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Aktuelles aus dem Arbeitsrecht

Lesezeit 14 Min.

ZDF-Redakteurin erkämpft Auskunftsanspruch nach dem Entgelttransparenzgesetz auch für arbeitnehmerähnliche Personen

Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 25.06.2020 – 8 AZR 145/19

Zum 6. Juli 2017 ist das Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen (EntgTranspG) in Kraft getreten. Damit werden Beschäftigte unterstützt, ihren Anspruch auf gleiches Entgelt bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit besser durchsetzen zu können, um eine finanzielle Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu erreichen.

Dafür sieht das Gesetz folgende Bausteine vor: einen individuellen Auskunftsanspruch für Beschäftigte, die Aufforderung von Arbeitgebern zur Durchführung betrieblicher Prüfverfahren sowie eine Berichtspflicht zur Gleichstellung und Entgeltgleichheit.

Nun wurde höchstrichterlich festgestellt, dass nicht nur Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen unter den Begriff der „Beschäftigten“ nach § 5 Abs. 2 EntgTranspG fallen und somit den individuellen Auskunftsanspruch geltend machen können, sondern auch arbeitnehmerähnliche Personen. Dies ist ein großer Sieg für arbeitnehmerähnliche Beschäftige. Dem Entgelttransparenzgesetz wird danach nicht der innerstaatliche Arbeitnehmerbegriff zugrunde gelegt, sondern es wird eine unionsrechtskonforme Auslegung im Hinblick auf den Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2006/54/EG zur Entgeltgleichheit vorgenommen. Das hat das BAG mit Urteil vom 25. Juni 2020 (8 AZR 145/19) entschieden.

Sachverhalt

Die Klägerin ist seit 2007 als Redakteurin für die Beklagte – eine Fernsehanstalt des öffentlichen Rechts, das ZDF – tätig. Seit Juli 2011 befindet sie sich in einem unbefristeten Vertragsverhältnis. Ende 2014 erfuhr sie, dass sie schlechter bezahlt wird als ihre männlichen Kollegen mit weniger Betriebszugehörigkeit und Erfahrung. Sie beschwerte sich daraufhin bei dem Personalleiter. Da sie „bis auf weiteres“ als freie Mitarbeiterin gemäß einem bei der Beklagten geltenden Tarifvertrag beschäftigt wird und eine Tätigkeit als „Redakteurin mit besonderer Verantwortung“ ausübt, „verpuffte“ ihre Beschwerde mit der Begründung, dass sie eine arbeitnehmerähnliche Person sei.

Sie erhob Klage und begehrte zunächst Entschädigung wegen der Diskriminierung und Feststellung, dass sie keine arbeitnehmerähnliche Person ist, sondern eine Angestellte. Eine strukturelle Diskriminierung konnten weder das Arbeitsgericht noch das Landesarbeitsgericht (LAG) feststellen. Auch lehnten diese einen Auskunftsanspruch nach Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung sowie über ein Vergleichsentgelt nach dem EntgTranspG ab. Das LAG Berlin-Brandenburg begründete seine Entscheidung damit, dass die Klägerin nicht Arbeitnehmerin im Sinne des innerstaatlichen Rechts und als arbeitnehmerähnliche Person keine Beschäftigte im Sinne des § 5 Abs. 2 EntgTranspG sei. Dies war der Dreh- und Angelpunkt des Rechtsstreits.

Die Entscheidung

Die eingelegte Revision hatte Erfolg und das BAG gab der Klägerin bezüglich des Auskunftsanspruchs Recht.

Entgegen der Rechtsauffassung der Vorinstanzen kann die Klägerin von der Beklagten nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG Auskunft über die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung verlangen. Freie Mitarbeiter sind „Arbeitnehmer“ im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG und damit Beschäftigte im Sinne von § 10 Abs. 1 S. 1 EntgTranspG. Streitentscheidend war insoweit, dass die Begriffe „Arbeitnehmerin“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG unionsrechtskonform (in Übereinstimmung mit dem Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2006/54/EG) weit auszulegen sind. Andernfalls würde die zwingend erforderliche deutsche Umsetzung der Richtlinie 2006/54/EG fehlen. Eine ausreichende Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie 2006/54/EG zur Entgeltgleichheit ist bislang weder im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) noch ansonsten erfolgt. Erst das Entgelttransparenzgesetz enthält Bestimmungen, die auf die Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie 2006/54/EG zur Entgeltgleichheit gerichtet sind.

