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Hamburger Modell : Die stufenweise Wiedereingliederung

Ist ein Arbeitnehmer längerfristig arbeitsunfähig erkrankt, kommt es häufig zu der Situation, dass er zwar nicht seine volle Arbeitsleistung erbringen kann, aber einer zeitlich und/oder inhaltlich eingeschränkten Tätigkeit nachgehen könnte. Eine solche „Teilarbeitsunfähigkeit“ existiert rechtlich jedoch nicht. Um arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmern dennoch die schrittweise Eingliederung in das Erwerbsleben zu erleichtern, wurde die ursprünglich von den Krankenkassen als „Hamburger Modell“ bezeichnete stufenweise Wiedereingliederung entwickelt.

Lesezeit 7 Min.
Eine Nahaufnahme einer Hand, die sich mit bunten Holzklötzen beschäftigt und auf taktile, spielerische Weise Humanressourcen und Strategie symbolisiert.

Gesetzlich normiert ist diese in § 74 Sozialgesetzbuch (SGB) V und für schwerbehinderte und diesen gleichgestellten Arbeitnehmer in § 44 SGB IX.

Voraussetzungen

Die stufenweise Wiedereingliederung setzt zunächst voraus, dass der Arbeitnehmer weiterhin krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist. Darüber hinaus muss der behandelnde Arzt die Prognose stellen, der Arbeitnehmer könne schrittweise wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden.

Durch die im Mai 2019 durch den Gesetzgeber vorgenommene Ergänzung des § 74 SGB und die Änderung der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V (sogenannte Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) ist der behandelnde Arzt nunmehr verpflichtet, spätestens ab einer Dauer der Arbeitsunfähigkeit von sechs Wochen die Feststellung zu treffen, ob er eine stufenweise Wiedereingliederung für sinnvoll erachtet. Aufgrund dieser konkreten zeitlichen Vorgabe ist davon auszugehen, dass die stufenweise Wiedereingliederung häufiger als bisher von den Ärzten empfohlen wird.

Wiedereingliederungsplan

Liegen die o. g. Voraussetzungen vor und ist der Arbeitnehmer mit der Eingliederung einverstanden, initiiert der behandelnde Arzt das Verfahren, indem er einen sogenannten „Wiedereingliederungsplan“ aufstellt. Hierfür ist der Vordruck „Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben (Wiedereingliederungsplan)“ der kassenärztlichen Bundesvereinigung zu verwenden.

Eine Hand legt ein rotes Holzpuzzleteil auf eine weiße Oberfläche und symbolisiert Personalmanagement.
Die stufenweise Wiedereingliederung 2-min

Einzutragen sind die zuletzt ausgeübte Tätigkeit und die bisherige Arbeitszeit des erkrankten Arbeitnehmers. Im Hinblick auf die zeitliche Dauer, die Art sowie etwaige Einschränkungen der auszuübenden Tätigkeit während der stufenweisen Wiedereingliederung kann der behandelnde Arzt eine Empfehlung abgeben. Zu diesem Zweck soll er ggfs. den Betriebsarzt einbinden oder mit Zustimmung der Krankenkasse eine Stellungnahme des medizinischen Dienstes zu der beabsichtigten Wiedereingliederung einholen.

Häufig ist im Wiedereingliederungsplan vorgesehen, den Arbeitnehmer für einen Zeitraum von ca. ein bis zwei Wochen in einem geringeren zeitlichen Umfang zu beschäftigen als arbeitsvertraglich vereinbart. Die Dauer der täglichen Einsatzzeit wird meist in mehreren Stufen über einen Zeitraum von ca. zwei bis vier Monaten erhöht.

Die Wiedereingliederungsmaßnahme soll insgesamt einen Zeitraum von sechs Monaten nicht überschreiten. Ziel ist es, die Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers nach dem Ende der stufenweisen Wiedereingliederung wieder voll herzustellen.

Der seit 2019 zu verwendender Vordruck für den Wiedereingliederungsplan enthält – anders als in der Vergangenheit – keine ausdrückliche Einschätzung des Arztes mehr, zu welchem Zeitpunkt mit der vollen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu rechnen ist. Der im Wiedereingliederungsplan prognostizierte letzte Tag der Wiedereingliederung entspricht daher i. d. R. dem voraussichtlich letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit.

Der Wiedereingliederungsplan ist durch den behandelnden Arzt und den betroffenen Arbeitnehmer zu unterzeichnen. Dieser Plan wird sodann dem Arbeitgeber vorgelegt, dessen Zustimmung ebenfalls erforderlich ist. Hierbei gilt es zu beachten, dass die stufenweise Wiedereingliederung insgesamt dem Prinzip der Freiwilligkeit unterliegt. Arbeitgeber sind daher grundsätzlich nicht verpflichtet, der stufenweisen Wiedereingliederung zuzustimmen. Diese kommt ohne oder gegen den Willen des Arbeitgebers nicht zustande.

