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Recruiting : Alles anders nach Corona?

Was passiert, wenn wir eine Art hybrides Recruiting bekommen, in dem auf der einen Seite Mitarbeiter entlassen werden, auf der anderen Seite sehr stark gesucht werden wird? Gibt es eine neue Anforderungsschere in Bezug auf Alt und Jung und wird auch hier alles anders nach Corona?

Fokus
Lesezeit 6 Min.

New Work – bereits Normalität im Recruiting?

Kaum kam Corona, haben einige Unternehmen gefühlt über Nacht ihre Bewerbungsprozesse umgestellt, während andere lieber alles erst einmal vorsorglich auf Eis gelegt hatten. In einigen Unternehmen hat sich die Digitalisierung im Recruiting nun vollends etabliert, und es könnten immer weniger zu analogen Prozessen bei der Personalbeschaffung zurückkehren, selbst wenn persönliche Vorstellungsgespräche nach Vorgaben des Robert Koch-Instituts (RKI) möglich wären. Die digitalen Messungsmöglichkeiten wie Online-Assessments, Recruitainment usw. sind bei vielen bereits vermehrt im Gange, andere prüfen die Mittel und Möglichkeiten für den Ausbau. Außerdem wird das Remote Working einen deutlich höheren Stellenwert erhalten, wie man bereits an einigen aktuellen Stellenausschreibungen sieht.

Wird die Altersschere nun schärfer?

Gravierende Veränderungen machen die meisten Menschen unsicher. Das bedeutet für die Personalgewinnung, dass diese neuen „Unebenheiten“ im Prozess möglichst im Vorfeld ausgeglichen werden und neue Wege in Betracht gezogen werden. Geht es um die ganz Jungen, so freut sich nicht jeder, wenn nach einem anstrengenden „Homeschooling“, sei es im Studium oder vor dem Schulabschluss, gleich mal „Sonderferien“ winken. Wo der eine sich vielleicht freut, erst einmal ein bisschen bezahlte Freizeit zu erhalten, fühlt sich der andere nicht gebraucht und hat sich seinen Berufseinstieg vielleicht ein bisschen schöner vorgestellt. Generell sollte ganz unabhängig vom Alter der Start in den neuen Job nicht an Glanz verlieren. Erfahrene Mitarbeiter kann man daher auch früh ins Boot holen und kommunizieren, was sich wann, warum und mit welcher Perspektive ändert.

Bleibt der „Bewerbermarkt“?

Diese Frage kann pauschal so gar nicht mehr beantwortet werden, sondern wird sich von Branche zu Branche mit ganz unterschiedlichem Ergebnis neu stellen. Blitzumfragen sehen die Informationstechnologien, die Beratung, die Elektronik und Mechatronik, den öffentlichen Sektor und die Medizin beim Ausbau des Recruitings vorne. Wer gestern noch als High Potential geglaubt hat, nach seinem dualen Studium eine gefragte Nachwuchsführungskraft in der Systemgastronomie zu werden, der schaut nun nicht nur bei Vapiano in die Röhre und unter Umständen vergebens nach einem Job in der gewünschten Position. Da wird selbst das überqualifizierte Kellnern zum Problem. Klassische Auffangbecken des Arbeitsmarktes hat Corona quasi stillgelegt und auch die Unternehmen dürften unter den veränderten Gegebenheiten nun noch genauer schauen, welche Quereinsteiger in Betracht gezogen werden könnten. Die vielen für den Arbeitsmarkt freiwerdenden Soloselbstständigen werden nicht nur ihre beruflichen Fähigkeiten unter Beweis stellen müssen, sondern auch ihre Integrationsfähigkeit sehr nachdrücklich glaubhaft machen müssen – gerade da, wo auch das Onboarding sich aufgrund der herrschenden Bedingungen verkompliziert und zunehmend technisiert.

Erste Hürde Jobinterview

Eine ohnehin spannende Situation gestaltet sich nun noch aufregender: Kommt das persönliche Vorstellungsgespräch unter Berücksichtigung der RKI-Tipps, muss man sich auf sprachbasierte Chatbot-gestützte Interviews einstellen, zeitversetzte Videointerviews oder zeitgleiche per Skype, Teams, Zoom und Co.? Oder reicht ein Telefonat – zumindest für die erste Runde? Wie ein Bewerber mit solchen Konditionen zurechtkommt, ist nicht nur eine Alters-, sondern auch eine Typ-Frage und eine Frage der Fähigkeiten in der Selbstpräsentation – hier kann Erfahrung durchaus hilfreich sein, nicht nur im Hinblick auf Technik. Man kann nicht davon ausgehen, dass jeder „Digital Native“ automatisch „equipped“ ist. Viele Dinge werden in allen Altersgruppen digital vom Handy aus erledigt und je nach bisheriger Lebenssituation stand die Anschaffung eines eigenen Laptops gar nicht (mehr) zur Debatte – oder es reichte eben ein Tablet. Das kann im Recruiting schon zur Hürde werden, wenn der Bewerber kaum erkennen kann, was ihm präsentiert wird, während der Personaler im Einzelbüro vor zwei großen Bildschirmen sitzt. Es kann natürlich sein, dass die Generation „Homeschooling“ bereits vertrauter mit solchen Situationen ist. Ob sie sich nach vielleicht gerade erst absolvierten Prüfungen unter deutlich erschwerten Vorbereitungsbedingungen auch wirklich wohl fühlt damit, kann schnell zu einer ganz anderen Frage werden. Was der digitale „Äther“ quasi verschluckt, sollte mit viel Fingerspitzengefühl abgefangen werden.