Das BAG ging vor diesem Hintergrund davon aus, dass der Gesetzgeber zumindest unbewusst die Richtlinie europarechtskonform umsetzen wollte. So begründet es jedenfalls, warum es den weitergehenden europäischen Arbeitnehmerbegriff bei der Entscheidung zugrunde gelegt hat.

Ob die Klägerin gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf Erteilung von Auskunft über das Vergleichsentgelt hat, konnte das BAG aufgrund der bislang vom LAG Berlin-Brandenburg getroffenen Feststellungen nicht entscheiden. Insoweit hat das BAG die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.

Konsequenzen für die Praxis

Es ist damit zu rechnen, dass in Zukunft auch arbeitnehmerähnliche Personen von dem Auskunftsanspruch nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG Gebrauch machen werden. Dies wird dem Zweck des Entgelttransparenzgesetzes, Lohnunterschieden zwischen Männern und Frauen durch Transparenz entgegenzuwirken, gerecht.

Good to know

Der Auskunftsanspruch ist nur die Vorstufe. Anspruchsgrundlage für den Auskunftsanspruch ist § 10 Abs. 1 EntgTranspG. Dieser lautet wie folgt:

„(1)Zur Überprüfung der Einhaltung des Entgeltgleichheitsgebots im Sinne dieses Gesetzes haben Beschäftigte einen Auskunftsanspruch nach Maßgabe der §§ 11 bis 16. Dazu haben die Beschäftigten in zumutbarer Weise eine gleiche oder gleichwertige Tätigkeit (Vergleichstätigkeit) zu benennen. Sie können Auskunft zu dem durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelt nach § 5 Absatz 1 und zu bis zu zwei einzelnen Entgeltbestandteilen verlangen.“

§ 5 Abs. 2 EntgTranspG definiert, wer den Auskunftsanspruch erhält. Arbeitnehmerähnliche Personen, also auch freie Mitarbeiter, zählen nach der jüngsten BAG-Rechtsprechung dazu. Innerstaatlicher Arbeitnehmerbegriff: Nach der Rechtsprechung des BAG ist Arbeitnehmer, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Unionsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff: Nach dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist Arbeitnehmer jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die wegen ihres geringen Umfangs völlig untergeordnet und unwesentlich sind. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dagegen ist für die Frage, ob jemand als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts anzusehen ist, die Art des Rechtsverhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber unerheblich.

Praxishinweise

Der Umgang mit Auskunftsansprüchen sollte sorgfältig geprüft werden. Ein maßgeblicher Unterschied ist beispielsweise, wenn arbeitnehmerähnliche Personen ihr Einkommen vorwiegend von einem anderen Arbeitgeber beziehen.

Schwerbehinderter Bewerber bekommt Entschädigung zugesprochen, weil er nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde

BAG, Urteil vom 23.01.2020 – 8 AZR 484/18

Öffentliche Arbeitgeber müssen einen schwerbehinderten oder gleichgestellten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einladen, wenn dieser fachlich nicht offensichtlich ungeeignet ist (§ 82 S. 2 SGB IX aF; seit dem 01.01.2018: § 165 S. 3 SGB IX). Eine übersehene E-Mail ist keine Entschuldigung für eine Nichteinladung. Arbeitgeber müssen sicherstellen, dass interne Abläufe einwandfrei funktionieren. Geschieht dies nicht, drohen Entschädigungsansprüche nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz.

Ziel des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) ist es, Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern. Abgesichert wird das durch Entschädigungsansprüche für Diskriminierte. Die strengen Beweislastregelungen in § 22 AGG erleichtern die Geltendmachung solcher Entschädigungsansprüche erheblich: Der Geschädigte muss danach nur Indizien beweisen, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen. Der Arbeitgeber muss dann beweisen, dass keine Diskriminierung vorlag, was den Arbeitgeber in der Praxis häufig vor hohe Hürden stellt.

Sachverhalt

Anfang August 2015 bewarb sich der Kläger mit einer E-Mail auf eine für den Oberlandesgerichtsbezirk Köln ausgeschriebene Stelle als Quereinsteiger für den Gerichtsvollzieherdienst. Die Bewerbung war mit dem deutlichen Hinweis auf seinen Grad der Behinderung von 30 und seine Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen versehen. Der Kläger wurde, obwohl er fachlich für die Stelle nicht offensichtlich ungeeignet war, weder zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, noch erhielt er eine Absage.

