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Arbeitswelt 4.0 : Freiheit auf Raten

Homeoffice, Telearbeit, mobiles Arbeiten, digitales Nomadentum – all das, was sich in die Begrifflichkeit „Arbeitswelt 4.0“ packen lässt und gerade noch eines von vielen Themen war, steht nun ganz oben auf der Diskussionsagenda. Manches scheint möglich, etliches sinnvoll, weniges sicher. Der momentane Tenor unter Experten: Die Mischung macht’s, und so könnte sich im besten Fall eine ausbalancierte Kombination von mobilem Arbeiten und Präsenz im Büro etablieren – langsam.

Alexandra BubaFokusTitelthema
Lesezeit 9 Min.
Eine Person steht vor einer surrealen Landschaft, die mit zahlreichen Türen in verschiedenen Stilen und Farben übersät ist und eine Metapher für Entscheidungen und Möglichkeiten darstellt.

Möglicherweise ist es auch genau diese Alternativlosigkeit, die dazu ermutigt hat und eine große Kreativität bei gleichzeitig hoher Scheiternstoleranz hervorgebracht hat“, schreiben die Autoren einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO mit dem Titel „Arbeiten in der Corona-Pandemie auf dem Weg zum New Normal“ aus dem Juli 2020.

So klingt im Wissenschaftsdeutsch die Erkenntnis, dass es manchmal offenbar einfach das eine entscheidende Ereignis braucht, damit lange Gedachtes und Probiertes von einer breiten Mehrheit endlich auch getan wird. Als im März und April dieses Jahres viele Senioren plötzlich Skypen lernten und manche erstmals nach Jahren wieder den Fahrradsattel gegen den Autositz eintauschten, haben auch konservative Unternehmen gespürt, welche Vorteile Homeoffice mit sich bringen kann.

Positive Erfahrungen fördern Offenheit

Eine einsame, leuchtend rosa Tür steht inmitten einer nebligen und trostlosen Landschaft offen, während im nebligen Hintergrund Hinweise auf andere Türen auftauchen, die einen Hauch von Geheimnis und Surrealismus vermitteln.

Der damit verbundene Kontrollverlust war plötzlich das geringere Übel im Vergleich zum Totalausfall, und es eröffneten sich schlagartig Möglichkeiten zur Veränderung. Die Pandemie und die mit ihr verbundenen Arbeitswelt-Experimente haben das Potenzial, Unternehmenskulturen nachhaltig zu verändern, denn praktische, echte Lebenserfahrung schlägt offenbar jede Studie an Überzeugungskraft.

So kündigten etwa unlängst auch Unternehmen vom Schlage einer Siemens AG an, das Homeoffice für zwei bis drei Tage pro Woche als Standard im gesamten Unternehmen etablieren zu wollen. Einen Anspruch darauf habe aber niemand, weder auf Chef- noch auf Teamseite, wie gleich ergänzt wurde. Insgesamt gab laut einer Umfrage des Münchener ifo Instituts gut die Hälfte der Firmen an, dass sie eine Ausweitung der Tätigkeit im Homeoffice erwarten würde. Ähnliche Ergebnisse liefern Studien von Wirtschaftsforschungsinstituten wie dem Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) oder Hochschulen in der gesamten Republik.

Das Hohe Lied der Heimarbeit

Quasi unisono betonen Unternehmen, Expert*innen und Autor*innen, welche positiven Effekte die sprunghafte Ausweitung des Homeoffice mit sich gebracht habe – und dass es beibehalten werden solle.

Eine fundierte wissenschaftliche Bearbeitung des Stoffs liefert das eingangs zitierte Fraunhofer-Institut. Diese kommt zu dem Schluss, dass zuletzt über die Hälfte der Unternehmen sogar zentrale Personalprozesse wie Einstellungsgespräche erstmals virtuell durchgeführt hätte (57 Prozent). Bei Mitarbeitergesprächen verzichteten 62 Prozent auf die physische Präsenz.

