Rechtsprechung für Sie aufbereitet
Rechtsprechung für Sie aufbereitet Invaliditätsrente; voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit; befristete Gewährung einer Erwerbsminderungsrente
(Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.07.2021 – 3 AZR 445/29)
Die nur befristete Gewährung einer Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung steht einem Anspruch auf betriebliche Invaliditätsversorgung nicht entgegen, wenn die Versorgungszusage vorsieht, dass „bei Eintritt einer voraussichtlich dauernden völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts“ eine monatliche Invalidenrente gezahlt wird. Die Versorgungszusage verlangt für den Anspruch auf betriebliche Invaliditätsversorgung eine voraussichtlich dauernde völlige Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts. Damit bezieht sie sich auf § 44 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VI in der bei der Erteilung der Versorgungszusage geltenden Fassung und nunmehr auf § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, also die Regelungen über die Voraussetzungen einer an die Invalidität anknüpfenden Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.
Gesetzlicher Mindestlohn für entsandte ausländische Betreuungskräfte in Privathaushalten
(Urteil des BAG vom 24.06.2021 – 5 AZR 505/20 – Pressemitteilung Nr. 16/21)
Nach Deutschland in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden. Dazu gehört auch Bereitschaftsdienst. Ein solcher kann darin bestehen, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person wohnen muss und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten. Das Berufungsgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass die Verpflichtung zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns nach § 20 i. V. m. § 1 Mindestlohngesetz (MiLoG) auch ausländische Arbeitgeber trifft, wenn sie Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden. Hierbei handelt es sich um Eingriffsnormen i. S. v. Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung (Rom-I-VO), die unabhängig davon gelten, ob ansonsten auf das Arbeitsverhältnis deutsches oder ausländisches Recht Anwendung findet.
Die Revision der Beklagten rügt jedoch mit Erfolg, das Berufungsgericht habe ihren Vortrag zum Umfang der geleisteten Arbeit nicht ausreichend gewürdigt und deshalb unzutreffend angenommen, die tägliche Arbeitszeit der Klägerin habe unter Einschluss von Zeiten des Bereitschaftsdienstes 21 Stunden betragen. Das Landesarbeitsgericht hat zwar zu Recht in den Blick genommen, dass aufgrund des zwischen der Beklagten und der zu betreuenden Person geschlossenen Dienstleistungsvertrags eine 24-Stunden-Betreuung durch die Klägerin vorgesehen war. Es hat jedoch rechtsfehlerhaft bei der nach § 286 Zivilprozessordnung (ZPO) gebotenen Würdigung des gesamten Parteivortrags den Hinweis der Beklagten auf die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 30 Stunden/Woche nicht berücksichtigt, sondern hierin ein rechtsmissbräuchliches widersprüchliches Verhalten gesehen. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils. Auch die Anschlussrevision der Klägerin ist begründet. Für die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin habe geschätzt täglich drei Stunden Freizeit gehabt, fehlt es bislang an ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten, so dass auch aus diesem Grund das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben ist.

Umwandlung einer mitbestimmten Aktiengesellschaft in eine Societas Europaea (SE); Anforderungen an eine Beteiligungsvereinbarung; gesondertes Wahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer
(Vorlagebeschluss (EuGH) des BAG vom 18.08.2020 – 1 ABR 43/18 (A) – AP Nr. 1 zu § 21 SEBG)
Anmerkung: Es geht vorliegend um § 21 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SEBG).
Grundsätzlich können die Parteien einer Beteiligungsvereinbarung nach § 21 Abs. 1 SEBG Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer i. S. d. § 2 Abs. 8 SEBG autonom ausgestalten. Die den Parteien einer Beteiligungsvereinbarung eingeräumte Autonomie steht nach § 21 Abs. 1 SEBG allerdings unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der in Abs. 6 der Norm vorgesehenen Gewährleistung. Nach den für das nationale Recht maßgebenden Auslegungsmethoden gebietet § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG zur Überzeugung des Senats, dass die Parteien der Beteiligungsvereinbarung bei der Gründung einer SE durch Umwandlung in dieser sicherstellen müssen, dass die die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer i. S. d. § 2 Abs. 8 SEBG in gleichwertigem Umfang auch in der zu gründenden SE erhalten bleiben.
Zu den die Einflussnahme der Arbeitnehmer prägenden Verfahrenselementen der Unternehmensmitbestimmung bei einer nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 2 Nr. 2 Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) mitbestimmten Aktiengesellschaft deutschen Rechts gehört das nach § 16 MitbestG gesonderte Wahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat.
Nach den gesetzlichen Wertungen haben die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat – deren Repräsentanz durch die Wahl der Arbeitnehmer legitimiert ist – eine die Mitbestimmung der Arbeitnehmer stärkende Funktion. Damit soll sichergestellt werden, dass der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat Personen angehören, die über ein hohes Maß an Vertrautheit mit den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Unternehmens verfügen, und gleichzeitig externer Sachverstand vorhanden ist (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom 01.03.1979 – 1 BvR 532/77 u. a. – zu C III 2 b cc der Gründe, BVerfGE 50, 290).
Damit stellt das durch einen getrennten Wahlgang abgesicherte Recht der Gewerkschaften, Vorschläge für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer zu unterbreiten, für das Verfahren der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in einer nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG mitbestimmten Aktiengesellschaft ein prägendes Element dar, das bei der Umwandlung in eine SE in der Beteiligungsvereinbarung nach § 21 Abs. 6 SEBG in qualitativ gleichwertigem Umfang gewährleistet werden muss.
