspflichtig ist.
Tabelle Scheinselbstständigkeit

 

Die Rentenversicherungspflicht der sog. Arbeitnehmer-ähnlichen Selbstständigen findet sich in § 2 S.1 Nr.9 SGB VI. In der Betriebspraxis handelt es sich hier um denjenigen Pflichtversicherungstatbestand, der die größten Probleme aufwirft. Die Pflichtmitgliedschaft wird hier nicht an eine in irgendeiner Weise inhaltlich definierte Tätigkeit geknüpft mit der Folge, dass jeder Selbstständige in jeder Branche potenziell betroffen sein kann. Dies gilt, wenn der Auftragnehmer „auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig“ ist. Die Rentenversicherungspflicht des arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen führt zur Pflichtmitgliedschaft in der Rentenversicherung und in der Folge zur Nachzahlung der Beiträge in voller Höhe durch den Auftragnehmer. Hiergegen kann sich der Auftragnehmer wehren, indem die Feststellung einer Scheinselbstständigkeit bei der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung beantragt wird.

Sonderfall: Gemischte Tätigkeiten

Grundsätzlich besteht rechtlich die Möglichkeit, dass eine natürliche Person für denselben Vertragspartner (Arbeitgeber/Auftraggeber) als abhängig Beschäftigter und daneben selbstständig tätig ist. Werden eine abhängige Beschäftigung und eine selbstständige Tätigkeit bei demselben Arbeitgeber unabhängig voneinander ausgeübt, liegt eine sog. gemischte Tätigkeit vor, bei der die abhängige Beschäftigung und die selbstständige Tätigkeit nebeneinanderstehen und rechtlich getrennt zu beurteilen sind. Allerdings gelten aufgrund der weisungsgebundenen Eingliederung im Rahmen einer Beschäftigung und der erforderlichen weisungsfreien Ausgestaltung einer selbstständigen Tätigkeit für denselben Vertragspartner strenge Maßstäbe für das tatsächliche Vorliegen einer selbstständigen Tätigkeit. Von daher wird in aller Regel von einem einheitlichen Beschäftigungsverhältnis auszugehen sein, wie es etwa bei Personengesellschaften regelmäßig zutrifft. Für die Abgrenzung kommt es in erster Linie auf die tatsächlichen Verhältnisse an; die zivilrechtliche Vertragsgestaltung hat – insbesondere bei einem Auseinanderfallen von tatsächlichen und vertraglichen Vereinbarungen – keine ausschlaggebende Bedeutung.

Sonderfall: Verbundene Arbeitgeber

Werden zeitgleich Beschäftigungen bei verschiedenen Arbeitgebern ausgeübt, ist grundsätzlich eine getrennte versicherungsrechtliche Beurteilung vorzunehmen. Dies gilt selbst dann, wenn – bei formalrechtlich unterschiedlichen Arbeitgebern – diese organisatorisch und wirtschaftlich eng verflochten sind und die Dispositionsbefugnis über die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers in allen Beschäftigungen ein und derselben Person oder einer einheitlichen Leitung obliegt. Insofern ist die Arbeitgebereigenschaft rechtlich und nicht wirtschaftlich zu beurteilen.

Haftungsfalle: Interim Management

Einsatzunternehmen, die selbstständige Dienstleister direkt über Werk- bzw. Dienstverträge beauftragen (angelsächsisches Modell) bzw. solche Verträge durch die Einschaltung von Personaldienstleistungsunternehmen (niederländisches Modell) hinsichtlich des Einsatzes von Interim Managern schließen, muss bewusst sein, dass hierbei direkte bzw. indirekte Risiken von nicht unerheblichem Ausmaß auf sie zukommen können. Denn es existiert weder eine einheitliche Definition des Interim Managements noch bestehen gesetzliche Vorgaben zur Vertragsgestaltung bei der Beauftragung selbstständiger Dienstleister. Folglich können verschiedene vertragliche Gestaltungen gewählt werden: Hierunter fallen Interim Manager als Geschäftsführer, Berater, freie Mitarbeiter oder in der Form der Arbeitnehmerüberlassung (ANÜ). Wird ein Beratervertrag gewählt, so bestehen Abgrenzungsschwierigkeiten zum Arbeitsvertrag. Die Rechtsprechung (Bundesarbeitsgericht, Bundessozialgericht) zieht als Beurteilungskriterien die Weisungsgebundenheit, die Fremdbestimmtheit sowie die persönliche Abhängigkeit heran.