Das „New Normal“ oder auch das „New Different“ werde in einem deutlich höheren Maß von einem Nebeneinander virtueller und im Büro stattfindender Arbeits- und Kooperationsformen gekennzeichnet sein, schreibt die Leiterin der Studie, Dr. Josephine Hofmann. Doch weshalb? Schlicht um Kosten für Büroflächen einzusparen, wie die Immobilienbranche unmittelbar befürchtete? Oder auch wegen anderer positiver Effekte? Und geht das einfach so?

Was passiert mit den leeren Stühlen?

Eine Person in einer dunklen Jacke und Hose blickt auf eine strukturierte rote Wand und denkt über ein Hindernis nach oder steht vor einem Hindernis, das durch die Weite der Wand dargestellt wird.

In der Fraunhofer-Studie gaben mehr als 90 Prozent der Befragten an, dass die Mitarbeitenden im Unternehmen grundsätzlich ihren eigenen festen Arbeitsplatz hätten. Das sahen sie indes nicht als Problem in Bezug auf die Ausweitung von Homeoffice-Zeiten an; als Hauptverhinderer für noch mehr Arbeit über Distanz führten sie stattdessen fehlende Betriebsvereinbarungen an. Und auch die Vorbehalte von Führungskräften und Geschäftsführung gibt es noch in massivem Umfang: Ein Drittel der Befragten machte diese als Hürde aus.

Tatsächlich – so die Studie – sei die IT-technische Grundausstattung der meisten Unternehmen zwar auf mobiles Arbeiten ausgerichtet, nicht aber auf den dauerhaften Einsatz zu Hause. Deshalb folgern die Autor*innen, dass die bisher gezogene Trennlinie zwischen klassischer Telearbeit und fallweiser, mobiler Arbeit mit ihren unterschiedlichen Anforderungen an arbeitgeberseitige Ausstattungsverantwortung überprüft werden müsse, sofern in Zukunft der Anteil der Arbeit im Homeoffice wirklich steigt.

Fortbildungsbedarf in Sachen Führung

Ein weiterer Aspekt, dem eine entscheidende Rolle zukommen dürfte, ist der Führungskompetenz. Diese auch auf Distanz einzusetzen, müssen Vorgesetzte und Unternehmenslenker*innen vielfach erst lernen. Das bestätigen auch die Befragten der Fraunhofer-Studie: So gaben 40 Prozent an, dass häufig Schulungsdefizite für das Führen auf Distanz bestünden.

Für etwas Ernüchterung sorgt auch der detailliertere Blick auf die Produktivität. Denn während zwar fast die Hälfte der Befragten angibt, dass durch die vermehrte Tätigkeit von zu Hause aus keinerlei Nachteile auf Unternehmensseite entstanden seien, geben auch 14 Prozent der Studienteilnehmer*innen an, dass häufig Produktivitätsbeeinträchtigungen spürbar gewesen seien. 9 Prozent sagten zudem, dass es häufig vorgekommen sei, dass Arbeitslasten aufgrund der verminderten Kontrollmöglichkeiten ungleich verteilt waren.

Und die andere Seite?

Wie umgekehrt die Arbeitnehmer*innen diese Aspekte beurteilten, ergibt sich aus einer Auswertung der gesetzlichen Krankenkasse DAK zum Thema. Interessant ist dabei vor allen Dingen der Aspekt der Digitalisierung der Arbeitsprozesse. So erlebt selbige fast kein Mitarbeitender mehr als Belastung, lediglich 1 Prozent sieht das noch so. Zuvor hatten immerhin 6 Prozent davon berichtet

In Sachen Produktivität ergibt sich ein etwas abweichendes Bild im Vergleich zur Einschätzung der Fraunhofer-Studie, denn bei der DAK-Befragung gaben 36 Prozent an, während der Corona-Krise nie eine verminderte Arbeitsproduktivität binnen eines 14-Tages-Zeitraums beobachtet zu haben. Zuvor waren dies nur 32 Prozent gewesen. Allerdings ist auch der Anteil derer, die dies umgekehrt häufig getan haben, um ein Prozentpunkt (von 8 auf 7 Prozent) gesunken.

