Sozialversicherung : Zu unrecht gezahlte Säumniszuschläge
Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich mit Urteil vom 12.12.2018 eindeutig zu den Voraussetzungen für den Anfall von Säumniszuschlägen positioniert, und zwar für nachträglich festgestellte Beitragsforderungen. LOHN+GEHALT erläutert die aktuelle Rechtsprechung und zeigt, wann Rentenversicherungsträger, anlässlich von Betriebsprüfungen, noch Säumniszuschläge verlangen können und wann nicht.
Nach § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IV hat der Arbeitgeber für Beiträge und Beitragsvorschüsse, die er nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt hat, für jeden angefangenen Monat der Säumnis einen Säumniszuschlag in Höhe von eins vom Hundert des rückständigen, auf 50 Euro nach unten abgerundeten Betrages zu zahlen.
Unverschuldet keine Kenntnis
Wird eine Beitragsforderung durch Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit festgestellt,
- ist ein darauf entfallender Säumniszuschlag nicht zu erheben,
- soweit der Beitragsschuldner glaubhaft macht, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte (§ 24 Abs. 2 SGB IV).
Katalogfälle
Der Beitragsschuldner kann insbesondere in folgenden Fällen eine unverschuldete Unkenntnis nicht geltend machen:
- Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung,
- Nichtauswertung von Lohnsteuerprüfberichten,
- Nichtberücksichtigung früherer Beanstandungen aus Betriebsprüfungen,
- unterbliebene Abführung von Beiträgen nach arbeitsgerichtlichen Entscheidungen, die Zahlungsansprüche der Beschäftigten betreffen,
- wenn die Ermittlung der voraussichtlichen Beitragsschuld im Sinne des § 23 SGB IV nicht gewissenhaft vorgenommen wurde und
- bei identischen Sachverhalten unterschiedliche Beurteilungen vorgenommen wurden.
In allen diesen Fällen ist ohne weiteres davon auszugehen, dass der Beitragsschuldner mindestens grob fahrlässig keine Kenntnis von seiner Beitragsschuld hatte und diese deshalb nicht unverschuldet war (§ 24 Abs. 2 SGB IV).
Vermerk im Protokoll
Wenn ausnahmsweise in diesen Fällen keine Säumniszuschläge geltend gemacht werden, sind die Betriebsprüfer der Deutschen Rentenversicherung aufgefordert, die Gründe hierfür im Protokoll der Schlussbesprechung festzuhalten.
Keine grobe Fahrlässigkeit
Handelt es sich um einen Sachverhalt, der oben nicht im Katalog aufgeführt ist, kann nicht von grober Fahrlässigkeit ausgegangen werden. Säumniszuschläge dürfen durch die Betriebsprüfer nicht erhoben werden.
Lohnabrechnung wird durch Fachpersonal erledigt
Wird die Entgeltabrechnung von einer Abrechnungsstelle wie beispielsweise von einem Buchhaltungsservice oder Steuerbüro erledigt, also gewerbsmäßig vorgenommen, gelten die gleichen Maßstäbe (§ 28p Abs. 6 SGB IV). Hier haben einige Rentenversicherungsträger, anlässlich von Betriebsprüfungen, strengere Maßstäbe angesetzt. Das ging in vielen Fällen so weit, dass bei jeder Nachforderung, wenn die Löhne von einem Buchhaltungsservice oder Steuerbüro – also von Fachpersonal – abgerechnet wurden, Säumniszuschläge erhoben wurden. Hier wurden sie jetzt vom Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 12.12.2018 (Az.: B 12 R 15/18 R) in die Schranken verwiesen.
Druck von außen
Nach § 28q Abs. 5 SGB IV prüfen die Einzugsstellen (gesetzliche Krankenkassen) und die Agentur für Arbeit gemeinsam die Betriebsprüfungsberichte, die die Rentenversicherungsträger erlassen, alle vier Jahre stichprobenmäßig. Ein Prüfschwerpunkt ist hier oft die Erhebung von Säumniszuschlägen. Da gab es auch viele Beanstandungen. Ein Problem war hier nach dem Katalog (siehe oben) die Ermittlung der voraussichtlichen Beitragsschuld (§ 23 SGB IV), die nicht gewissenhaft vorgenommen wurde. Die Prüfer der Einzugsstellen und der Agentur für Arbeit wendeten diesen Katalogfall des Öfteren schon bei jedem falsch beurteilten Sachverhalt an, vor allem, wenn die Lohnabrechnung von Fachpersonal von einem Buchhaltungsservice oder einem Steuerbüro erledigt wurde. Etwas, das der § 23 SGB IV in seiner Auslegung nicht hergibt. Der Bogen wurde hier in vielen Fällen deutlich überspannt. Dieser Kontrolldruck führte bei den Betriebsprüfern der Rentenversicherung dazu, den § 23 SGB IV auch weiter auszulegen. Das dürfte jetzt mit der aktuellen Rechtsprechung des BSG ein Ende haben.
Sachverhalt
Eine klagende GmbH betrieb ein Busunternehmen mit speziell für einen 24-stündigen Aufenthalt ausgestatteten Reisebussen. Die Arbeitgeberin beschäftigte eigene Fahrer und zog regelmäßig weitere Fahrer (sogenannte „Tourbegleiter“) heran, die sie als selbstständig behandelte und nicht zur Sozialversicherung anmeldete. Anlässlich einer Betriebsprüfung forderte ein Rentenversicherungsträger Sozialversicherungsbeiträge und Säumniszuschläge nach.
Klage
Gegen den Nachforderungsbescheid klagte die Arbeitgeberin vor dem Sozialgericht (SG) gegen die Festsetzung der Beiträge und Säumniszuschläge. Das SG wies die Klage ab. Im Berufungsverfahren hat der Rentenversicherungsträger die Forderung der Säumniszuschläge reduziert. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 30.08.2017 das erstinstanzliche Urteil geändert und die Bescheide des Rentenversicherungsträgers, was die Säumniszuschläge angeht, aufgehoben und die Berufung zurückgewiesen. Die für die Erhebung von Säumniszuschlägen für die Vergangenheit erforderliche vorsätzliche Unkenntnis von der Beitragszahlungspflicht sei nicht festzustellen.
Revision
Der beklagte Rentenversicherungsträger rügte mit der Revision die Verletzung des § 24 Abs. 2 SGB IV. Es gelte hier der Verschuldensmaßstab des § 276 BGB, so dass der Arbeitgeber für Vorsatz- und Fahrlässigkeit hafte. Die Arbeitgeberin hätte bezüglich der selbstständigen „Tourbegleiter“ kein Verfahren zur Feststellung der Sozialversicherungspflicht eingeleitet und damit jedenfalls fahrlässig gehandelt.
Entscheidung des BSG
Das BSG hat auf die Revision des beklagten Rentenversicherungsträgers das Urteil des LSG bezüglich der Säumniszuschläge aufgehoben. Folgt man der Entscheidung vom 12.12.2018, hat das BSG entschieden, dass Verschulden im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB IV wenigstens bedingten Vorsatz voraussetzt. Das folgt aus der Systematik des SGB IV und dem Zweck der Säumniszuschläge.
Abfuhr erteilt
Das BSG hat jetzt der bisherigen Auffassung der Rentenversicherungsträger eine deutliche Abfuhr erteilt und klargestellt, dass der Verschuldensmaßstab des § 24 Abs. 2 SGB IV nicht der des § 276 BGB ist, sondern vielmehr ein eigener sozialrechtlicher Verschuldensmaßstab gilt.
Verschulden im Sinne von § 24 Abs. 2 SGB IV
- setzt insbesondere aus systematischen Gründen –
- gerade mit Blick auf § 14 Abs. 2 SGB IV und § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV –
- zumindest bedingten Vorsatz hinsichtlich der Entstehung von Beitragspflicht voraus.
Einfache Fahrlässigkeit und selbst grobe Fahrlässigkeit genügen nicht. Die Richter haben damit die Rechtsauffassung der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung nicht bestätigt, dass Verschulden im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB IV mindestens grobe Fahrlässigkeit voraussetzt.
Bedingter Vorsatz
Von einem bedingten Vorsatz ist auszugehen, wenn ein Arbeitgeber die Nichtzahlung von Beiträgen demnach zumindest billigend in Kauf genommen hat.
- Das bedeutet, der Arbeitgeber hätte wissen müssen, dass Beiträge zu zahlen waren, oder das Nichtwissen resultierte aus der unterbliebenen Einholung von Auskünften
- oder Entscheidungen bei den Einzugsstellen (gesetzliche Krankenkassen) bzw. den Trägern der Rentenversicherung.
Zum Nachweis der bewussten Zuwiderhandlung (bedingter Vorsatz) muss das Vorliegen des inneren (subjektiven) Tatbestands anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls durch die Sachverhaltsaufklärung im Rahmen der Betriebsprüfung festgestellt werden (Amtsermittlungsgrundsatz).
Bestandskräftige Bescheide
Da im Sozialrecht grundsätzlich die Bestandskraft von Bescheiden mit Urteile durchbrochen werden kann, lohnt es sich zu prüfen, ob bisher erlassene Verwaltungsakte, aufgrund des oben erwähnten Urteils, noch nach § 44 SGB X (Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts) aufgehoben werden können, wenn Säumniszuschläge verlangt worden sind.
Auch wenn unanfechtbar
Betriebsprüfungsberichte können nach § 44 Abs. 1 SGB X zurückgenommen werden,
- wenn bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder
- von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist,
- und deshalb Beiträge, dazu gehören auch die Säumniszuschläge, zu Unrecht erhoben werden.
Danach kann der Bescheid auch zurückgenommen werden, wenn er unanfechtbar geworden ist.
Ausnahme
Der Bescheid kann nicht zurückgenommen werden, wenn der betroffene Arbeitgeber vorsätzlich falsche Angaben gemacht hat. Das ist hier in den meisten Fällen nicht der Fall.
Maximal vier Jahre zurück
Nach § 44 Abs. 4 SGB X können Betriebsprüfungsberichte längstens nur für vier Jahre zurückgenommen werden.
Praxishinweis
Das BSG hat jetzt bestätigt, dass das Recht in vielen Fällen unrichtig angewandt wurde. Fand in Ihrem Betrieb in den letzten vier Jahren eine Betriebsprüfung der Sozialversicherung statt und wurden neben Beiträgen auch Säumniszuschläge nachgefordert, sollten Sie beim zuständigen Rentenversicherungsträger unverzüglich einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X stellen. Verweisen Sie in der Begründung auf das BSG-Urteil vom 12.12.2018.