Wie krank sind wir wirklich?
Die Diskussion über den Krankenstand in Deutschland und die Frage, ob Arbeitnehmer sich zu schnell krankmelden, ist nicht neu. Doch in den letzten Jahren hat sie deutlich an Schärfe gewonnen, besonders angesichts wirtschaftlicher Herausforderungen und politischer Debatten. Aber wie realistisch ist das Bild, das hier gezeichnet wird? Sind wir wirklich „Weltmeister im Krankmelden“ oder gibt es andere Faktoren, die berücksichtigt werden müssen?
Ein zentraler Punkt, der den Anstieg der Krankenstände erklärt, ist die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). Diese sorgt dafür, dass Krankmeldungen mittlerweile zu 100 Prozent erfasst werden, während früher viele Bescheinigungen gar nicht bei den Krankenkassen landeten. Dadurch ist die Statistik präziser, was jedoch gleichzeitig den Anschein erweckt, dass die Zahlen gestiegen sind. Studien des ZEW (Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung) und der DAK bestätigen diesen Effekt.
Eine weitere Entwicklung ist die zunehmende Nutzung von Telekliniken und Online-Diensten für Krankschreibungen. Diese ermöglichen es, sich ohne den Gang zum Arzt krankzumelden, was besonders in ländlichen Regionen von Vorteil ist, wo der Mangel an Hausärzten immer deutlicher wird. Doch viele Arbeitgeber stehen dieser Entwicklung skeptisch gegenüber und befürchten, dass die Hemmschwelle für Krankmeldungen dadurch sinkt. Gleichzeitig sind Arbeitgeber oft machtlos gegenüber diesen Krankschreibungen, da sie rechtlich bindend sind.
Mehr Erkrankungen durch Stress und Infektionen

Neben der verbesserten Erfassung tragen auch andere Faktoren zum gestiegenen Krankenstand bei. Dazu gehören verstärkte Erkältungswellen, ggf. Nachwirkungen der Corona-Pandemie, und eine deutliche Zunahme psychischer Erkrankungen. Stress, Arbeitsverdichtung und Digitalisierung führen in vielen Betrieben zu höherer Belastung. Diese strukturellen Probleme werden oft übersehen, wenn die Debatte auf vermeintliches „Blaumachen“ reduziert wird.
Viele Erkrankungen haben tiefergehende Ursachen: Überlastung, schlechte Arbeitsbedingungen oder eine mangelhafte Work-Life-Balance können die Gesundheit stark beeinträchtigen.
Arbeitgeber sollten hier ansetzen und präventive Maßnahmen ergreifen, um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu fördern. Ein betriebliches Gesundheitsmanagement, flexible Arbeitszeiten oder die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, können helfen, Erkrankungen vorzubeugen.
Ist der Karenztag die Lösung?
Die Forderung nach einem Karenztag, also dem Verzicht auf Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag, wird von einigen als Lösung präsentiert. Auch Schweden, Spanien und Griechenland haben ähnliche Regelungen und argumentieren, dass solche Maßnahmen den verantwortungsvollen Umgang mit Krankmeldungen fördern können. Befürworter wie der Allianz-Chef Oliver Bäte sehen darin einen Weg, die Kosten für Unternehmen zu senken, die sowohl den Lohn kranker Arbeitnehmer als auch Ersatzkräfte finanzieren müssen. Gleichzeitig soll so Missbrauch verhindert werden. Doch die Kritik daran ist breit gefächert: Gewerkschaften, sozialpolitische Organisationen und sogar Teile der Wirtschaft warnen vor den Folgen.
Schweden: Ein Vorbild?
Schweden ist oft ein Beispiel für den Umgang mit Karenztagen. Dort zahlen Arbeitnehmer den ersten Krankheitstag selbst, was zu einem bewussteren Umgang mit Krankmeldungen führen soll. Allerdings ist dieses System eingebettet in ein umfassendes Sozial- und Gesundheitssystem, das die Belastung für die Beschäftigten abfedert. Kritiker warnen jedoch, dass diese Idee in Deutschland, ohne vergleichbare soziale Absicherungen, zu einer höheren Belastung der Arbeitnehmer führen könnte. Die Erfahrungen zeigen, dass solche Maßnahmen langfristig nur erfolgreich sind, wenn sie durch Prävention und bessere Arbeitsbedingungen ergänzt werden.
Verantwortung der Arbeitgeber

Arbeitgeber tragen eine wesentliche Verantwortung für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Statt Krankheit als individuelles Problem zu betrachten, sollten sie die strukturellen Ursachen angehen. Das bedeutet: bessere Arbeitsbedingungen, transparente Kommunikationskultur und Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz.
Besonders in Regionen mit Ärztemangel, wo der Zugang zur medizinischen Versorgung eingeschränkt ist, wird deutlich, dass Unternehmen sich stärker um das Wohlbefinden ihrer Belegschaft kümmern müssen. Der Mangel an Hausärzten wird durch geringe Honorierung und unattraktive Arbeitsbedingungen in ländlichen Gebieten zusätzlich verschärft.
Krankmelden: Verantwortung statt Vorwurf
Es ist wichtig, dass sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber ihre Verantwortung wahrnehmen. Beschäftigte sollten sich nicht gezwungen fühlen, krank zur Arbeit zu erscheinen, nur um Vorwürfen aus dem Weg zu gehen. Gleichzeitig müssen Unternehmen erkennen, dass Krankheit keine Schwäche, sondern ein natürlicher Teil des Lebens ist. Kurzfristige Ausfälle sind besser zu verkraften als langfristige Schäden durch verschleppte Krankheiten.
Fazit
Die aktuelle Debatte über den Krankenstand in Deutschland zeigt, wie leicht komplexe Zusammenhänge auf einfache Schuldzuweisungen reduziert werden können. Statt Menschen unter Generalverdacht zu stellen oder soziale Errungenschaften wie die Lohnfortzahlung infrage zu stellen, sollten wir uns auf die Ursachen konzentrieren: bessere Arbeitsbedingungen, Prävention und ein stärkeres Bewusstsein für die Gesundheit aller Beteiligten. Schweden mag in Teilen als Vorbild dienen, doch nur ein ganzheitlicher Ansatz wird der komplexen Realität gerecht. Denn letztlich profitieren Unternehmen und Gesellschaft nur, wenn wir gesund und leistungsfähig bleiben.
Janette Rosenberg