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Im Gespräch mit : Wegweisendes EuGH-Urteil zur ARBEITSZEITERFASSUNG

Markus MattMagazin
Lesezeit 6 Min.

Am 14. Mai hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein wegweisendes Urteil zur Kontrolle der vorgeschriebenen Höchstarbeitszeiten gefällt. Die Richter urteilten, dass die Arbeitgeber in jedem Mitgliedstaat verpflichtet werden müssen, ein System einzurichten, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Auf diese Weise sollen Verstöße gegen die jeweiligen nationalen Vorschriften zu den Arbeitszeiten zuverlässig erkannt werden. In Deutschland hat das Urteil kontroverse Debatten ausgelöst. Doch wohin führt der Weg – und was ändert sich wirklich für Arbeitgeber und Beschäftigte in unserem Land? Darüber sprachen wir mit Dr. Michaela Felisiak, Rechtsanwältin für Arbeitsrecht bei der Rechtsanwaltsgesellschaft BEITEN BURKHARDT und Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Entsendung bei DATAKONTEXT.

Frau Dr. Felisiak, das EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung hat hierzulande für teilweise helle Aufregung gesorgt. Ist das gerechtfertigt?

Nein. Dies ergibt sich aus zweierlei: Zum einen ist die Umsetzung bis jetzt vollkommen unklar und reine Spekulation. Zum anderen wird die Arbeitszeit in vielen großen Unternehmen ohnehin schon heute erfasst. Dies gilt insbesondere bei tarifgebundenen Unternehmen, bei denen die Dokumentation zur Erfassung der Überstunden notwendig ist. Auch gibt es viele Branchen, beispielsweise das produzierende Gewerbe, in denen es Jahreszeitkonten gibt. Auch hier werden bereits die Arbeitszeiten durch elektronische Erfassungssysteme beim Betreten und Verlassen der Betriebsstätte oder spätestens beim Einloggen in das IT-System erfasst. Insofern sind unter dem Strich nicht so viele Unternehmen von dem Urteil betroffen, wie man meinen könnte.

Wen betrifft dieses Urteil konkret in unserem Land?

Betroffen sind insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen, Startups und innovative Unternehmen, bei denen kreativ gearbeitet wird. Also Unternehmen ohne tarifliche Regelung, bei denen noch auf Selbstaufzeichnung bzw. Vertrauensarbeitszeit gesetzt wird.

Welchen inhaltlichen und zeitlichen Spielraum hat die Bundesregierung mit Blick auf die Vorgabe der nationalen Umsetzung dieses Urteils? Wird auch diese Suppe nur lauwarm gegessen, obwohl sie heiß gekocht wurde?

Zeitliche Vorgaben gibt es nicht. Ob und welche Auswirkungen das Urteil auf die bisherige Arbeitszeit-Praxis in Deutschland haben wird, ist noch nicht absehbar. Dies hängt in zeitlicher Hinsicht von den innenpolitischen Diskussionen ab. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kündigte unmittelbar nach dem Urteil an, bis Ende des Jahres 2019 Antworten auf Fragen beziehungsweise gesetzliche Regelungen gefunden zu haben. Dem hat Bundeswirtschaftsminister Altmaier jedoch widersprochen und angekündigt, das Urteil zunächst nicht umsetzen zu wollen, sondern den Handlungsbedarf erstmal zu prüfen. Inhaltlich müssen Mitgliedstaaten Arbeitgeber künftig verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten. Der EuGH lässt den Mitgliedstaaten jedoch Spielräume hinsichtlich der Umsetzung. Das heißt, es obliegt den Mitgliedstaaten, die konkreten Modalitäten zu bestimmen. Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs oder Eigenheiten wie die Größe bestimmter Unternehmen können daher berücksichtigt werden. Zudem wird es bereits jetzt bestehende Ausnahmen auch in Zukunft geben.

Blicke ich in andere EU-Staaten, so fällt mir auf, dass dieses Urteil für weitaus weniger Aufsehen sorgte, während bei uns sogar die renommierten Tageszeitungen wie die Süddeutsche Zeitung damit titelten. Ist die Arbeitszeiterfassung in anderen EU-Staaten gesetzlich anders geregelt als bei uns?

Das ist richtig. In anderen Ländern wie beispielsweise Österreich, Italien und der Schweiz gibt es bereits jetzt eine minutiöse Dokumentationspflicht, die in diesen Ländern – anders als bei uns – auch streng kontrolliert wird. Auch in Deutschland gibt es bereits eine Dokumentationspflicht – allerdings erst für Arbeitszeiten, die den Zeitraum von acht Stunden an Werktagen überschreiten oder auf Sonn- oder Feiertage fallen. Zwar droht bei Verstößen gegen die Dokumentationspflicht auch schon jetzt den Unternehmen eine Geldstrafe von bis zu 15.000 Euro. Jedoch erfolgt eine Kontrolle der Dokumentationspflichten in Deutschland nur in seltenen Fällen. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass das EuGH-Urteil gerade in Deutschland so kontrovers diskutiert wird.

Das Urteil soll die Einhaltung von Höchstarbeitszeiten und Ruhephasen sicherstellen, also die Arbeitnehmer schützen. Braucht es tatsächlich ein solches Gesetz, damit Beschäftigte weniger arbeiten? Geschieht dies nicht in vielen Fällen freiwillig?

Doch. Selbstverständlich gelten auch schon heute die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes und auch die Arbeitgeber, die bislang keine Arbeitszeiterfassung haben, achten auf die Einhaltung der geltenden Gesetze – vollkommen unabhängig von einer minutengenauen Aufzeichnungspflicht. Etwas anderes wäre mit dem Bewusstsein und den Forderungen nach einer Work-Life-Balance auch nicht vereinbar.