Tabelle mit einem Vergleich der Risiken und Verbindlichkeiten des Kunden im Personalwesen, mit den Zeilen „Scheinselbstständigkeit“ und „Arbeitnehmerüberlassung“, in denen Themen wie Steuern und Sozialversicherungsbeiträge detailliert beschrieben werden.
Tabelle 2 Scheinselbstständigkeit

 

Und als wäre das noch nicht genug, so versetzt ein Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (L 1 KR 405/15) die Akteure in helle Aufregung. Denn dort wird hinter einer Geschäftsführerstellung eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung angenommen. Dies nehmen die Betriebsprüfer der Deutschen Rentenversicherung bereits zum Anlass, bestehende Vertragsgestaltungen in dieser Hinsicht zu beurteilen. Wird in der Folge ein faktisches Arbeitsverhältnis angenommen, erwachsen hieraus mehrere Haftungsfallen: Diese beinhalten hohe Nachforderungen an Umsatzsteuer, Lohnsteuer- sowie Sozialversicherungsbeiträgen, und es drohen strafrechtliche Folgen gem. § 266a Strafgesetzbuch (StGB) wegen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt.

Sonderfall: Sharing Economy

In der sog. Sharing Economy vernetzen Dienste wie Uber, Airbnb, Ebay, Udemy, Amazon Marketplace etc. auf hocheffiziente Weise Anbieter von Dienstleistungen und Waren mit potenziellen Kunden. Dasselbe gilt für das sog. Crowdworking auf Plattformen wie 99designs, Jovoto, Clickworker usw. Ohne solche Plattformen wäre der Zugang zu einem Markt mit ausreichender Größe für die meisten der teilnehmenden Anbieter unmöglich. Vor diesem Hintergrund könnte man durchaus eine wirtschaftliche Abhängigkeit vom Zugang zu dem Internetdienst erkennen, was den Anbieter des Sharing-Economy-/Crowdworking-Dienstes zum Auftraggeber machen würde. Auch wenn ein Uber-Fahrer kein Scheinselbstständiger sein sollte, unterläge er möglicherweise der Versicherungspflicht auf Grundlage der sozialrechtlichen Bestimmung (§ 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI).

Haftungsfalle: Crowdworker

Eine andere Richtung schlägt nun das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 01.12.2020, 9 AZR 102/20, ein.

Die Erfurter Richter entschieden, dass es sich bei sog. „Crowdworkern“ um Arbeitnehmer handeln kann. Bei dem vorliegenden Geschäftskonzept werden die Crowdworker auf Grundlage eines Rahmenvertrags zur Bewältigung verschiedener Kleinstaufgaben (sog. „Mikrojobs“) von sog. „Crowdsourcern“ (sog. „Auftraggebern“) mittels einer Online-Plattform herangezogen. Die Komplexität der einzelnen Aufgaben kann dabei stark variieren. Neben der Bewertung von Produktplatzierungen (z. B. im Einzelhandel) oder dem Sammeln von Daten/Adressen können zum Beispiel auch Online-Shops auf ihre Nutzerfreundlichkeit hin überprüft werden. Eine Vielzahl der Aufgaben lässt sich digital „vom Sofa aus“ ohne Kontakt zu Kollegen erledigen.

Die Auswahl wann, welche und wie viele Aufgaben vom Crowdworker erfüllt werden, obliegt dem Crowdworker allein; es gibt keinerlei rechtliche Verpflichtung zur Übernahme eines Minimums an Mikrojobs. Nach der üblichen Definition der Arbeitnehmereigenschaft (Erbringung weisungsgebundener und fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit, § 611a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) wurden Crowdworker in Rechtsprechung und Literatur folglich nicht als Arbeitnehmer angesehen. Der abgeschlossene Rahmenvertrag bilde lediglich die Grundlage für den jeweiligen Auftrag zur Erbringung einer Arbeitsleistung. Crowdworker seien daher weder weisungsgebunden noch persönlich abhängig (so bspw. die Berufungsinstanz der vorliegenden Entscheidung: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 04.12.2019, 8 Sa 146/19; vgl. auch BAG, Urteil vom 15.02.2012, 10 AZR 111/11).

