Unbegrenzter Urlaub: Geht das? : Vertrauensurlaub als Mitarbeiterbindungstool
Der Kampf um Talente zwingt Unternehmen dazu, neue Wege zu gehen und alte Strukturen sowie bisherige Ansichten zu überdenken. Dies gilt auch für das Thema Urlaub. Wo es die letzten Jahren immer darum ging, die Urlaubsklauseln in Arbeitsverträgen möglichst so zu gestalten, dass dies für Unternehmen besonders vorteilhaft ist, zeichnet sich ein Trend dahingehend ab, dass Urlaub als Mittel zur Mitarbeitergewinnung, Mitarbeiterbindung und zur Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit genutzt wird.
Diverse Unternehmen, insbesondere in den USA, haben in den letzten Jahren hiervon bereits Gebrauch gemacht. Aber auch zu uns „schwappt“ dieser Trend rüber und immer mehr Mitarbeiter haben beispielsweise die Möglichkeit, zusätzliche Urlaubstage „zu kaufen“. Auch das Thema unbegrenzter Vertrauensurlaub ist in diesem Zusammenhang auf dem Vormarsch. Die hierbei relevanten Aspekte werden nachfolgend dargestellt.
Ausgangssituation
Urlaub ist der neue Dienstwagen. Die Interessen der Mitarbeiter haben sich verändert. Die Work-Life-Balance ist ein entscheidendes Kriterium im Kampf um Talente. Dies führt dazu, dass in Unternehmen, wenn auch langsam, ein Umdenken stattfindet. Statt dem Ansatz zu folgen, „möglichst viel aus den Mitarbeitern herauszuholen“, ist Unternehmen daran gelegen, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, in der Mitarbeiter wertgeschätzt werden, in der ihnen Freiheiten eingeräumt werden und in der durch die Vertrauensbeziehung letztlich eine Bindung zum Unternehmen entsteht. Unbegrenzter Vertrauensurlaub kann in diesem Zsammenhang ein geeignetes Tool sein.
Eine gesetzliche Definition des Begriffs gibt es nicht. In der Diskussion wird darunter verstanden, dass Mitarbeiter die Zahl ihrer jährlichen Urlaubstage eigenverantwortlich und selbständig bestimmen können, wenn und solange die Erfüllung der entsprechenden Aufgaben und gesetzten Ziele gewährleistet ist. D. h. die Anzahl der von einem Mitarbeiter pro Kalenderjahr genommenen Urlaubstage ist nach oben hin offen. Klar ist nur, dass Mitarbeiter die Möglichkeit haben, deutlich mehr als die gesetzlich zugesicherten Mindesturlaubstage (20 Tage bei einer Fünf-Tage-Woche) in Anspruch zu nehmen.
Für Mitarbeiter bedeutet dies einen Gewinn in puncto Flexibilität, Eigenverantwortlichkeit und Wertschätzung. Aus Sicht der Unternehmen belegen erste Erfahrungen eine höhere Mitarbeitermotivation, eine gesteigerte Produktivität und eine starke Mitarbeiterbindung. Interessant ist hierbei: Die den Mitarbeitern übertragene Eigenverantwortung führt in der Regel nicht dazu, dass die gewährte Freiheit zu Lasten des Unternehmens ausgenutzt wird. Vielmehr führt sie dazu, dass sogar weniger als die sonst üblichen 30 Urlaubstage in Anspruch genommen werden.
Rechtlicher Rahmen
Einen gesetzlichen Rahmen gibt es für den Vertrauensurlaub weder im deutschen Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) noch in den europäischen Rechtsgrundlagen (Art. 7 der Europäischen Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88/EG; Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union). Diese regeln lediglich den gesetzlichen Mindestanspruch.
Soweit Mitarbeiter Urlaubstage über den gesetzlichen Mindestanspruch hinaus beanspruchen können, handelt es sich um sogenannten Mehrurlaub. In der Regel wird der Mehrurlaub vertraglich zugesichert. Auch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen sehen oft Regelungen zum Mehrurlaub vor.
Unter Vertrauensurlaub wird aus arbeitsrechtlicher Sicht sowohl der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch (von in der Regel 20 Urlaubstagen pro Kalenderjahr) als auch der zusätzlich gewährte unbegrenzte, vertraglich eingeräumte Mehrurlaub verstanden. Die Besonderheit liegt darin, dass die Höhe des zusätzlich gewährten Urlaubsanspruchs offen ist und damit die theoretisch denkbare Höchstgrenze des Vertrauensurlaubs die Arbeitstage eines Kalenderjahres bilden.
Mögliche Stolpersteine im Rahmen der Umsetzung
Vertragliche Regelungen
Soweit sich Unternehmen für die Einführung von Vertrauensurlaub entscheiden, empfiehlt sich eine genaue arbeitsvertragliche Urlaubsregelung. Wichtig ist hierbei zum einen, zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und dem (vertraglichen) Mehrurlaub zu unterscheiden. Hintergrund ist, dass andernfalls die strengen Regelungen des deutschen Bundesurlaubsgesetzes und die richtlinienkonforme Auslegung des europäischen Rechts auch für den (vertraglichen) Mehrurlaub gelten.