Der Kläger verlangt mit seiner Klage vom beklagten Land eine Entschädigung in Höhe von 7.434,49 Euro (dreifache Monatsbesoldung). Das beklagte Land hat demgegenüber geltend gemacht, die Bewerbung des Klägers sei aufgrund eines schnell überlaufenden Outlook-Postfachs und wegen ungenauer Absprachen unter den befassten Mitarbeitern nicht in den Geschäftsgang gelangt. Schon aus diesem Grund sei der Kläger nicht wegen der (Schwer-)Behinderung bzw. Gleichstellung benachteiligt worden.

Die Entscheidung

Das BAG gab dem Kläger Recht und stimmte somit der Entscheidung des LAG Köln zu. Die Revision des beklagten Landes blieb ohne Erfolg.

Der Kläger hat einen Anspruch auf eine Entschädigung aus § 15 Abs. 2 GG in Höhe von 3.717,30 Euro. Das beklagte Land hätte den Kläger, dessen Bewerbung ihm zugegangen war, nach § 82 S. 2 SGB IX aF zu einem Vorstellungsgespräch einladen müssen, da die fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlte. Das Unterlassen der Einladung zum Vorstellungsgespräch begründet allein noch keinen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG. Allerdings wird hierdurch die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung im Sinne von § 22 AGG begründet, dass der erfolglose Bewerber eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG wegen seiner (Schwer-) Behinderung erfahren hat.

Der Arbeitgeber kann die Vermutung nach § 22 AGG, er habe einen Bewerber wegen eines in § 1 AGG normierten Grundes benachteiligt, dadurch widerlegen, dass er substantiiert vorträgt und ggfs. beweist, dass er – bzw. die bei ihm über die Einstellung entscheidenden Personen – aufgrund besonderer, ihm nicht zurechenbarer Umstände des Einzelfalls nicht die Möglichkeit hatte(n), von der zugegangenen Bewerbung tatsächlich Kenntnis zu nehmen. Das ist dem beklagten Land nicht gelungen. Das beklagte Land konnte sich nicht mit Erfolg darauf berufen, die Bewerbung sei nicht in den Geschäftsgang gelangt. Dass trotz des Zugangs ausnahmsweise eine tatsächliche Kenntnisnahme nicht möglich war, hat das beklagte Land nicht vorgetragen.

Auch die Höhe der Entschädigung war im Ergebnis nicht zu beanstanden. Bei der in § 15 Abs. 2 S. 2 AGG bestimmten Grenze von drei Bruttomonatsverdiensten handelt es sich lediglich um eine „Kappungsgrenze“. Es ist zunächst – ohne Rücksicht auf irgendeine Begrenzung – die Höhe der angemessenen Entschädigung zu ermitteln und diese dann, wenn sie drei Bruttomonatsverdienste übersteigen sollte, zu kappen.

Konsequenzen für die Praxis

Das BAG-Urteil kann vor allem für den öffentlichen Arbeitgeber weitreichende Folgen für die Praxis haben. Aber auch in der Privatwirtschaft verdeutlicht das Urteil die Besonderheiten von schwerbehinderten Personen oder ihnen gleichgestellter Bewerber. Bei Bewerbungen und dem diesbezüglichen Umgang ist stets Vorsicht geboten.

Good to know

§ 22 AGG lautet wie folgt:

„Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.“

§ 82 SGB IX aF lautet wie folgt:

„1 Die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber melden den Agenturen für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze (§ 73). 2 Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. 3 Eine Einladung ist entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. “

Praxishinweise

Zur Vermeidung von AGG-Klagen sollten Arbeitgeber sicherstellen, dass zuverlässige unternehmensinterne Abläufe existieren. Das gilt insbesondere in Bezug auf eine sorgfältige Sichtung und Bearbeitung der eingehenden Bewerbungsunterlagen sowie für etwaige Rückmeldungen an die Bewerber.

Die Corona-Pandemie setzt nicht das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) außer Kraft

Arbeitsgericht Wesel, Beschluss vom 24.04.2020 – 2 BVGa 4/20

Auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie haben die Betriebsparteien die Vorgaben nach dem Betriebsverfassungsgesetz einzuhalten. Eine Ausnahmeregelung besteht trotz der „Extremsituation“ nicht. Das heißt, dass mitbestimmungspflichtige Maßnahmen wie eine Videoüberwachung mit dem Betriebsrat abgestimmt werden müssen, auch wenn die Videoüberwachung der Einhaltung von Hygienemaßnahmen dienen soll.