Diesen sich aus § 21 Abs. 6 SEBG ergebenden Anforderungen genügen die Regelungen über den zwölfköpfigen Aufsichtsrat in der Beteiligungsvereinbarung der Arbeitgeberin vom 10.03.2014 nicht. Zwar können die im Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften Wahlvorschläge für die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unterbreiten. Da für diese jedoch kein gesondertes Auswahlverfahren vorgesehen ist, stellen die Regelungen in Teil II Nr. 3.4 der Beteiligungsvereinbarung nicht ausreichend sicher, dass sich unter den Vertretern der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat auch tatsächlich eine von den Gewerkschaften vorgeschlagene Person befindet. Für den Senat stellt sich allerdings die Frage, ob diese – von ihm vorzunehmende – Auslegung des § 21 Abs. 6 SEBG mit den Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG vereinbar ist.
Benachteiligung nach dem AGG; Funktionen der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG; Verschuldensunabhängigkeit; Höhe der Entschädigung …
(Urteil des BAG vom 28.05.2020 – 8 AZR 170/19 – AP Nr. 28 zu § 15 AGG)
Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hat eine Doppelfunktion: Sie dient einerseits der vollen Schadenskompensation und andererseits der Prävention, wobei jeweils der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG ist verschuldensunabhängig. Bei der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG bestimmten Grenze von drei Monatsgehältern handelt es sich nicht um eine Grenze im Sinne, dass sich die geschuldete Entschädigung – sofern der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, was vom Arbeitgeber darzulegen und ggf. zu beweisen wäre (vgl. zur Darlegungs- und Beweislast BAG vom 11.08.2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 102) – von vornherein nur innerhalb eines Rahmens von „null“ und „drei“ auf der ausgeschriebenen Stelle (ungefähr) erzielbaren Bruttomonatsentgelten bewegen dürfte. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG gibt keinen Rahmen für die Bemessung der Entschädigung vor. Bei der Grenze in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG handelt es sich vielmehr um eine Kappungs- bzw. Höchstgrenze (vgl. BAG vom 25.10.2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 110, BAGE 164, 117; 19.08.2010 – 8 AZR 530/09 – Rn. 66 m. w. N).
Bei der Bestimmung der angemessenen Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden nach § 15 Abs. 2 AGG steht den Tatsachengerichten nach § 287 Abs. 1 ZPO ein weiter Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen sie die Besonderheiten jedes einzelnen Falls zu berücksichtigen haben.
Tarifliche Altersfreizeit; Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter
(Urteil des BAG vom 22.10.2019 – 9 AZR 71/19 – AP Nr. 29 zu § 4 TzBfG)
Der Kläger hat zuletzt beantragt:
- -festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm ab Montag, dem 5. März 2018, zwei Stunden Altersfreizeit je Woche gemäß § 2a Ziffer 1 des Manteltarifvertrags (MTV) des Bundesarbeitgeberverbands Chemie e. V. und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie vom 24.06.1992 zu gewähren, und zwar unter Berücksichtigung von Urlaub, Krankheit, Feiertag oder Freistellung gemäß § 2a Ziffer 6,
- hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, ihm zwei Stunden Altersfreizeit je Woche ab Rechtshängigkeit zu gewähren.
§ 2a Altersfreizeiten:
„1. Arbeitnehmer, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, erhalten eine zweieinhalbstündige Altersfreizeit je Woche. Soweit für Arbeitnehmer aufgrund einer Regelung nach § 2 I Ziffer 3 oder einer Einzelvereinbarung oder aufgrund von Kurzarbeit eine um bis zu zweieinhalb Stunden kürzere tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gilt, vermindert sich die Altersfreizeit entsprechend. Liegt die Arbeitszeit um zweieinhalb Stunden oder mehr unter der tariflichen Arbeitszeit, entfällt die Altersfreizeit.“
Der Kläger hat ein besonderes Interesse an der begehrten Feststellung, weil die Beklagte den von ihm behaupteten Anspruch auf tarifliche Altersfreizeit bestreitet (vgl. BAG vom 23.07.2019 – 9 AZR 372/18 – Rn. 10; 19.02.2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 19).
Dies gilt, obgleich sich der Feststellungsantrag teilweise auf die Vergangenheit bezieht. Der Gegenwartsbezug wird dadurch hergestellt, dass der Kläger gegenwärtige rechtliche Vorteile in Form der Gewährung von Altersfreizeit auch aus einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum erstrebt (vgl. BAG vom 16.05.2019 – 6 AZR 420/18 – Rn. 13). Die Klage ist begründet.
Der Anspruch des Klägers auf Gewährung der tariflichen Altersfreizeit folgt aus § 2a Ziffer 1 MTV i. V. m. § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG (Teilzeit- und Befristungsgesetz). Das in § 4 Abs. 1 TzBfG geregelte Diskriminierungsverbot steht gemäß § 22 Abs. 1 TzBfG nicht zur Disposition der Tarifvertragsparteien (vgl. für die ständige Rechtsprechung BAG vom 19.12.2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 47 m. w. N.).
§ 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV benachteiligt in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer wegen ihrer Teilzeittätigkeit gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten entgegen § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 TzBfG ohne sachlichen Grund. Teilzeitbeschäftigte werden wegen ihrer Teilzeit ungleich behandelt, wenn die Dauer der Arbeitszeit das Kriterium darstellt, an das die Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen anknüpft (vgl. BAG vom 23.03.2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 46, BAGE 158, 360; 19.01.2016 – 9 AZR 564/14 – Rn. 15).
§ 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV sieht eine an die Dauer der Arbeitszeit anknüpfende Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten vor. § 2 a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV schließt Arbeitnehmer, deren Arbeitszeit um zweieinhalb Stunden oder mehr unter der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit liegt, von der Gewährung der bezahlten tariflichen Altersfreizeit aus. Diesen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern wird entgegen § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG eine teilbare geldwerte Leistung nicht in dem Umfang gewährt, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht.
Claudia Czingon