Betriebliches Eingliederungsmanagement : Rechtsgrundlagen und mehr
Zunächst war § 84 Abs. 2 SGB IX die Rechtsgrundlage für das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM). Seit dem 1. Januar 2018 ist das BEM in leicht veränderter Form in § 167 Abs. 2 SGB IX geregelt. Auf Entscheidungen, die zu § 84 Abs. 2 SGB IX ergangen sind, wird – soweit sich im Gesetzeswortlaut keine Änderungen ergeben haben – zurückgegriffen.
Sinn und Zweck des BEM
Nach § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX soll hierdurch eine Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seinem Urteil vom 20.05.2020 – 7 AZR 100/19 – in der Rn. 32 m. w. N. ausgeführt, dass § 84 Abs. 2 SGB IX (seit dem 1. Januar 2018: § 167 Abs. 2 SGB IX) weder konkrete Maßnahmen noch ein bestimmtes Verfahren vorschreibe. Das BEM sei ein rechtlich regulierter verlaufs- und ergebnisoffener „Suchprozess“, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln solle. Aus dem Gesetz, so das BAG weiter, ließen sich jedoch gewisse Mindeststandards ableiten. Zu diesen gehöre es, die gesetzlich dafür vorgesehenen Stellen, Ämter und Personen zu beteiligen und zusammen mit ihnen eine an den Zielen des BEM orientierte Klärung ernsthaft zu versuchen. Ziel des BEM sei es, festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen sei, und herauszufinden, ob Möglichkeiten bestünden, sie durch bestimmte Veränderungen künftig zu verringern, um so eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden. Danach entspreche ein BEM-Verfahren den gesetzlichen Anforderungen nur dann, wenn es keine vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Anpassungs- und Änderungsmöglichkeiten ausschließe und in ihm die von den Teilnehmern eingebrachten Vorschläge sachlich erörtert würden.
Behinderung keine Voraussetzung
Die Durchführung eines BEM setzt nicht voraus, dass bei dem betroffenen Arbeitnehmer eine Behinderung vorliegt (Urteil des BAG vom 20.05.2020 – 7 AZR 100/19 – Rn. 30 m. w. N.).
in Betracht kommender Personenkreis
Die Pflicht zur Durchführung des BEM erstreckt sich auf alle Arbeitnehmer mit einer krankheitsbedingten Fehlzeit von mehr als sechs Wochen innerhalb eines Jahreszeitraums (Beschluss des BAG vom 07.02.2012 – 1 ABR 46/10 – AP Nr. 4 zu § 84 SGB IX Rn. 9 m. w. N.).
Sie besteht unabhängig von einem Antrag der betroffenen Arbeitnehmer oder einer der am Verfahren beteiligten Stellen. Vielmehr obliegt dem Arbeitgeber die Pflicht, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ein BEM einzuleiten (Beschluss des BAG vom 07.02.2012 – 1 ABR 46/10 –, a. a. O.).
Zustimmung und Beteiligung des Arbeitnehmers
§ 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX stellt auf die Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person ab. Die Zustimmung des Arbeitnehmers war bereits in der vorangegangenen Vorschrift Voraussetzung für das BEM.
Das in § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX bestimmte Zustimmungserfordernis der von der Durchführung eines BEM betroffenen Arbeitnehmer soll gewährleisten, dass die Klärung ihres Gesundheitszustands nur freiwillig erfolgt. Ein BEM kann ohne Einwilligung des betroffenen Beschäftigten schon deshalb nicht sinnvoll durchgeführt werden, weil der Arbeitnehmer regelmäßig nicht zur Mitteilung der Gründe für seine krankheitsbedingten Fehlzeiten verpflichtet ist und die vom Gesetzgeber angestrebte Klärung der möglichen Maßnahmen zu deren Reduzierung ohne die dafür erforderlichen Angaben des Arbeitnehmers nicht möglich ist (Beschluss des BAG vom 07.02.2012 – 1 ABR 46/10 –, a. a. O., Rn. 22).
Das BAG hat in seinem Beschluss vom 19.11.2019 – 1 ABR 36/18 – im 3. Orientierungssatz ausgeführt, dass der konkret-individuelle Klärungsprozess des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nicht ohne Beteiligung des Arbeitnehmers stattfinden soll. Krankheit und Arbeitsunfähigkeit i. S. d. § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgeltFG)
Krankheit i. S. d. § 3 EntgeltFG setzt einen regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustand voraus. Regelwidrig ist ein körperlicher oder geistiger Zustand dann, wenn er nach allgemeiner Erfahrung unter Berücksichtigung eines natürlichen Verlaufs des Lebensgangs nicht bei jedem anderen Menschen gleiches Alters und Geschlechts zu erwarten ist (Urteil des BAG vom 26.10.2016 – 5 AZR 167/16 – AP Nr. 33 zu § 3 EntgeltFG Rn. 14 m. w. N.).
Arbeitsunfähigkeit besteht, wenn der Arbeitnehmer infolge Krankheit seine vertraglich geschuldete Tätigkeit objektiv nicht ausüben kann oder objektiv nicht ausüben sollte, weil die Heilung nach ärztlicher Prognose hierdurch verhindert oder verzögert würde. Von Arbeitsunfähigkeit ist auch dann auszugehen, wenn erst eine zur Behebung einer Krankheit erforderliche Heilbehandlung dazu führt, dass der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung nicht erbringen kann (Urteil des BAG vom 26.10.2016 – 5 AZR 167/16 –, a. a. O., Rn. 14 m. w. N.).
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
In der Regel ist der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung i. S. d. § 5 Abs. 1 Satz 2 EntgeltFG geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit.
Ihr kommt ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt (Urteil des BAG vom 26.10.2016 – 5 AZR 167/16 –, a. a. O., Rn. 17 m. w. N. unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung).
Folgen eines nicht ordnungsgemäß durchgeführten oder unterlassenen BEM
Das BAG hat hierzu im Urteil vom 20.05.2020 – 7 AZR 100/19 – Rn. 27 m. w. N. ausgeführt, dass dann, wenn der Arbeitgeber entgegen den Vorgaben des § 84 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (seit dem 1. Januar 2018: § 167 Abs. 2 SGB IX) ein BEM unterlassen oder nicht ordnungsgemäß unternommen hat, dies zu einer Erweiterung seiner Darlegungslast hinsichtlich des Bestehens von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten führen könne. Zwar sei die Durchführung eines BEM keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Mithilfe des BEM könnten jedoch Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf einem anderen, ggf. „freizumachenden“ Arbeitsplatz erkannt und entwickelt werden mit dem Ziel, das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Wenn ein BEM nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei, habe der Arbeitgeber von sich aus denkbare oder vom Arbeitnehmer bereits genannte Alternativen zu würdigen und im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen die Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz ausscheide. Erst nach einem solchen Vortrag sei es Sache des Arbeitnehmers, sich hierauf substantiiert einzulassen und darzulegen, wie er sich selbst seine Weiterbeschäftigung vorstelle.
Nur wenn auch die Durchführung eines BEM keine positiven Ergebnisse hätte zeitigen können, sei sein Fehlen unschädlich. Will sich der Arbeitgeber hierauf berufen, hat er die objektive Nutzlosigkeit des BEM darzulegen und ggf. zu beweisen (Urteil des BAG vom 20.05.2020 – 7 AZR 100/19 – Rn. 28).
Claudia Czingon