Wichtig ist außerdem, dass selbst im Fall von Vertrauensurlaub der gesetzliche Mindesturlaub unverzichtbar ist. Daher sollte vertraglich klargestellt werden, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub von der Möglichkeit des Vertrauensurlaubs unberührt bleibt.
Um die Erfüllung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs zu gewährleisten, sollte außerdem klargestellt werden, dass genommener Urlaub zunächst auf den gesetzlichen Mindesturlaub und erst nach dessen Erfüllung auf den Mehrurlaub angerechnet wird.
Auch eine Regelung, wonach der Mehrurlaub am Jahresende verfällt, ist im Zusammenhang mit der Einführung von Vertrauensurlaub sinnvoll. Arbeitgeber werden für solch einen Passus insbesondere dann dankbar sein, wenn ein Arbeitsverhältnis unterjährig endet. Ohne entsprechende vertragliche Regelung bestünde das Risiko, dass sich nicht genommene Urlaubstage in erheblicher Höhe anhäufen und bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Abgeltung in Höhe eines mehrjährigen Vertrauensurlaubs verlangt wird. Dies ist sicherlich selbst vor dem Hintergrund der Mitarbeitergewinnung und -bindung aus Arbeitgebersicht nicht gewollt.
Mitwirkungsobliegenheiten
In den letzten Jahren haben sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) und das Bundesarbeitsgericht (BAG) hinsichtlich der Anforderungen, die Arbeitgeber erfüllen müssen, damit nicht genommener Urlaub zu einem bestimmten Zeitpunkt verfällt und die damit zusammenhängenden Rückstellungen aufgelöst werden können, förmlich überboten.
In diesem Zusammenhang nahm der EuGH eine Mitwirkungsobliegenheit der Arbeitgeber an, ohne die sich Arbeitgeber weder auf einen Verfall noch auf die Verjährung von Urlaubsansprüchen berufen können. Danach kommt ein Verfall der Urlaubsansprüche zum Ende des Kalenderjahres nur dann in Betracht, wenn der Arbeitgeber zuvor seinen gebotenen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist. Hierfür muss der Arbeitgeber „konkret“ und „in völliger Transparenz“ dafür sorgen, dass die Beschäftigten tatsächlich in der Lage sind, den Jahresurlaub während des laufenden Jahres in Anspruch zu nehmen.
Entsprechend muss der Arbeitgeber dazu auffordern, den Urlaub zu nehmen, und klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub grundsätzlich zum Ende des Kalenderjahres verfällt, wenn er nicht genommen wird.
Um zu vermeiden, dass diese Rechtsprechung auch für den Vertrauensurlaub zur Anwendung kommt, sollte die vertragliche Regelung die Feststellung enthalten, dass der darin liegende Mehrurlaub grundsätzlich zum Ende des Kalenderjahres verfällt. Außerdem sollte auch klargestellt werden, dass dies selbst dann gilt, wenn der Arbeitgeber den Beschäftigten keinen entsprechenden Hinweis erteilt und nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs aufgefordert hat.
Verbot der Selbstbeurlaubung vs. Genehmigungsverfahren
Ein weiterer Aspekt ist die Frage, ob Mitarbeiter ein gewisses Verfahren für die Inanspruchnahme von Vertrauensurlaub einhalten müssen. Wenn man das Konzept des Vertrauensurlaubs weit versteht und den Mitarbeitern vollumfänglich die Freiheit einräumen will, Lage und Dauer des Urlaubs frei zu bestimmen, widerspräche dies dem grundsätzlichen Verbot der Selbstbeurlaubung. Dies gilt es zu bedenken.
Wichtig ist außerdem, die Unternehmensinteressen nicht außer Acht zu lassen: Auch wenn die Idee des Vertrauensurlaubs den Mitarbeitern im Grundsatz sämtliche Freiheiten mit dem Blick auf die gewünschte Eigenverantwortung überlässt, sollten sich Unternehmen zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Betriebsabläufe vorbehalten, unter bestimmten Voraussetzungen abweichende Vorgaben treffen zu können.
Denkbar ist auch, dass der Vertrauensurlaub selbst weitergehenden Schranken unterworfen wird. Dazu können beispielsweise Höchstgrenzen pro Urlaubszeitraum oder eine Mindestbesetzung der während des Urlaubs im Unternehmen verbleibenden Beschäftigten gehören. Der Gestaltungsspielraum ist hier groß.
Umgang mit Kündigungen und längeren Krankheitsphasen
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der bei der Einführung von Vertrauensurlaub berücksichtigt werden sollte, ist die Frage, was im Fall einer Kündigung gelten soll. Mitarbeiter könnten den Vertrauensurlaub in solch einem Fall dahingehend ausnutzen, dass die gesamte Dauer der Kündigungsfrist durch Selbstbeurlaubung „überbrückt“ wird.
