Serie, Teil 1 : Psychische Erkrankungen – noch immer unterschätzt
Eine aktuelle Studie der DAK hat festgestellt, dass sich die Zahl der Arbeitsunfähigkeiten wegen psychischer Erkrankungen in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdreifacht hat. Das ist keine Ausnahme. Die Statistiken der anderen Krankenkassen zeigen dasselbe Muster. Nur der Grad der Steigerung ist etwas unterschiedlich – vermutlich abhängig von der Art der Erfassung und der Auswertung der Daten, vielleicht aber auch vom versicherten Personenkreis beeinflusst.
Die Techniker Krankenkasse hat in ihrem Gesundheitsreport die Werte für 2016 speziell für Auszubildende analysiert. Danach fällt die Steigerung in dieser Personengruppe sogar noch stärker aus als im Durchschnitt der Beschäftigten. Die Fehlzeiten aufgrund von Depressionen, Anpassungs- und Belastungsstörungen etc. sind bei Auszubildenden zwischen 16 und 25 Jahren seit 2000 um 108 Prozent gestiegen. Über alle Altersgruppen betrug der Anstieg „nur“ 88 Prozent.
Während die psychisch bedingten Fehlzeiten insgesamt bei allen Beschäftigten seit drei Jahren auf hohem Niveau stagnieren, steigen sie in der jüngsten Beschäftigtengruppe weiter an.
Bei den Auszubildenden steht die Depression auf Platz drei der Hauptursachen von Krankschreibungen, hinter Atemwegs- und Magen-Darm-Infekten (Quelle: TK-Gesundheitsreport 2016/tk.de).
In einer Sonderauswertung, dem Depressionsatlas aus dem Jahr 2013, hat die Kasse zudem die Verordnung von Psychopharmaka genauer analysiert und dabei eine enorme Steigerungsrate in den letzten zehn Jahren festgestellt. Die Verordnungen haben sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt. An der überproportionalen Steigerung hat sich auch in der aktuellsten Untersuchung, dem Gesundheitsbericht 2019, nichts geändert, wie die Grafik zeigt.
Die Diagnose scheint also klar – und der Befund?
Bei den Ursachen dieser Entwicklung streiten sich die Gelehrten. Es gibt eine Reihe von möglichen Gründen. Die extremste Haltung ist in der folgenden Aussage zu finden: Das gab es schon immer, man hat es früher nur nicht so genannt. Wenn das so wäre, könnten sich die Unternehmen natürlich gemütlich zurücklehnen und ihre Hände in Unschuld waschen. Wenn es schon immer so war und sich nur die Feststellung geändert hat, ist ja alles in Ordnung, oder?
Lassen Sie uns die möglichen Ursachen einmal möglichst objektiv näher betrachten. Es ist sicherlich richtig, dass psychische Erkrankungen ihre Stigmatisierung weitgehend verloren haben – zum Glück! Wer vor zwanzig Jahren zugab, unter psychischen Problemen zu leiden, wurde doch sofort ausgegrenzt, als „verrückt“ bezeichnet und war damit „draußen“.
Das ist zum Glück anders geworden. Psychische Erkrankungen sind inzwischen als etwas völlig Normales akzeptiert. Das hat eine ganze Reihe von Vorteilen, insbesondere im medizinischen Bereich. Ärzte sind deutlich sensibler hinsichtlich der möglichen Ursachen einer Erkrankung geworden. Bei Magen-, Kopf- oder Rückschmerzen wird als Ursache – zumindest, wenn die Beschwerden immer wieder auftreten und keine körperliche Ursache zu erkennen ist – auch eine psychosomatische Befindlichkeit mitgedacht. In der Folge werden Arbeitsunfähigkeiten, die früher nur unter Magen- oder Rückenschmerzen geführt wurden, nun als das bezeichnet, was sie häufig sind: als psychische Belastung.
Daneben sind die Betroffenen durch die weggefallene Stigmatisierung auch eher bereit, mit dem Arzt über die möglichen psychischen Ursachen und Probleme zu sprechen. Sie akzeptieren nun eine Krankschreibung mit dem Grund „psychische Probleme“, was vor zwanzig Jahren noch kaum denkbar gewesen wäre.
Diese Entwicklung hat sicherlich zur Steigerung bei den psychischen Erkrankungen beigetragen. Wie groß dieser Anteil tatsächlich ist, lässt sich seriös kaum feststellen. Entsprechende Studien dazu sind mir bisher nicht bekannt geworden.
