Offener Brief
Liebes Homeoffice,
wir müssen reden! Schon seit vielen Jahren habe ich Dich verehrt – aus der Ferne, und ohne Dich wirklich zu kennen. Dann ist es passiert – wir kamen ganz plötzlich zusammen, ein Fräulein Corona hat uns verkuppelt. Spontan und ohne jede Vorwarnung, von heute auf morgen waren wir zusammen. Meine große Liebe schien sich zu erfüllen. Es fing ja auch toll an: keine Fahrzeiten mehr ins Büro; arbeiten, wann ich wollte; nervige Kollegen auf Distanz – super!
Aber wie in so vielen Beziehungen trug der Alltag sehr schnell zur Entzauberung bei. Mein liebes Homeoffice, Du schaffst mich! Ich leide körperliche Schmerzen! Wir müssen an unserer Zusammenarbeit etwas ändern – der Küchenstuhl und der kleine Bildschirm meines Tablets führen zu Verspannungen, Kopf- und Rückenschmerzen. Der Bewegungsmangel setzt mir zu. Und erst meine Psyche! Gefühle der Vereinsamung stellen sich ein – Du bist so fordernd mit Deinem Absolutismus: Es darf niemanden neben Dir geben. Ich bin gestresst, weil Du mich immer wieder forderst – Mails am Abend oder am Wochenende, Videokonferenzen den ganzen Tag und oft auch spätabends. Wir sind nur noch zusammen, keinerlei Abstand, kein eigenes Leben mehr.
So geht es nicht weiter, wir müssen etwas ändern. Wie wäre es mit einer regelmäßigen Beziehungspause? So an zwei bis drei Tagen die Woche? Ich könnte wieder andere Menschen treffen – so ganz in echt. Mir fehlt das! Inzwischen würde ich mich sogar freuen, den einen oder anderen der nervigen Kollegen wiederzusehen. Der kleine Plausch an der Kaffeemaschine oder am Kopierer – das geht mit Dir nicht. Auch wenn es Dir vielleicht weh tut: Nur digital ist unsozial.
Und für meine körperliche Gesundheit müssen wir auch etwas tun. Da kann uns vielleicht mein Chef helfen. Ein vernünftiger Bürostuhl für zu Hause und vielleicht ein externer großer Bildschirm; Tastatur und Maus statt Touchpad würden unserer Beziehung sicherlich auch guttun. Wir sollten ihn mal fragen.
Nun sei bitte nicht gleich beleidigt – wir hatten ja auch viele schöne gemeinsame Erlebnisse. Der Chef mit Krawatte, aber in Unterhosen – zu blöd, die Kamera rechtzeitig auszuschalten. Und von vielen meiner Kollegen kennen wir jetzt die Kinder und die Haustiere, wissen, wie sie eingerichtet sind. Erinnerst Du Dich an Karl-Georg? So viel schmutziges Geschirr habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Er hatte geglaubt, bei Teams einen anderen Hintergrund aktiviert zu haben – hatte aber nicht geklappt! Oder Linda? Da sahen wir noch am Nachmittag das zerwühlte Bett im Hintergrund – na ja, sie hat ja nur eine Ein-Zimmer-Wohnung. Und dann lief noch ihr Lover fast nackt durchs Bild – herrlich!
All das möchte ich gar nicht missen, aber zu viel des Guten ist nicht mehr gut. Also lass uns einen Plan machen. Das Fräulein Corona wird auch nicht ewig leben und dann sollten wir vorbereitet sein – auf eine schöne gemeinsame Zukunft, die keinen von uns überfordert.
Lass es uns versuchen!
Dein Felix (der Glückliche)