Arbeitgeber sollten daher in jedem Einzelfall prüfen, ob die Wiedereingliederung in der ärztlichen Empfehlung vorgesehen, überhaupt sinnvoll ist. Ist dies nicht der Fall, z. B. weil die Beschäftigungszeiten zu gering angesetzt oder die im Wiedereingliederungsplan enthaltenen Einschränkungen nicht umsetzbar sind, kann diese Maßnahme abgelehnt werden. Ebenso können Arbeitgeber anregen, den Wiedereingliederungsplan durch den behandelnden Arzt abzuändern.

Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer laut Wiedereingliederungsplan an seinem arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitsplatz beschäftigt werden soll, dieser jedoch aufgrund einer zwischenzeitlich durchgeführten Restrukturierung nicht mehr vorhanden ist. In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, dem Arbeitnehmer während der stufenweisen Wiedereingliederung andere Tätigkeiten zu übertragen. Gleiches gilt, wenn zu befürchten steht, dass der Arbeitnehmer mit der Ausübung seiner vertragsgemäßen Tätigkeiten physisch oder psychisch (noch) überfordert wäre. Zulässig ist es auch, eine ggfs. geringwertigere Aufgabe während der Dauer der Wiedereingliederung anzubieten. Dies sollten Arbeitgeber bedenken, bevor sie eine stufenweise Wiedereingliederung vollständig ablehnen.

Sofern der Arbeitgeber der stufenweisen Wiedereingliederung nicht zustimmen möchte, ist dies auf dem Vordruck zu vermerken, die Maßnahme wird dann nicht umgesetzt.

Sonderfall: Schwerbehinderte und diesen gleichgestellte Arbeitnehmer

Eine Ausnahme vom o. g. Prinzip der Freiwilligkeit gilt jedoch dann, wenn der erkrankte Arbeitnehmer schwerbehindert oder einem Schwerbehinderten gleichgestellt ist.

Gemäß § 164 IV 1 SGB IX haben diese Mitarbeiter gegenüber dem Arbeitgeber einen Anspruch auf leidensgerechte Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) leitet hieraus eine grundsätzliche Verpflichtung des Arbeitgebers ab, schwerbehinderte bzw. diesen gleichgestellten Arbeitnehmer gemäß den Vorgaben des stufenweisen Wiedereingliederungsplans tatsächlich zu beschäftigen.

Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Beschäftigung für den Arbeitgeber unzumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden ist, Arbeitsschutzvorschriften der Beschäftigung entgegenstehen oder besondere Umstände vorliegen, aufgrund derer eine solche Beschäftigung ausnahmsweise abgelehnt werden kann. Kommt der Betriebsarzt zu der Einschätzung, der Gesundheitszustand des Mitarbeiters lasse eine stufenweise Wiedereingliederung aufgrund der konkreten Anforderungen des Arbeitsplatzes nicht zu, soll dies nach Ansicht des BAG auch bei schwerbehinderten Arbeitnehmern einer Wiedereingliederung entgegenstehen.

Sofern Arbeitgeber die Wiedereingliederung von schwerbehinderten oder diesen gleichgestellten Mitarbeitern ablehnen wollen, sollten die Gründe hierfür dokumentiert werden, damit diese im Streitfall vor Gericht dargelegt werden können.

Liegt im Einzelfall keine derartige Ausnahmesituation vor, sollte der Arbeitgeber dem Wiedereingliederungsplan zustimmen, ansonsten drohen im schlimmsten Fall Schadensersatzansprüche des schwerbehinderten bzw. des diesem gleichgestellten Arbeitnehmer wegen nicht leidensgerechter Beschäftigung.

Das Wiedereingliederungsverhältnis

Stimmt der Arbeitgeber dem Wiedereingliederungsplan zu, kommt durch seine Unterschrift im Formular das sogenannte Wiedereingliederungsverhältnis zustande. Wichtig ist, dass hierdurch nicht etwa das (inhaltlich modifizierte) Arbeitsverhältnis fortgesetzt wird. Vielmehr ist die stufenweise Wiedereingliederung rechtlich ein Vertragsverhältnis eigener Art, da dieses durch den Rehabilitations- und Integrationszweck gekennzeichnet ist (Bundessozialgericht (BSG), 17.12.2013 – B 11 AL 20/12).

Während der Dauer der stufenweisen Wiedereingliederung sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer von ihren jeweiligen Hauptleistungspflichten befreit (BAG, 16.05.2019 – 8 AZR 530/17). Der Arbeitnehmer erbringt also keine Arbeitsleistung, selbst wenn er meist an seinem bisherigen Arbeitsplatz (ggf. mit zeitlichen und inhaltlichen Einschränkungen) tätig wird. Während der Dauer der stufenweisen Wiedereingliederung kann auch kein Urlaub beansprucht bzw. gewährt werden (BAG, 19.04.1994 – 9 AZR 462/92).