Dies hätte aus Unternehmenssicht zwei entscheidende Nachteile: Zum einen sind Unternehmen typischerweise darauf angewiesen und es ist in ihrem Interesse, dass die Mitarbeiter – jedenfalls einen Teil der Kündigungsfrist – arbeiten und nicht von einem auf den anderen Tag „weg sind“. Andernfalls könnte eine ordnungsgemäße Übergabe gefährdet sein. Zum anderen käme eine Selbstbeurlaubung während der Kündigungsfrist einer bezahlten Freistellung gleich, die typischerweise Teil eines Aufhebungsvertrags ist. Der Arbeitgeber würde in diesem Fall eine wichtige Verhandlungsmasse aus der Hand geben.
Daher ist auch im Fall von Kündigungen eine vertragliche Regelung notwendig, die den Anspruch auf Vertrauensurlaub – vorbehaltlich des gesetzlichen Mindesturlaubs – ausnimmt.
Eine arbeitsvertragliche Regelung könnte auch empfehlenswert sein im Hinblick auf Mitarbeiter, die für sechs Wochen wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig erkrankt waren und unmittelbar im Anschlussanstelle einer weiteren Krankschreibung – Urlaub nehmen, obwohl sie noch arbeitsunfähig sind. Durch die Inanspruchnahme des Urlaubs könnten sie eine unbegrenzte Entgeltfortzahlung herbeiführen, obwohl in dieser Zeit an sich nur noch ein Anspruch auf Krankengeld besteht.
Variable Vergütung
Auch beim Thema variable Vergütung sind die Auswirkungen des Vertrauensurlaubs zu berücksichtigen. Aus Unternehmenssicht empfiehlt es sich, hier genau hinzusehen, denn die variable Vergütung kann neben der Eigenverantwortung ein geeignetes Mittel sein, einen Anreiz dafür zu schaffen, dass Vertrauensurlaub nur in einem angemessenen Umfang genommen wird.
Risiko und Umgang mit Missbrauchsfällen
Neben den bereits angesprochenen Fällen, in denen die Inanspruchnahme von Vertrauensurlaub vertraglich eingeschränkt werden sollte (siehe oben unter Ziffer III. 4. „Mögliche Stolpersteine im Rahmen der Umsetzung – Umgang mit Kündigungen und längeren Krankheitsphasen“ – z. B. Kündigung und längere Krankheitsphasen), erscheint es empfehlenswert, auch über eine vertragliche Regelung zur Vermeidung von Missbrauchsfällen nachzudenken.
Hierbei ist zunächst zu klären, wann man von einem Missbrauchsfall spricht. Dies mag von dem jeweiligen Einzelfall abhängen. Jedenfalls dann, wenn das Gleichgewicht zwischen der Leistung des Mitarbeiters und der Gegenleistung des Unternehmens durch die Inanspruchnahme des Urlaubs dauerhaft gestört ist, wird ein Missbrauchsfall vorliegen. Um das Risiko auf Unternehmensseite möglichst gering zu halten, kommen beispielsweise folgende Regelungen in Betracht:
- Begrenzung des Vertrauensurlaubs in quantitativer Hinsicht;
- ab der Inanspruchnahme von Vertrauensurlaub für einen gewissen Zeitraum ist die vorhergehende Einholung einer Einwilligung notwendig;
- Kombination des Vertrauensurlaubs mit einem Widerrufsvorbehalt (Achtung: Insoweit gelten strenge Voraussetzungen mit Blick auf eine Kontrolle der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB);
- Vertrauensurlaub erst nach einer bestimmten Dauer der Betriebszugehörigkeit ermöglichen; • Vertrauensurlaub erst nach Ablauf der Probezeit bzw. der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) gewähren.
Ist die Zeit reif dafür?
Ein nicht zu unterschätzender Kritikpunkt, der bei der Abwägung berücksichtigt werden sollte, ist, dass von der eingeräumten Freiheit kaum Gebrauch gemacht wird. Dieses Ergebnis wäre für Unternehmen nur auf den ersten Blick erfreulich, wenn überhaupt. Schließlich tragen Urlaubstage neben dem bezweckten Erholungs- und Gesundheitsschutz für die Mitarbeiter auch zu einer Steigerung der Produktivität bei.
Bei Einführung von Vertrauensurlaub ist daher zwingend darauf zu achten, dass die beabsichtigten positive Effekte nicht ins Negative umschlagen und statt zu erholten Mitarbeitern zu Mitarbeitern führen, die ausgelaugt sind und meinen, dem Unternehmen durch den Verzicht auf die (zusätzlichen) Urlaubstage etwas beweisen zu müssen. Hier sind die richtige Kommunikation und eine gelebte Unternehmenskultur gefragt.
Fazit
Der Vertrauensurlaub ist nicht nur für Start-ups ein interessantes Tool. Wichtig ist hierbei jedoch, im Rahmen der Einführung mögliche Szenarien genau zu durchdenken und bei der Vertragsgestaltung entsprechend abzubilden. Andernfalls können „böse“ Überraschungen drohen, da der Teufel hier im Detail steckt. Außerdem ist mit Blick auf die Glaubwürdigkeit und den beabsichtigten positiven Effekte darauf zu achten, dass die vereinbarte Flexibilität auch „gelebt“ wird.
Dr. Michaela Felisiak, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte