Zehn Jahre Flexi II : Ein kurzes Update zu Zeitwertkonten
Zum 1. Januar 2010 trat Flexi II in Kraft. Ein Gesetzespaket, das den Insolvenzschutz für Zeitwertkonten verbessern und die Verbreitung fördern sollte. Mittlerweile nutzt jedes fünfte Unternehmen in Deutschland Zeitwertkonten Anlass für ein kurzes Review zu den Zeitwertkonten.
Was hat sich in Sachen Verbreitung getan? Was sind die aktuellen Schwachstellen? Und wo gibt es noch Optimierungsbedarf? Diese und weitere Fragen stellten wir an die Zeitwertkontenexperten Katrin Kümmerle, Gesellschafterin der febs Consulting GmbH, und Sven Beste, leitender Justiziar der Allianz-Lebensversicherungs-AG. Beide beschäftigen sich in ihrer beruflichen Praxis überwiegend mit Zeitwertkonten und sind Mitglieder des Fachkreises Recht der Arbeitsgemeinschaft Zeitwertkonten e. V. (AGZWK)
Frau Kümmerle, Herr Beste – frei heraus: was können Sie Positives berichten?
Frau Kümmerle: Da fällt mir einiges ein. Starten könnte ich mit dem Urlaub. Für die Praxis ist es immer schön, wenn Streit- und Diskussionspunkte beseitigt werden. Das schafft Klarheit und fördert die Akzeptanz der Arbeitgeber, Zeitwertkonten einzuführen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dass auch bei längerer Krankheit Urlaubsansprüche entstehen, sorgte in der Vergangenheit immer wieder für akademische Diskussionen, vor allem zur Frage, ob auch bei Freistellungen aus einem Zeitwertkontenmodell beispielsweise für eine Weltreise Urlaubsansprüche entstehen oder nicht. Erfreulich ist, dass das Bundesarbeitsgericht (BAG) nunmehr klargestellt hat, dass bei Freistellungen aus Altersteilzeit[1]und anderen Zeitwertkontenmodellen[2] schlicht keine Urlaubsansprüche entstehen. Auf einen bestimmten Freistellungszweck kommt es dabei nicht an. Arbeitgeber mögen diese klare Vorgabe und so bin ich mir im Ergebnis sicher, dass hierdurch zukünftig auch mehr Arbeitnehmer in den Genuss innerbetrieblicher Zeitwertkonten kommen werden. Selbst wenn die BAG-Entscheidung aus Arbeitnehmersicher eher unerfreulich ist.
Herr Beste: Ein ähnliches positives Thema gibt es im Bereich der Lohnsteuer. Während die oberste Finanzverwaltung die geschäftsführenden Gesellschafter lange Zeit ausschloss, hielten Lohnsteuer. Während die oberste Finanzverwaltung die geschäftsführenden Gesellschafter lange Zeit ausschloss, hielten die angerufenen Gerichte diese Praxis bereits seit 2015 für unzulässig. Es hat dann noch bis 2019 gedauert, bis das Bundesfinanzministerium durch BMF-Schreiben[3] seine Verwaltungspraxis wieder in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung brachte und zumindest Fremdgeschäftsführer wieder teilnehmen ließ. Damit wurde der Teilnehmerkreis zumindest um alle Organe, die nicht zugleich Eigentümer der juristischen Person sind, erweitert. Im Ergebnis dürfen jetzt auch Mitglieder der Geschäftsleitung mitmachen, was die Chancen für Zeitwertkonten in der betrieblichen Breite deutlich verbessern dürfte.die angerufenen Gerichte diese Praxis bereits seit 2015 für unzulässig. Es hat dann noch bis 2019 gedauert, bis das Bundesfinanzministerium durch BMF-Schreiben4 seine Verwaltungspraxis wieder in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung brachte und zumindest Fremdgeschäftsführer wieder teilnehmen ließ. Damit wurde der Teilnehmerkreis zumindest um alle Organe, die nicht zugleich Eigentümer der juristischen Person sind, erweitert. Im Ergebnis dürfen jetzt auch Mitglieder der Geschäftsleitung mitmachen, was die Chancen für Zeitwertkonten in der betrieblichen Breite deutlich verbessern dürfte.
Frau Kümmerle: Das passt zu meinen Erfahrungen in der Beratungspraxis. Häufig starten die Unternehmen das Modell mit den leitenden Angestellten und lassen die große Belegschaft erst nach den ersten praktischen Erfahrungen folgen. Als positiv hervorheben sollte man sicherlich auch die zwischenzeitlich neu hinzugekommenen gesetzlichen Freistellungszwecke. Sie dehnen den Anwendungsbereich von Zeitwertkonten zusätzlich aus. Hier fällt mir die Familienpflegezeit ein, die zum 01.12.2012 hinzukam oder die Brückenteilzeit, neu seit 01.01.2019. Im Ergebnis können Zeitwertkonten damit auch der Finanzierung einer bis zu 24 Monate dauernden Freistellung zur Pflege eines Familienangehörigen oder zur Finanzierung einer befristeten Teilzeit dienen.
Ich denke, dass auch die mit Flexi II eingeführte Portabilität der Verbreitung von Zeitwertkonten geholfen hat. Jedes Unternehmen muss im Kampf um Fachkräfte heute davon ausgehen, dass ein Bewerber bereits ein Wertguthaben mitbringt. Schon allein deswegen macht es für die Arbeitgeber Sinn, das Thema Zeitwertkonto frühzeitig proaktiv aufzugreifen und nicht etwa zu warten, bis der erste „High Potential“ eingestellt warden soll, der auf die Mitnahme seines befüllten Zeitwertkontos besteht.
Herr Beste: Auch die DRV Bund berichtet über gestiegene Portabilitätsfälle. So waren es im Oktober letzten Jahres mehr als 1.000 Arbeitnehmer mit einem Volumen von immerhin 100 Millionen Euro, die ihr Wertguthaben zur DRV Bund übertragen haben[4] Hier schaut die DRV Bund mittlerweile übrigens sehr genau darauf, ob auch ein Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag mitübertragen wird.
Mehr als zehn Jahre nach Flexi II ist mittlerweile auch das letzte große HR-System in der Lage, die sogenannten SV-Lüfte zu ermitteln und fortzuschreiben. Dies ist leider notwendig, um im Ausnahmefall – nämlich bei zweckwidriger Verwendung des Wertguthabens – die Sozialversicherungsabgaben zu bestimmen, zu bescheinigen und abzuführen. Diese Funktion fehlte lange Zeit in den gängigen HR-Systemen und war für Arbeitgeber definitiv ein Argument gegen die Einführung von Zeitwertkonten.
Frau Kümmerle: Last but not least will ich auch noch darauf hinweisen, wie gut die Zeitwertkonten den Stresstest COVID-19 gemeistert haben. Die Wertguthaben der Mitarbeiter sind in der Krise nicht nur insolvenzgesichert, sondern mussten –anders als andere Freizeitguthaben – auch nicht vor der Gewährung von Kurzarbeitergeld entspart werden. Hier wurde vielen Akteuren erstmals die Überlegenheit der Zeitwertkonten gegenüber reinen Arbeitszeitregelungen klar.
Gilt die Schonung auch dann, wenn das Zeitwertkonto für Freistellungszwecke bestimmt ist, die nicht ausdrücklich im Gesetz genannt sind?
Herr Beste: Ja, das Bundesministerium für Arbeit hat bereits klargestellt, dass die im Gesetz genannten Freistellungswecke nur exemplarisch sind und die Schonung auch für weitere Freistellungsgründe wie z. B. ein Sabbatical gilt[5].
Wo sehen Sie noch Druckpunkte bzw. Optimierungsbedarf?
Herr Beste: Mehr als zehn Jahre nach Flexi II ist es m. E. an der Zeit, den Teilnehmerkreis noch einmal zu erweitern. Bis heute könnten Beamte aufgrund fehlender Regelungen in den Besoldungsgesetzen des Bundes und der Länder keine Zeitwertkonten mit Besoldungsanteilen dotieren. Daran sollte sich etwas ändern. Denn gerade bei den Beamten der Polizei oder auch bei den Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr sehe ich einen hohen Bedarf an Tools, die individuelle Arbeitszeit eigenverantwortlich und lebensphasenorientiert zu gestalten.
Aber braucht man bei den Beamten überhaupt einen Insolvenzschutz? Hat der Staat nicht immer Geld?
Herr Beste: Das ist absolut richtig. Arbeitgebern, denen die Insolvenzfähigkeit fehlt, können auf einen Insolvenzschutz ihrer Zeitwertkonten verzichten. Dies spricht jedoch nicht gegen die Einführung von Zeitwertkonten, sondern ist vielmehr eher ein zusätzliches Argument, den Beamtendienstherren die Dotierung mit Besoldungsanteilen zu erlauben.
Letztlich auch, weil es gerade Lehrer sind, die sich Sabbaticals oder Sabbatjahre wünschen. Heute funktioniert das in der Praxis in einigen Bundesländern übrigens auch schon. Hier wird erst die vertragliche Arbeitszeit sozusagen künstlich verringert, um im Anschluss unverändert weiterzuarbeiten. Die so generierte Mehrarbeit kann dann ein Sabbatical finanzieren. Diese Konstruktionen sind lebensfremd und gelten nur in einigen Bundesländern und auch nur für Lehrer.
Ich würde mir wünschen, dass die Besoldungsvorschriften für Beamte auf Bundes- und Landesebene so modifiziert werden, dass zukünftig allen Beamten der Weg offensteht, mit Vergütungsanteilen über Zeitwertkonten Freistellungen oder eine Arbeitszeitverringerung zu generieren.
Frau Kümmerle: Das wäre sicherlich förderlich, um in den Ministerien in Berlin noch mehr Sensibilität für die Zeitwertkonten zu schaffen. Hier hat man manchmal den Eindruck, dass neue Gesetzesvorhaben die bestehenden Regelungen zu Zeitwertkonten nicht hinreichend würdigen. Als Beispiel fällt mir das Elterngeld ein. Es wird auf der Basis des Nettoeinkommens vor Geburt des Kindes bestimmt. Dotiert der oder die Beschäftigte eigenverantwortlich ein Zeitwertkonto, um selbst Freistellungsphasen z. B. zur Kindeserziehung anzusparen, reduziert sich hierdurch die Bemessungsgrundlage für das Elterngeld. Zum anderen sind nach Ansicht einiger Sozialgerichte Entnahmen aus einem Zeitwertkonto – selbst wenn sie zur Arbeitszeitverringerung während der Kindererziehung erfolgen – auf das Elterngeld anzurechnen. Diese beiden Nachteile führen im Ergebnis dazu, dass sich Zeitwertkonten und das Elterngeld nicht etwa sinnvoll ergänzen, sondern eher widersprechen.
Herr Beste: Wünschenswert, wäre eine gesetzliche Regelung, die bewirkt, dass sich Zeitwertkontendotierungen nicht nachteilig auf die Bemessungsgrundlage für das Elterngeld auswirken.
Frau Kümmerle: Richtig, so hat man es beim Arbeitslosengeld auch gemacht. Die Zeitwertkontendotierungen wirken hier nicht nachteilig auf die Höhe der Leistung. Die AGZWK fordert daher zu Recht schon seit langem eine ausdrückliche Regelung, dass Entnahmen aus einem Zeitwertkonto zur Freistellung oder Arbeitszeitverringerung während der Kindererziehung nicht auf das Elterngeld angerechnet werden.
Herr Beste: Das Thema schlechte Konsistenz zu Zeitwertkonten haben wir auch im Zusammenhang mit der Teilrente. Derzeit werden Freistellungsgehälter, d. h. Entnahmen aus einem Zeitwertkontenmodell, auf die Hinzuverdienstgrenzen der Teilrente angerechnet. Würde diese Anrechnung entfallen, könnten Zeitwertkonten sofort einen deutlich höheren Beitrag zur Flexibilisierung der ruhestandsnahen Lebensphase leisten. So aber bremsen sich Zeitwertkonten und Teilrente in der ruhestandsnahen Lebensphase aus. Das habe ich verstanden. Im Ergebnis geht es Ihnen also um die Erweiterung des Teilnehmerkreises und um eine bessere Verzahnung mit anderen Instrumenten, insbesondere mit dem Elterngeld und der Teilrente.
Frau Kümmerle: Unsere Wunschliste sollten wir auf jeden Fall noch um einen Punkt ergänzen, der besonders den Arbeitgebern am Herzen liegen dürfte. Hier geht es um Vereinfachungen beim Austausch des Insolvenzsicherungsinstruments oder des ursprünglich ausgewählten Produktanbieters. Derzeit ist der Austausch eines Insolvenzsicherungsinstruments kaum möglich, weil alle teilnehmenden Mitarbeiter gesondert zustimmen müssen. Dies ist bei großen Unternehmen mit Betriebsräten lebensfremd und dramatisch, wenn sich ein ursprünglich ausgewählter Produktanbieter vom Markt verabschiedet und einzelne wenige Mitarbeiter eines großen Kollektivs ihre Zustimmung versagen. Im Ergebnis benötigen wir Vereinfachungen beim Austausch des Sicherungsmodells. Hier sollte künftig die Zustimmung des Betriebsrats ausreichen, wenn schon die Einrichtung des Modells auf der Basis einer kollektivrechtlichen Regelung erfolgte.
Im Ergebnis ziehen Sie also ein überwiegend positives Resümee?
Herr Beste: Definitiv. Zeitwertkonten sind ein tolles Instrument für alle Beteiligten. Mitarbeiter und Arbeitgeber haben die Vorzüge bereits kennengelernt oder sind gerade dabei, die Vorteile für sich zu entdecken. Gesellschaftspolitisch sind sie wegen unserer immer älter werdenden Erwerbstätigen besonders wichtig, um gerade in der ruhestandsnahen Lebensphase die Arbeitszeit ohne Einkommenseinbußen individuell zu gestalten und diese zu entzerren. Der Gesetzgeber sollte daher bei allen Gesetzesvorhaben die Kompatibilität zu den betrieblichen Zeitwertkonten im Auge behalten. Klasse wäre es, die angesprochenen Optimierungen in einem zukünftigen Flexi III vorzunehmen.
Frau Kümmerle, Herr Beste, vielen Dank für das Gespräch.
Markus Matt
[1] Für Alterteilzeit vgl. BAG-Urteil vom 24.09.2019 – 9 AZR 481/18
[2] Für Langzeitkonten (Sabbatical) vgl. BAG-Urteil vom 19.03.2019, 9 ATZ 315/17
[3] BMF-Schreiben vom 17.06.2009, Abschnitt A), Ziffer IV
[4] Die Zahlen nannte die DRV Bund auf der Jahrestagung der AGZWK im Oktober 2019
[5] Vgl. Frage 21 FAQ Wertguthaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, zu finden unter www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a861-7-wertguthaben-faq.html