Unterschiedliche Aussagen zur Produktivität

Fast jede*r vierte Befragte der DAK-Studie ist sich sicher, im Homeoffice produktiver arbeiten zu können als im Büro, ein weiteres Drittel findet, das stimme eingeschränkt. (Was gemeinhin als Argument für einen höheren Heimarbeitsanteil verstanden wird, wirft freilich auch Fragen an die Ausgestaltung der Büroarbeitsplätze auf.) Mehr als 80 Prozent sagten, es träfe voll oder eher zu, dass sich die grundsätzlich geeigneten Arbeitsaufgaben genauso gut im Homeoffice erledigen ließen. Am schmerzlichsten vermisst wird der direkte Kontakt zu Kolleg*innen. Drei Viertel der Befragten beklagten dies.

Ebenfalls als negativ wird die fehlende Trennung von Beruf und Privatleben gewertet. Allerdings stört dies nur knapp die Hälfte der Befragten, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie erlebten drei Viertel der Teilnehmenden, die Kinder unter zwölf Jahren betreuten. Letzteres ist freilich kein überraschender Befund, da die Schulschließungen und eingeschränkten Beschulungsmodelle über Monate vermutlich in vielen Fällen allein durch die Tätigkeit im Homeoffice überhaupt zu bewältigen waren.

Klares Konzept vonnöten

Ein Kind steht vor einer großen Tafel und denkt über den Beginn eines mit Kreide gezeichneten Fensters nach, das den Beginn der Fantasie oder das Nachdenken über Ideen symbolisiert.

Das wichtigste Pro für das Homeoffice ist indes der Zeitgewinn durch den Wegfall der Pendelzeit. 68 Prozent der Teilnehmenden hoben dies besonders hervor. Über die Hälfte – und das lässt aufhorchen – empfindet aber auch die Arbeit an sich als angenehmer im Vergleich zur Tätigkeit im Büro. Auch das Empfinden von Stress während der Arbeit nahm im Homeoffice ab – und dies obwohl viele Abläufe neu und ungewohnt waren und die persönliche psychische Belastung durch die Krise hinzukam. 2 Prozent der Befragten schliefen sogar deutlich besser.

Unternehmen bräuchten für die Zukunft aber ein ganzheitliches Konzept, so die Autor*innen weiter, damit das Homeoffice ein Erfolgsmodell werden könne. Dabei komme dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) eine wesentliche Rolle zu. Das BGM müsse aufs Homeoffice ausgeweitet werden. Darüber hinaus sei es wichtig, betriebsindividuelle Formen aus Homeoffice und Präsenzarbeit zu erarbeiten, um eine dauerhafte Perspektive zu entwickeln.

Außerdem – das ließe sich ergänzen – sollte auch die Organisation der Büroarbeitsplätze überdacht werden. Denn es ist frappierend, wenn in der Umgebung, die eigentlich dazu geschaffen ist, ein möglichst gutes Arbeiten zu ermöglichen, eben dies im Vergleich zu heimischem Sofa oder Küchentisch nicht gelingt.

Was läuft schief in den Büros?

Denn das Homeoffice zum Allheilmittel für produktives und entspanntes Arbeiten in der Zukunft zu erklären, entspringt lediglich dem gegenwärtigen Zeitgeist. Es ist ja noch gar nicht lange her: Bis unmittelbar zum Lockdown gab es auch diejenigen Untersuchungen, die vor Heimarbeit warnten, die die Entgrenzung der Arbeit als großes Problem beschrieben und Homeoffice-Tätigen generell ein höheres Gesundheitsrisiko bescheinigten, wie etwa eine ihrerseits vielbeachtete Studie der AOK, über die auch LOHN+- GEHALT (Ausgabe 7/19) berichtet hatte.