Sachverhalt

Ein Betriebsrat beantragte im einstweiligen Rechtsschutz die Unterlassung von Videoaufzeichnungen, da die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nicht eingehalten wurden.

Bei dem Arbeitgeber handelt es sich um ein Logistikunternehmen. Die bestehende Videoüberwachung wurde vom Arbeitgeber dazu eingesetzt, die Einhaltung der COVID-19-Regeln zu überwachen. Insbesondere die Einhaltung der Abstandsregelungen durch Mitarbeiter, Auftragnehmer, Geschäftspartner und andere Besucher sollte überprüft werden. Weiterhin sollten Bereiche identifiziert werden, in denen die Regeln nicht eingehalten werden, um die Abläufe (z. B. Laufwege usw.) so zu optimieren, dass Abstandsregelung eingehalten werden können.

Hierfür nutzte der Arbeitgeber die bestehende Videoaufzeichnungsanlage, schaltete aber ein weiteres Software-Modul hinzu, das in einem Intervall von fünf Minuten automatisiert Standbilder generierte. Diese Videosoftware war durch eine Anonymisierungssoftware in der Lage, die abgebildeten Personen zu verpixeln. Durch eine weitere Software konnte ermittelt werden, ob die Abstandsregelung von zwei Metern zwischen den abgebildeten Personen eingehalten wurde. Die Anonymisierungssoftware verwendete Datenserver in Irland. Damit werden Daten außerhalb Deutschlands gespeichert. Alle generierten Standbilder wurden für sieben Tage gespeichert und anschließend automatisiert gelöscht.

Der Betriebsrat hat den Arbeitgeber mehrmals aufgefordert, die Übermittlung und Auswertung der Kameradaten zum Zwecke der Abstandsmessungen nicht außerhalb von Deutschland durch einen Dritten auswerten zu lassen und diese Praxis einzustellen. Denn diese Praxis der Datenweitergabe an Dritte war nicht durch eine Betriebsvereinbarung legitimiert. Im Betrieb der Beteiligten findet zwar eine Betriebsvereinbarung zur Installation und Nutzung von Überwachungskameras Anwendung. Der Betriebsrat vertrat die Ansicht, dass diese Betriebsvereinbarung sich nicht auf den hier beschriebenen Sachverhalt erstreckt, und ging im einstweiligen Rechtsschutz gegen die Videoaufzeichnung des Arbeitgebers vor.

Entscheidung

Das Arbeitsgericht urteilte u. a., dass der Betriebsrat im Hinblick auf die Verarbeitung von Bildern und Videos und deren Übermittlung an Dritte mit dem Zweck, Abstandsmessungen oder Abstandsüberwachungen von Arbeitnehmern vorzunehmen, einen Unterlassungsanspruch gegen den Arbeitgeber hat. Denn nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die das Verhalten und die Leistung der Arbeitnehmer überwachen. Grundsätzlich, so das Arbeitsgericht, kann die vorhandene Videoüberwachung auch zum Zweck der Gesundheitsüberwachung genutzt werden. Allerdings ist es dem Arbeitgeber nach der bestehenden Betriebsvereinbarung nicht gestattet, die Daten an Dritte zum Zwecke der Vornahme von Abstandsmessungen oder Abstandsüberwachungen zu übermitteln. Bei der Übermittlung von Daten an Dritte handelt es sich ebenfalls um eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme, die von der bestehenden Betriebsvereinbarung nicht gedeckt ist, so dass der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht hat. Damit verstieß der Arbeitgeber gegen Mitbestimmungsrechte.

Denn die Betriebsvereinbarung regelte, dass die Aufnahmen nur auf lokalen Netzwerkrekordern gespeichert werden dürfen. Die Weitergabe an Dritte ist nicht mehr von der Betriebsvereinbarung umfasst, so dass eine Rechtsgrundlage hierfür nicht besteht.

Das Arbeitsgericht prüfte, ob sich an der Bewertung deshalb etwas ändert, weil die Videoüberwachung und die Übermittlung der Daten an Dritte zugunsten der Arbeitnehmer und ihres Gesundheitsschutzes eingesetzt wurde. Das Arbeitsgericht prüfte zudem, ob ein sogenannter Eilfall vorliegt. Allerdings entbindet eine Eilbedürftigkeit den Arbeitgeber nicht davon, die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats einzuhalten, so das Arbeitsgericht. Es betonte weiterhin, dass lediglich in sogenannten Notfällen, in denen sofort gehandelt werden muss, um von dem Betrieb oder Arbeitnehmern Schaden abzuwenden, der Arbeitgeber einseitige Anordnung treffen kann. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Betriebsrat nicht erreichbar ist oder keinen ordnungsgemäßen Beschluss fassen kann. Allerdings gilt auch hier, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, in sogenannten extremen Notsituationen die Beteiligungsrechte unverzüglich nachzuholen. Auch ein solcher Fall lag hier nach Auffassung des Gerichts nicht vor.