Mitunter werden inzwischen psychische Belastungsstörungen schon fast wie eine Trophäe behandelt. Nach dem Motto: „Wer noch nie einen Burnout hatte, hat nicht gearbeitet.“ In manchen Kreisen gehört es sozusagen zum guten Ton, über eine psychische Belastung sprechen zu können. Manche sind regelrecht enttäuscht, wenn der Arzt als Ursache für die Rückenprobleme einen klassischen Bandscheibenvorfall oder eine andere – nicht psychisch bedingte – Ursache ermittelt. Wenn doch der Burnout zum Lifestyle gehört …?
Auch dieses Phänomen trägt seinen Teil zur Steigerung der Zahlen in der Arbeitsunfähigkeitsstatistik bei. Und wie bei der Steigerung der Akzeptanz von psychischen Problemen lässt sich auch dieser Anteil an der Gesamtsteigerungsrate nicht genau feststellen.
Aber alles das kann das Ausmaß der Steigerung nicht allein erklären. Dagegen spricht auch die Steigerung bei der Verordnung von Psychopharmaka. Es muss also wohl doch weitere Ursachen haben, d. h. eine tatsächliche Ausweitung von psychischen Belastungen. Der Laie schlägt die Zeitung auf und findet jeden Tag Meldungen, bei denen man sagen kann: Die Welt bzw. die Menschheit wird immer verrückter (wobei bitte psychische Störungen nicht mit „verrückt“ gleichgesetzt werden!). Aber schauen Sie sich doch einmal die Nachrichtenlage an: Kaum ein Tag vergeht, an dem der „normale“ Durchschnittsbürger nicht den Kopf schüttelt über eine Meldung über Präsident Trump – und seine Getreuen. Anschläge und Amokläufe gehören inzwischen fast täglich zu den Breaking News. Ein deutliches Zeichen für das Wachsen von Ängsten. Dabei brauchen wir gar nicht so weit weg zu schauen. Auch die Umfragewerte etwa in den neuen Bundesländern bei der Sonntagsfrage zeigen eine schreckliche Tendenz. Warum wählen inzwischen viele Menschen so extrem (rechts)? Wichtigster Grund sind mehr oder weniger diffuse Ängste – ob berechtigt oder unberechtigt, spielt dabei keine Rolle. Subjektiv sind diese Ängste vorhanden. Und ein Filmtitel aus dem Jahre 1974 gibt eine gute Erklärung für die Folgen: „Angst essen Seele auf“. Mit diesen Ängsten und ihren Gründen werden wir uns im Folgenden näher beschäftigen und sehen, dass auch die Arbeitswelt einen ordentlichen Anteil an der Entwicklung hat. Und das liegt eindeutig in der Verantwortung der Unternehmen.
wird fortgesetzt…
Schon lange Pflicht, aber oft genug ignoriert – die psychische Gefährdungsanalyse
Die Gefährdungsanalyse ist ein wichtiger Baustein beim Thema Arbeitssicherheit und deshalb im Gesetz vorgeschrieben. Insbesondere große und mittlere Unternehmen nehmen diese Verantwortung im Wesentlichen durchaus ernst. In kleinen Betrieben kann man noch einigen Nachholbedarf konstatieren. Bei der Gefährdungsanalyse geht es in erster Linie um berufsbedingte (körperliche) Gefahren, also Unfallrisiken oder Erkrankungsrisiken etwa durch unbequeme Haltungen, schweres Heben usw. Das ist auch noch am einfachsten – man kann es nämlich meistens sehen oder einfach ausprobieren und so Schwachstellen und Belastungen gut erkennen.
Das ist bei der psychischen Gefährdung ein wenig anders – weshalb das Thema von vielen Unternehmen und Vorgesetzten gern ignoriert wird. Gleichwohl ist auch dieser Teil der Analyse vorgeschrieben. Ja, für einen Laien ist es nicht immer ganz einfach, spezielle psychische Gefährdungen zu erkennen. Dafür gibt es Fachleute. Oft hilft aber auch gründliches Nachdenken und der gesunde Menschenverstand. Verhältnisse, die Mitarbeiter krank machen, sind nämlich häufig dieselben: Stress, Überlastung, schlechte Führung, ein mieses Betriebsklima, Angst um den Arbeitsplatz, Angst vor Übergriffen usw.
Das Problem: Diese Ursachen lassen sich nicht immer so ohne weiteres und nicht ohne Aufwand beseitigen. Denn hierbei geht es nicht um die Änderung der Verhältnisse, sondern um die Änderung von Verhalten (bei Vorgesetzten und Kollegen). Die Steigerung der psychischen Erkrankungen zeigt aber, wie wichtig und notwendig eine gründliche Analyse gerade in diesem Bereich ist.
Fehltage wegen psychischer Erkrankungen weiterhin auf hohem Niveau
Entwicklung der Fehlzeiten bei Berufstätigen (Fehltage im Jahr 2000 = 100 Prozent)