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Blog „Entgelt & Co.“ – Altersdiskriminierung im digitalen Bewerbungsprozess : „Aussortiert, bevor ich überhaupt eine Chance hatte?“

Automatisierte Bewerbungsverfahren, schnelle Absagen, fehlende Transparenz – ich lese in letzter Zeit immer häufiger von Bewerbern, die unmittelbar nach dem Einreichen ihrer Unterlagen eine Absage erhalten. Nicht nach Tagen oder Wochen, sondern innerhalb weniger Stunden – manchmal sogar Minuten.

Lesezeit 3 Min.
Eine lächelnde Person hält eine Karte mit der Aufschrift „lohn+gehalt“ hoch, die Humanressourcen symbolisiert.

Und je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, desto deutlicher wird mir: Besonders Menschen über 40 sind von diesem Trend betroffen.

Was früher still und oft kaum greifbar am Rande stattfand – eine unausgesprochene Altersdiskriminierung –, scheint sich heute mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in Bewerbungsverfahren zu einem systematischen Ausschluss entwickelt zu haben.

Wenn Erfahrung plötzlich nichts mehr wert ist

Ich frage mich, wie es sein kann, dass Berufserfahrung, soziale Intelligenz und Lebenskompetenz, die man sich über Jahrzehnte aufgebaut hat, plötzlich nicht mehr gefragt sind. Stattdessen zählt in automatisierten Bewerbungsprozessen oft nur das perfekte Datenprofil: jung, technikaffin, mobil, möglichst lückenlos weitergebildet.

Ich lese von Fällen, in denen Bewerber mit jahrzehntelanger Erfahrung nicht einmal bis zum Vorstellungsgespräch kommen – weil sie in der ersten Filterrunde von einem System ausgesiebt werden. Und ich frage mich: Ist das die Zukunft?

KI ist nicht neutral – sie lernt aus alten Denkmustern

Ich habe mich intensiv damit beschäftigt, wie künstliche Intelligenz in HR-Systemen eingesetzt wird. Dabei wird deutlich: KI entscheidet nicht „neutral“ – sie verarbeitet Muster aus der Vergangenheit. Und wenn diese Muster zeigen, dass jüngere Bewerber häufiger eingestellt wurden, dann lernt die KI: „jung = gut“.

Das heißt nicht, dass jemand bewusst diskriminiert wird – aber das Ergebnis ist dasselbe: Erfahrene Bewerber werden aussortiert, ohne dass ein Mensch überhaupt hinsieht. Die Diskriminierung wird nicht nur reproduziert, sie wird automatisiert – und damit für die Betroffenen besonders frustrierend, weil sie intransparent ist und kaum angreifbar.

Scheinbewerbungen, Scheinchancen

Noch etwas finde ich bedenklich: Ich stoße zunehmend auf Berichte von Stellen, die gar nicht zu besetzen waren – wo Bewerber Bewerbungsgespräche führen, teilweise sogar Verträge unterschreiben, nur um am Ende eine Absage zu bekommen mit dem Hinweis auf einen „Einstellungsstopp“ oder interne Änderungen.

Ich stelle mir vor, wie bitter das ist: sich zu freuen, Pläne zu machen – und dann doch vor dem Nichts zu stehen. Für mich ist das nicht nur unprofessionell, sondern ein Vertrauensbruch, der langfristig das Bild vom Arbeitsmarkt massiv beschädigt.

Deutschland diskutiert – aber bewegt sich kaum

Ich habe gesehen, dass es politische Initiativen gibt: Im Jahr 2023 haben das Bundesinnen- und das Arbeitsministerium ein Eckpunktepapier zum Beschäftigtendatenschutz veröffentlicht. Darin geht es unter anderem um den Einsatz von KI in Bewerbungsverfahren – ein wichtiges Thema, das endlich Beachtung findet.

Aber mir fehlt der nächste Schritt. Konkrete Regeln, klare Verbote, echte Transparenzpflichten. Es darf nicht sein, dass Systeme über die berufliche Zukunft entscheiden, ohne dass die Betroffenen wissen, wie und warum.

Gerade im Kontext des demografischen Wandels muss gelten: Wer arbeiten kann und will, muss auch faire Chancen erhalten.

Qualifiziert, aber aussortiert

Ich lese immer wieder Kommentare von Betroffenen, die genau das beschreiben, was ich befürchte: „Ich bin 55, qualifiziert – erhalte aber keine Einladungen mehr.“ Oder: „Früher war ich mit vier Kindern angeblich nicht flexibel genug – heute bin ich einfach zu alt.“

Das ist für mich ein klarer Widerspruch zur politischen Realität: Auf der einen Seite wird das Rentenalter hochgesetzt, auf der anderen Seite erleben viele ab Mitte 40 bereits den schleichenden Ausschluss vom Arbeitsmarkt. Wie soll das zusammenpassen?

Es wirkt, als hätte man auf der einen Seite das Idealbild vom „fitten 67-Jährigen im Büro“ – und auf der anderen Seite ein System, das diesen Menschen gar nicht mehr mitdenkt.

Es geht nicht nur um Technik – sondern um Haltung

Ich bin überzeugt: Technik ist nicht das Problem. KI kann helfen, Prozesse zu beschleunigen und zu standardisieren. Aber wir müssen kritisch hinterfragen, welche Kriterien wir in diese Systeme einspeisen – und wer davon profitiert.

Was wir brauchen, ist ein echter Kulturwandel: weg von altersfixierten Idealprofilen, hin zu einer werteorientierten Personalauswahl. Nicht das Geburtsdatum sollte über eine Einladung entscheiden, sondern die Persönlichkeit, die Motivation, das Können.

Mein Fazit: Digitalisierung muss dem Menschen dienen – nicht umgekehrt. Ich wünsche mir eine Arbeitswelt, in der Vielfalt wirklich gewollt ist – nicht nur auf dem Papier. Eine Welt, in der Erfahrung nicht als Ballast gilt, sondern als Ressource. Und eine Digitalisierung, die nicht nur effizient, sondern auch gerecht ist.

Denn am Ende geht es nicht um Algorithmen, Daten oder Matching-Quoten – es geht um Menschen. Um Lebenszeit. Um Würde.

Janette Rosenberg

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