Konsequenzen für die Praxis

Diese Entscheidung verdeutlicht, dass die Betriebsparteien auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie die Mitbestimmungsrechte und gesetzlichen Vorgaben einzuhalten haben. Die hier vom Arbeitgeber beabsichtigte Nutzung der Daten, mit der Vorgaben hinsichtlich der Abstandseinhaltung kontrolliert werden sollten, spielte für die rechtliche Bewertung ebenfalls keine Rolle. Damit gilt, dass auch in Zeiten einer schweren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Pandemie Rechtsgrundsätze weiterhin ihre Geltung beanspruchen. Aus Arbeitgebersicht dürfte diese Entscheidung für Erstaunen sorgen, denn die vom Arbeitgeber beabsichtigten Zwecke, die Einhaltung der COVID-19-Regeln zu kontrollieren, sind nicht nur nachvollziehbar, sondern überaus sinnvoll. In solchen und vergleichbaren Fällen ist der Betriebsrat gefordert, mit Augenmaß die rechtlichen Grundsätze der Betriebsverfassung „durchzusetzen“. Überwachungsmaßnahmen wie diese dienen dem Interesse aller Mitarbeiter, so dass zumindest dieser Standpunkt des Arbeitgebers hätte in der Entscheidung selbst Anklang finden müssen. Selbst in ungewöhnlichen und nicht vorhersehbaren – pandemieartigen – Zuständen gilt das Betriebsverfassungsgesetz. Denn entsprechende Ausnahmen sieht das BetrVG nicht vor.

Good to know:

Betriebsvereinbarungen sollten, bevor sie von den Betriebsparteien abgeschlossen werden, regelmäßig daraufhin überprüft werden, ob sogenannte Eil- und Notfälle mit geregelt werden.

In verschiedenen Konstellationen dürfte es sich anbieten, die sogenannten Eil- und Notfälle zu regeln. Insbesondere in Betriebsvereinbarungen, die beispielsweise die Arbeitszeit regeln, sollten stets Regelungen zu Eil- und Notfällen aufgenommen werden, um unnötige Streitigkeiten vor der Einigungsstelle zu verhindern.

Weiterhin sollten in Betriebsvereinbarungen, die dem Gesundheitsschutz dienen, ebenfalls Eil- und Notfälle mit geregelt werden. Diese Fallgruppen machen es möglich, dem Arbeitgeber in bestimmten Fallkonstellationen ein sofortiges Handlungsrecht einzuräumen. Auch in Betriebsvereinbarungen, die „nur“ die Videoüberwachung regeln, können solche Eil- und Notfälle zweckmäßig sein. Wird beispielsweise in einer Betriebsvereinbarung geregelt, dass die Videoüberwachung grundsätzlich nicht zur Leistungs- und Verhaltenskontrolle eingesetzt werden darf, kann in bestimmten Fällen ein Bedürfnis dafür bestehen, dass Arbeitgeber in „Extremsituationen“ ohne die Mitwirkung des Betriebsrats Videomaterial auswerten können. Als Beispiel lässt sich hier anführen, dass eine Videoüberwachung installiert wird, die Regelungen aber vorsehen, dass die Videoaufnahmen nur unter Mitwirkung des Betriebsrats ausgewertet werden dürfen. Kommt es allerdings zu einer schwerwiegenden Pflichtverletzung oder einer Straftat, die durch die Videoüberwachung sofort aufgeklärt werden kann, und kann der Betriebsrat beispielsweise in der Nachtschicht an der Maßnahme nicht beteiligt werden, weil er nicht im Betrieb oder nicht erreichbar ist, dann ist es empfehlenswert, eine solche Ausnahmeregelung aufzunehmen.

Praxistipp

Nehmen Sie diese Entscheidung zum Anlass, die Betriebsvereinbarungen, die bei Ihnen gelten, auf die Regelungen zu sogenannten Eil- und Notfällen bzw. auf „Extremsituationen“ zu überprüfen.

Dr. Michaela Felisiak, Dr. Dominik Sorber, Rechtsanwälte für Arbeitsrecht bei BEITEN BURKHARDT

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