Eine andere, aktuelle Studie der Krankenkassen mhplus und SDK sieht auch jetzt noch Faktoren wie „Ringen um Arbeitsdisziplin, Turbobeschleunigung, dichte Arbeitstage, fehlende Kommunikation, schwächeres Teambuilding und Selbstausbeutung“ als konkrete Probleme der vergangenen Monate. Nicht zu vergessen ist auch der „Karriereknick“, den laut dieser Umfrage 41 Prozent befürchten, wenn sie häufiger im Homeoffice tätig sind. Eine Krise allein schafft also offenbar noch lange keinen Kulturwandel, und die Glorifizierung des mobilen Arbeitens greift viel zu kurz. Strategisch auf Langfristperspektive ausgelegt wäre ein genereller Paradigmenwechsel – der eben beides zulässt und gute Erfahrungen aus beiden Welten in die jeweils andere einbringt. Das ist für das Homeoffice das BGM und für das Büro die Berücksichtigung der Individualität, was Arbeitszeitpunkt, Tempo, Strukturierung und Präsenz anlangt.

Das Beste aus beiden Welten

An das Idealbild einer austarierten Mischung von Homeoffice und Büropräsenz glaubt auch der Jenaer Arbeits- und Wirtschaftssoziologe Prof. Dr. Klaus Dörre. Er geht in seiner Einschätzung zudem über die rein betriebliche sowie die Arbeitnehmer*innen-Ebene hinaus und kann sich positive Effekte für die gesamte Gesellschaft vorstellen: „Es gibt immer die Klagen über fehlende Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement, da könnte sich deutlich was ändern, wenn wir konzentrierter und durchschnittlich weniger arbeiten würden. Das wäre ein sehr schöner Effekt“, zitiert ihn der Mitteldeutsche Rundfunk.

Nachhaltigkeit als Bilanzposten in den Blick zu nehmen, empfehlen auch die Fraunhofer-Autor*innen. Die Neugestaltung von Pendelmobilität und Geschäftsreisen böte hierfür gute und quantifizierbare Anhaltspunkte, die das weitere Arbeiten in Richtung Nachhaltigkeit stützen, heißt es in der Studie. Dem Büro würde künftig verstärkt die Rolle der Kooperationsumgebung, der Begegnung und der Repräsentation zukommen; „aktivitätenbasierte Arbeitsumgebungen“ seien gefragt.

Wie diese nun Niederschlag in konkreten Konzepten finden, ist bis dato in den meisten Unternehmen noch nicht greifbar

Konkrete Ausgestaltungen gefragt

Zumindest bei Geschäftsreisen dürften aber schon jetzt virtuelle Abwicklungsformen eine viel größere Rolle spielen als vor der Pandemie. Denn was zuvor nur möglich war, wird nun auf breiterer Basis akzeptiert. Ein erster konkreter Ansatz, der über die pauschale, jubelnde Bejahung „Wir wollen mehr Homeoffice“ hinausgeht, muss zunächst der Blick auf die Aufgaben sein, die an dem einen oder anderen Ort erledigt werden sollen.

Diese nimmt die Studie der Krankenkassen mhplus und SDK in den Blick. Danach sind es vor allem kreative und planerische Aufgaben, die von der Erledigung im Homeoffice profitieren. 57 beziehungsweise 42 Prozent gaben an, diese zu Hause besser abarbeiten zu können. Geht es dagegen um Organisation, Vertrieb oder Führung, dann liegt der Präsenzarbeitsplatz in der Firma klar vorn: So gaben 61 Prozent der Befragten an, Besprechungen und Ähnliches besser physisch als virtuell oder fernmündlich durchführen zu können. Auch bei der Führung bestätigten dies 50 Prozent

Nur in einem Fall schneiden Homeoffice und Büro im Übrigen mehrheitlich gleich gut ab: bei den Routineaufgaben. Hier scheint es also egal, wo sie ausgeführt werden, und das Heft der Entscheidungsgrundlagen dürfen hier andere Kriterien als die Produktivität füllen.

Sicher ist aus Payroll-Perspektive aber auch: Die Frage der Arbeitszeiterfassung bleibt eine ganz wesentliche, auch wenn die „Alternativlosigkeit“ der Krise dafür gesorgt hat, dass diese hintanstand. Noch hat das Bundesarbeitsministerium keine konkreten Ansätze vorgelegt, wie mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vertrauensarbeitszeit aus dem Jahr 2019 umzugehen ist. Und nicht zuletzt diese Nachlässigkeit hemmt nun auch die Schaffung einer Arbeitswelt während und nach COVID-19.

Alexandra Buba

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