Der Kläger, der ein Gewerbe angemeldet hatte, arbeitet durchschnittlich 20 Stunden pro Woche für die Beklagte und erzielte dabei einen durchschnittlichen Betrag von 1.749,34 Euro. Das gerichtliche Verfahren ins Rollen gebracht hat letztlich die Tatsache, dass die Beklagte den Vertrag mit dem Kläger aufkündigte und dieser daraufhin Kündigungsschutzklage mit dem Antrag auf Feststellung erhob, dass ein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien vorliege.

Das BAG unterzieht die vertragliche Beziehung der Parteien einer Gesamtwürdigung aller Umstände. Es kommt zu dem Schluss, dass in diesem Fall ein Arbeitsverhältnis bestehe und eine anderslautende vertragliche Einordnung durch die Vertragspartner selbst demgegenüber zweitrangig ist. Das BAG geht offenkundig von der Weisungsbindung und Fremdbestimmung der Arbeit insbesondere wegen des Anreizsystems der Beklagten aus.

Der Kläger würde dazu verleitet, kontinuierlich und persönlich, Bündel von einzelnen, detailliert vorgegebenen Kleinstaufträgen im Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsortes zu verrichten, um auf einem höheren Level besser vergütete oder mehrere Aufträge gleichzeitig ausführen zu können. Die Beklagte steuere auch durch das gesetzte Zeitfenster von ca. zwei Stunden pro Auftrag die Zusammenarbeit derart, dass der Kläger seine Tätigkeit nicht mehr frei nach Ort, Zeit und Inhalt gestalten könne.

Es wird deutlich, dass Crowdsourcing-Strukturen erhebliche Risiken beinhalten können. Vermeintlich Selbstständige können sich im Nachhinein als Arbeitnehmer herausstellen. Das hat wiederum die weiter oben beschriebenen erheblichen Nachzahlungspflichten gegenüber den Sozialversicherungsträgern zur Folge und beinhaltet strafrechtliche Risiken. Die Politik hat das Thema auf die Agenda gesetzt. So plant das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) diverse zusätzliche Möglichkeiten für Crowdworker, um ihre Beschäftigungen „transparenter und sicherer“ zu gestalten. So sollen diese beispielsweise in die gesetzliche Rentenversicherung eingegliedert und die Plattformbetreiber an den Beitragszahlungen beteiligt werden. Ebenso stehen eine Verbesserung der Unfallversicherung, die Bildung von Arbeitnehmerorganisationen, Mindestkündigungsfristen sowie die Mitnahme von „Bewertungen“ zu anderen Anbietern im Raum.

Einkauf und Personalmanagement

Bislang ist in den meisten Unternehmen die Fremdvergabe von Aufträgen strikt getrennt von der Beschäftigung von Arbeitnehmern. Die Fremdvergabe wird vom Einkauf abgewickelt und im Rechnungswesen von der Kreditorenbuchhaltung verarbeitet. Die Aufgaben im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Arbeitnehmern werden vom Personalmanagement erledigt. Hieraus erwachsen Schnittstellenprobleme, und diese Trennung ist aus heutiger Sicht nicht mehr zeitgemäß. Während sich diese Erkenntnis langsam in den Konzernen durchsetzt, werden gleichzeitig von strategisch agierenden Personalvorständen genau solche Lösungsansätze angestrebt. Damit sind die Grundsatzabteilungen (Policy) und die mit der Mitbestimmung (Industrial Relations) befassten Manager und Mitarbeiter im Personalmanagement gleichermaßen einzubinden. Im Übrigen berührt die Fremdvergabe von Aufträgen den Datenschutz sowie die kundenschutzbezogenen Regelungen. Die Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen gewinnt seit Einführung der EU-Datenschutz-Grundverordnung (EU-DS-GVO) und des neuen Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) im Mai 2018 an Bedeutung, denn es drohen bei Regelverstößen besonders hohe Bußgeldzahlungen von bis zu vier Prozent des konsolidierten Weltumsatzes.

Gute Vorbereitung – Prüfung erfolgreich bestehen

Diesen Risiken ist mit einer profunden Vertragsgestaltung entgegenzuwirken – allerdings muss auch das gelebte Vertragsverhältnis diesen Anforderungen entsprechen.

Raschid Bouabba, MCGB GmbH

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