Die neuen Hausaufgaben

Bei vielen Personalern ist noch der Habitus aus Arbeitgebermarktzeiten verhaftet, dass der Bewerber in der absoluten Bringschuld ist – und manch einer wird da angesichts rückkehrender Konditionen auch schnell wieder „rückfällig“ werden. Ungeachtet dessen, ob nun der Berufsanfänger oder der Senior zum Recruitingprozess antritt, der technisch reibungslose Ablauf sollte von beiden Seiten eingehalten werden. Nicht jeder verfügt über Mailprogramme mit den gleichen Kalender-Funktionen wie Outlook, und Apple-Produkte sind nach wie vor beliebt, aber nicht in jedem Haushalt vertreten. Selbst dann, wenn der Bewerber sich freut, überhaupt virtuell eingeladen zu werden, so sollte man doch ein bisschen mehr verschicken als einen (hoffentlich) funktionierenden Link. Es schadet daher sicher auch nichts, gleich technische Alternativen zu nennen, um vorsorglich etwas Druck aus der eher ungewohnten Situation zu nehmen, falls doch etwas schiefgehen sollte. Wenn es bereits feste neue Onboarding-Prozesse gibt, können diese schon frühzeitig kommuniziert werden – vielleicht sogar am Ende eines Bewerbungsvorgangs im Online-Portal. So erhält der Bewerber ein gewisses Gefühl von Sicherheit, indem er einen Einblick bekommt, was ihn dann erwartet.

Bewerber-Bällebad oder Prämien-Roulette?

Über die Generationen X, Y und Z in der Arbeitswelt ist viel geschrieben, geforscht und philosophiert worden – auch, wie sie die „Berufswelt retten würden“. Sie selbst haben nicht nur die technischen Skills angeblich mit der Muttermilch aufgesogen, sie haben jahrelang mitbekommen, mit welchem Anspruchsdenken sie in den Arbeitsmarkt eintreten würden. So wurde nachhaltig suggeriert, dass sie auf jeden Fall fordern können würden, und die Mentalität, sie zu „holen und zu hätscheln“ mit sämtlichen Facetten des Freiraumdenkens, floss bereits in die Schul- und Studienpädagogik ein – sie wurden vorsorglich auf den Job-Thron gehievt als die neuen Messiasse der Life-Work-Balance. Vielleicht werden viele von ihnen nun doch pendeln müssen, da sie sich gar nicht mehr in der so viel günstigeren Position befinden als die vermeintlich „verhandlungsunfähigeren“ Älteren. Und auch die Gehaltsverhandlungen werden unter Umständen je nach Branche für alle Altersklassen wieder weniger Spielräume bringen, wo das Lufthansa-Personal freiwillig auf Gehaltserhöhungen verzichtet, um seinen Arbeitsplatz zu sichern. Wo früher der Dienstwagen im Gespräch war, kann man eventuell gerade noch froh sein, wenn es noch ein E-Bike wird – das würde ja dann immerhin ganz hipp zum Klimatrend passen. Wer sich als Ältere(r) noch über eine Betriebsrente freuen durfte, wird nun möglicherweise froh sein, eine Arbeitsstelle zu erhalten, die dazu beiträgt, die gesetzliche Rente vom Anspruch her zu sichern.

Alle doch in einem Boot?

In den Zeiten der größten Unsicherheiten sind „nicht messbare“ Faktoren von allergrößtem Wert – für alle Beteiligten. Einige sind sich sicher: Das Thema Werte wird in der Personalbeschaffung wichtiger werden. Aber welche genau? Aus Unternehmenssicht könnten Loyalität und echtes Engagement von unschätzbarem Wert werden, denn es wird ja nicht nur im Sinne des Human Capital Management auch in den Mitarbeiter investiert. Wichtig ist zudem, anzuerkennen, dass er unter außergewöhnlichen Umständen tatsächlich gewillt ist, Unerwartetes zu leisten – dies sollte dann aber auch honoriert werden. Das Thema Arbeitsschutz sollte möglichst nicht zu weit hinter herunterfallen und sich nicht nur in Form von Mundschutz, Desinfektionsmittel und Abstandsmarkierungen äußern. Dem vielgefeierte Homeoffice-Hype folgt vielleicht allzu bald ein küchenstuhlbasierter Bandscheibenvorfall – so nach dem Motto: kaum da, schon krank. Man muss jetzt nicht nur anders miteinander reden, sondern mehr und möglicherweise auch offener und ehrlicher. Wechselwillige Mitarbeiter könnten unter Umständen leichter gehalten werden, denn die Branchenmitbewerber haben vielleicht krisenbedingt auch nicht so viel mehr zu bieten und die Einarbeitung in einer anderen Firma ist nun möglicherweise doch nicht so attraktiv – es sind ja andere Zeiten geworden. Und was sagt man nun den Jungen, den Hungrigen und Wilden, auf die alle bis vor kurzem gewartet haben? Dass Kurzarbeitergeld auch ihre Zukunft sichert, da es für die Ausbildung beantragt werden kann, der aus dem Fahrplan gestrichene Bus dagegen nicht nur Pech bleibt, sondern ein Kündigungsgrund? Am Anfang jeden Jobs steht die Arbeitsplatzattraktivität – und zuletzt regiert die Not. Vielleicht kann man nicht alles versprechen, aber doch vieles – generationenübergreifend – versuchen: Das dürfte dann wirklich keine Frage des Alters sein.

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