Künftig sollen also sämtliche Arbeitszeiten von entsprechenden Systemen zuverlässig erfasst werden. Bedeutet dies das Ende der Vertrauensarbeitszeit in deutschen Unternehmen?

Eine Frau mit blonden Haaren, gekleidet in einen dunklen Blazer, lächelt und blickt nach links. Sie sitzt vor einem blau-weißen abstrakten Hintergrund. Oben im Bild steht in grüner Schrift der Text „Dr. Michaela Felisiak“.

Nein. Vertrauensarbeitszeit meint nicht nur, dass die Arbeitgeber darauf vertrauen, dass der gesetzlich zulässige Umfang der werktäglichen Arbeitszeit von den Arbeitnehmern eingehalten wird. Vertrauensarbeitszeit meint auch, dass die Verteilung der Arbeitszeit den Arbeitnehmern überlassen wird. Diese Selbstbestimmung muss sich durch eine etwaige Dokumentationspflicht nicht ändern. D. h., selbst wenn die Arbeitszeit künftig dokumentiert wird, kann die Verteilung der Arbeitszeit weiterhin zur Disposition der Arbeitnehmer stehen. Allerdings würde eine minutengenaue Dokumentation dazu führen, dass die Regeln zur Erfassung der Arbeitszeit konkretisiert werden müssten, damit nur die tatsächlich effektive Arbeitszeit erfasst wird. Konkret bedeutet das, dass beispielsweise das System nicht in der Zeit weiterläuft, in der ich mir einen Kaffee hole oder privat telefoniere.

Auch nach dem offiziellen Feierabend von zuhause abgerufene geschäftliche Mails oder geführte geschäftliche Telefonate gehören zur Arbeitszeit und müssten künftig erfasst werden.

Ja, das ist richtig. Daher haben viele große Unternehmen bereits heute geregelt, dass abends Server abgestellt werden bzw. Datenströme unterbrochen werden – um gerade dies zu verhindern. Andernfalls würde bei jedem „Checken“ der E-Mails die gesetzlich vorgeschriebene elfstündige Ruhezeit unterbrochen werden. Dies würde dazu führen, dass die Mitarbeiter frühestens elf Stunden später die Arbeit wiederaufnehmen dürfen. Damit sind die Verstöße gegen die gesetzliche Ruhezeit quasi vorprogrammiert.

Technisch ist so etwas möglich, doch wie sieht das mit Blick auf den Datenschutz aus? Geraten wir hier nicht in eine Welt der Rundum-Überwachung unter dem Deckmantel der Rundum-Betreuung?

Der EuGH hat den Mitgliedstaaten die angesprochenen inhaltlichen Spielräume gelassen, wie die Arbeitszeit zu erfassen ist. Soweit eine Umsetzung in Deutschland erfolgt, ist davon auszugehen, dass Arbeitgebern mehrere Möglichkeiten überlassen werden. Der Gesetzgeber könnte beispielsweise die Einführung eines Systems verlangt, welches „in geeigneter Weise und auf Dauer nachweisbar die Arbeitszeiten erfasst“. Natürlich könnte dies elektronisch erfolgen. Wenn dies der Fall ist, müssen selbstverständlich die hohen Hürden des Datenschutzes beachtet werden. Probleme ergeben sich hierbei beispielsweise dann, wenn die Arbeitszeiterfassung über das Diensthandy erfolgen soll. Diensthandys dürfen oft auch privat genutzt werden. Denkt man nun aber daran, dass Handys heutzutage vielerlei personenbezogene Daten (Ortungsdienste, Bilder, private Nachrichten, Schlafanalysen etc.) sammeln, muss hier ein besonderes Augenmerk auf den Datenschutz gelegt werden.

Die Arbeitgeberseite beschwert sich, diese nun vorgegebene Regelung mit der Kompletterfassung aller Arbeitszeiten führte uns zurück in das 19. Jahrhundert und sei der Abschied von der neuzeitlichen Flexibilisierung des Arbeitslebens. Sehen Sie das auch so?

Der Bezug auf das 19. Jahrhundert ist hier wohl zu weit. Damals gab es 16- bis 18-Stunden-Tage. Das möchte wohl keiner wiederhaben. Zudem wird bereits heute in vielen Unternehmen die Arbeitszeit erfasst und gerade dort zeigt sich, dass sich Dokumentation einerseits und Flexibilisierung andererseits nicht ausschließen. Oft gibt es in diesen Unternehmen zahllose flexible Arbeitszeitmodelle (zum Beispiel Gleitzeit, mobiles Arbeiten, flexible Schichtmodelle), die mit Betriebsräten vereinbart werden. Probleme kann es jedoch geben, wenn sich die Betriebsräte querstellen. Eine elektronische Arbeitszeiterfassung erfordert in Unternehmen mit einem Betriebsrat dessen Beteiligung. Was passiert nun aber, wenn der Betriebsrat im Unternehmen mit extrem flexiblen Arbeitszeitmodellen – zu Gunsten der Arbeitnehmer – sich einer Regelung der Dokumentation verweigert? Wie soll eine Einigungsstelle entscheiden?

Abschließend Ihre Einschätzung zur konkreten Umsetzung des Urteils: Wird das noch in dieser Legislaturperiode geschehen?

Ich denke schon, dass eine Umsetzung noch in der laufenden Legislaturperiode geschieht. Das Interesse daran dürfte auf der konservativen Seite jedoch eher gering sein und wird nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stehen. Insoweit ist davon auszugehen, dass dies noch einige Zeit dauern wird.

Frau Dr. Felisiak, ich bedanke mich für dieses Gespräch.

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