Recruiting : „Digital funktioniert genauso gut wie persönlich“
Die ESCP Business School Berlin hat in einer aktuellen Umfrage herausgefunden, dass sich digitale Formate zur Bewerberauswahl zunehmend etablieren. Danach nutzt derzeit gut ein Drittel der Unternehmen auf Mitarbeitersuche Live-Video-Interviews, um die Bewerber kennenzulernen. 17 Prozent führen Assessment-Center in digitaler Form durch. Jeweils sieben Prozent laden zu zeitversetzten Video- Interviews oder -Eignungstests ein.
Dr. Michaela Wieandt, Leiterin des Bereichs Career Development an der ESCP Business School Berlin, beobachtet einen grundlegenden Wandel im Recruitment-Bereich.
Frau Dr. Wieandt, wie hat die Pandemie das Recruiting verändert?
Was vor der Pandemiesituation kaum denkbar war, nämlich dass Auswahlgespräche und Assessment-Center ausschließlich digital stattfinden, wird mehr und mehr zur gängigen Praxis in Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten. Viele sehen in der Flexibilität des digitalen Recruitments die Chance, deutschsprachige Talente und Führungskräfte im Ausland anzusprechen und zu gewinnen. Auch wir an der Hochschule werden unsere Recruiting-Tage zum zweiten Mal digital durchführen; die Studierenden bewerten das sehr positiv. Wir hatten 60 Prozent mehr Teilnehmende, bei den Unternehmen waren zwar einige wenige skeptisch, aber viele sind diesen Weg gern mitgegangen.
Worin liegen die besonderen Chancen des digitalen Recruitings für national agierende Unternehmen?
Sie können viel flexibler Termine vereinbaren und es entstehen erheblich weniger Reisekosten. Es ist einfach unnötig, eine sechsstündige Zugfahrt von Berlin nach München zu unternehmen, nur um ein erstes Gespräch zu führen. Deshalb war es auch schon von der Pandemie insbesondere bei größeren Unternehmen Usus, das erste Interview telefonisch durchzuführen – oftmals über Shared Service Center etwa mit Sitz in Rumänien. Kleinere Firmen haben durch digitale Kanäle die Möglichkeit, Interessenten aus ganz Deutschland zu gewinnen oder Studierende zu rekrutieren, die sich gerade noch im Ausland befinden.
Auf der anderen Seite steht schlicht das Risiko, dass der persönliche Eindruck fehlt …
Ja, das stimmt. Aber in vielen Bereichen erscheint dieser mittlerweile lässlich, so dass etliche Firmen auf vollständig digitale Recruiting-Prozesse setzen, insbesondere bei befristeten Positionen, bei denen es nicht darum geht, dass anschließend besonders viel face-to-face zusammengearbeitet wird. In der Zukunft erwarte ich allerdings für die meisten Unternehmen mehrstufige Verfahren, bei denen die erste Auswahl digital, die endgültige Entscheidung aber im persönlichen Kontakt stattfinden wird.
Gibt es bestimmte Settings, in denen digital eher gewinnbringend funktioniert als in anderen?
Im Bereich der Betriebswirtschaft, des Ingenieurwesens oder der IT kann ich mir nur wenig sensible Bereiche vorstellen, anders ist das eher im sozialen Bereich, wo Mitarbeitende oftmals im engen persönlichen Kontakt tätig sind. Doch selbst in der Medizin gibt es schon seit Jahren Agenturen, die Ärzt*innen auf Honorarbasis zur Überbrückung vermitteln, ohne dass die künftigen Teams sich je gesehen hätten. In Kliniken gibt es schlichtweg einen hohen Professionalisierungsgrad; denn auch eine beliebig zusammengewürfelte Schicht muss bei einer Herz-OP ja eine gute Teamarbeit abliefern und tut dies auch – unabhängig davon, wie die einzelnen Beteiligten persönlich harmonieren.
Gibt es Bereiche, in denen digitales Recruiting eher schwierig ist?
Eine klare Grenze für ausschließlich digitales Recruiting sehe ich eigentlich nur bei Führungskräften, die man länger halten will und bei denen es letztlich schon auf die Persönlichkeit ankommt. Daneben haben Beratungsunternehmen eine gewisse Sonderrolle inne: Einige von ihnen haben zu Beginn der Pandemie vollständig auf die Beschäftigung von Praktikanten verzichtet, weil sie diese nicht digital rekrutieren wollten. Doch nach einigen Monaten ist man auch hier offener geworden. Zwar gilt immer noch der Grundsatz, dass die Interessent*innen zu den Kund*innen passen müssen, doch auch die Beratung an sich fand ja zwischenzeitlich online statt.
Sie glauben also, dass es in letzter Konsequenz nur noch um eine Differenzierung nach Position geht?
Letztlich ist das so. Denn ein Praktikant geht nach drei oder sechs Monaten ohnehin wieder, die Konsequenzen einer etwaigen Fehlbesetzung sind überschaubar. Und auch ein Assessment-Center vor Ort hat ja eine gewisse Fehlerquote. Ich bin davon überzeugt, dass digitale Verfahren genauso gut funktionieren können wie physische Treffen.
Natürlich finden Sie auch Untersuchungen, die zu einem anderen Ergebnis kommen. Es kommt immer auf den jeweiligen Fokus an. Letztlich werden sich meiner Prognose nach Unternehmen und Interessent*innen vor allem dann persönlich, also physisch treffen wollen, wenn es um eine unbefristete und damit längerfristige Zusammenarbeit geht.
Die Digitalisierung im Recruitment begann ja bereits vor Corona. Welches sind für Sie die wichtigsten Trends, die schon vor längerer Zeit einsetzten und die in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden?
In der Tat ist gerade sehr viel in Bewegung. Corona hat Zoom und andere Videokonferenztools nur selbstverständlich gemacht und Berührungsängste abgebaut. Wesentlich ist für mich zum Beispiel das automatisierte CV-Screening mit Hilfe von Algorithmen, so dass kein HRler mehr draufschauen muss.
Das gibt es schon seit zehn Jahren genauso wie die Möglichkeit, dass der Kandidat oder die Kandidatin gar nicht mehr im Live-Video-Interview befragt wird, sondern Antworten zu vorgegebenen Fragen aufnehmen und ans Unternehmen senden soll. Damit besteht dann die Möglichkeit, das Video allen am Bewerbungsprozess beteiligten Personen im Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Durch die Pandemie wurden diese und andere Kommunikationsformen vielleicht etwas beschleunigt, aber auch ohne die aktuelle Situation würde sich das Recruitment in diesem Bereich weiterentwickeln und digitale Komponenten fester Bestandteil des Bewerbungsprozesses werden.
Alexandra Buba, M. A., Wirtschaftsredakteurin
Dr. Michaela Wieandt ist Leiterin des Bereichs Career Development an der ESCP Business School Berlin. Die von der ESCP initiierte und von Forsa durchgeführte Umfrage ergab, dass insgesamt fast drei Viertel der befragten Personalentscheider der Ansicht sind, dass auch zukünftig digitale Formate bei der Bewerberauswahl genutzt werden. Live-Video-Interviews spielen dabei eine zentrale Rolle (60 Prozent).