Da der Arbeitnehmer während des Wiedereingliederungsverhältnisses keine Arbeitsleistung erbringt, ist der Arbeitgeber umgekehrt auch nicht verpflichtet, für diesen Zeitraum eine Vergütung zu zahlen. In aller Regel wird die stufenweise Wiedereingliederung erst nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraums durchgeführt, so dass der betroffene Mitarbeiter während der vereinbarten Dauer der Wiedereingliederungsmaßnahme sozialrechtliche Leistungen (z. B. Übergangs- oder Krankengeld) erhält. Ist der Arbeitnehmer mittlerweile ausgesteuert, kann er während der stufenweisen Wiedereingliederung Arbeitslosengeld beziehen.

Die fehlende Vergütungspflicht ist ein weiterer Anreiz für Arbeitgeber, der Wiedereingliederung zuzustimmen. Allerdings ist es zulässig, den Arbeitnehmer für diesen Zeitraum freiwillig zu entlohnen; in diesem Fall sollte die Höhe der Vergütung im Wiedereingliederungsplan vermerkt werden, um Streitigkeiten zu vermeiden.

Bisher durch das BAG höchstrichterlich noch nicht geklärt ist die Frage, ob der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer während der Dauer der Wiedereingliederung Weisungen erteilen kann. Das BSG hat dies mit dem Hinweis darauf verneint, Beginn und (ggf. vorzeitige) Beendigung des besonderen Rechtsverhältnisses stünden ebenso unter ärztlicher Entscheidungskompetenz wie die tägliche Arbeitszeit (BSG, 17.12.2013 − B 11 AL 20/12 R).

Nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts (LAG) Köln kann der Arbeitgeber von der im Wiedereingliederungsplan vorgesehenen, wohnortnahen Umsetzung der Maßnahme nicht durch Ausübung seines Direktionsrechts abweichen und den erkrankten Mitarbeiter somit auch nicht anweisen, die Wiedereingliederung am vertraglich vereinbarten Arbeitsort durchzuführen (LAG Köln, 07.04.2016 – 12 SaGa 9/16). Die Eigenart der Wiedereingliederungsmaßnahme bestehe gerade darin, dass sich die vertraglichen Pflichten während der Eingliederung der Krankheit unterordnen, daher müssten in dieser Zeit die Vorgaben der ärztlichen Stellungnahme genau beachtet werden, um den Zweck der Eingliederung zu erreichen. Allerdings dürften Weisungen des Arbeitgebers, die sich auf die konkrete Tätigkeit des Arbeitnehmers beziehen, jedenfalls dann zulässig sein, wenn diese den inhaltlichen Vorgaben des Wiedereingliederungsplans nicht widersprechen.

Während der Durchführung der stufenweisen Wiedereingliederung wird der Arbeitnehmer weiterhin von seinem behandelnden Arzt betreut. Zeigt sich eine Steigerung oder Verringerung der Belastbarkeit des Arbeitnehmers, ist eine Anpassung des Wiedereingliederungsplans vorzunehmen.

Darüber hinaus kann die Dauer der Wiedereingliederung insgesamt verkürzt oder verlängert werden. Allerdings bedarf jede Änderung des Wiedereingliederungsplans erneut der Zustimmung beider Arbeitsvertragsparteien.

Beendigung

In Bezug auf das Wiedereingliederungsverhältnis genießt der Arbeitnehmer keinen Kündigungsschutz. Daher können Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Wiedereingliederungsverhältnis jederzeit einseitig, nach hier vertretener Ansicht auch ohne Einhaltung einer Ankündigungsfrist, beenden.

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Die stufenweise Wiedereingliederung 3

Hierzu genügt eine einfache Erklärung, die grundsätzlich keine Begründung enthalten muss. Etwas anderes gilt wiederum bei schwerbehinderten und diesen gleichgestellten Mitarbeitern, bei denen nicht nur die Ablehnung, sondern auch die vorzeitige Beendigung des Wiedereingliederungsverhältnisses sachlich begründet werden sollte.

Bei optimalem Verlauf ist der Arbeitnehmer mit Ablauf des zeitlich befristeten Wiedereingliederungsplans wieder voll arbeitsfähig und kann seine vertragsgemäße Beschäftigung ausüben. In diesen Fällen endet die stufenweise Wiedereingliederung automatisch, ohne dass es einer gesonderten Erklärung durch den Arbeitgeber bedarf.

Fazit

Vor dem Hintergrund des anhaltenden Fachkräftemangels sollten Arbeitgeber in der Durchführung einer stufenweisen Wiedereingliederung eine Chance sehen, erkrankte Arbeitnehmer schrittweise an deren volle Leistungsfähigkeit in ihrem bisherigen Tätigkeitsfeld heranführen oder anderweitige Einsatzmöglichkeiten erproben zu können.

Da der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, während der Wiedereingliederung eine Vergütung zu zahlen, und zudem die Möglichkeit besteht, diese Maßnahme einseitig zu beenden, birgt deren Durchführung in den meisten Fällen hauptsächlich Vorteile für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Inka Adam, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht BEITEN BURKHARDT Rechtsanwaltsgesellschaft mbH

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