Offener Brief
Ich habe jetzt eine Chefin!
Vor einigen Monaten bekamen wir einen neuen Chef – oder besser gesagt: eine Chefin! Nicht männlich, weiblich, divers, sondern echt weiblich. Das hat mein Leben total umgekrempelt. Wir hatten bis dahin eine reine Männerrunde. Unser Chef ließ uns in Ruhe arbeiten (nicht gemeckert ist genug gelobt), machte klare Ansagen, was wir wie zu tun hatten – und alle waren zufrieden.
Und dann kam SIE! Gut, die Vorstellungsrede hatte ich noch abgehakt. Teamgeist, Eigenverantwortlichkeit, motivierte Mitarbeiter, offenes Ohr, offene Tür … So was hatte unser alter Chef in Sonntagsreden auch immer abgesondert. Lernt man wohl auf Führungsseminaren – die Wirklichkeit sah dann anders aus (siehe oben).
Aber dann kamen die ersten Arbeitsaufträge von der Neuen! Völlig unkonkret! Viel Spielraum für Interpretationen. Plötzlich sollte ich selbst Entscheidungen treffen, mir Gedanken machen – eine Unverschämtheit! Dafür werde ich nicht bezahlt! Oder vielleicht doch?
In die ersten Gespräche mit der neuen Chefin ging ich natürlich mit negativer Grundeinstellung – was sie schnell gemerkt hat. Statt es dabei zu belassen und mir klare Aufträge zu erteilen, wollte sie meine Vorbehalte thematisieren! Über meine Ängste und Befürchtungen sprechen – ich glaubte zu spinnen! Aber sie ließ einfach nicht locker. Klare Anweisungen? Fehlanzeige! Hilfe zur Selbsthilfe, würde sie mir immer gern geben, aber entscheiden und verantworten sollte ich das dann schon selbst.
Na ja, nachdem ich den ersten Kulturschock verarbeitet hatte, begann mir die neue Arbeitsweise sogar zu gefallen. Plötzlich konnte ich eigene Ideen entwickeln und umsetzen. Ob Sie es glauben oder nicht: Die Arbeit fing an, mir Spaß zu machen. Und ich merkte, dass es den Kollegen genauso ging. Unsere Teambesprechungen wurden lebendiger, kreativer – ich freute mich richtig darauf (früher waren sie der Horror oder zumindest völlig überflüssig gewesen, weshalb sie auch oft ausgefallen sind). Das war jetzt anders: Struktur, stringente Agenda, jeder kommt zu Wort, jeder wird explizit nach seiner Meinung gefragt – da muss man sich erst einmal dran gewöhnen!
Aber jetzt – einfach super! Dann habe ich mal ein wenig recherchiert. Was Frauen als Führungskräfte eigentlich anders machen – und fand fast alles wieder, was meine Chefin (haben Sie gemerkt – ich habe nicht mehr von meiner „neuen“ Chefin gesprochen) so macht. Viel Empathie, Vertrauen, offene Kommunikation, wertschätzendes Feedback und vieles mehr. Außerdem habe ich gelesen, dass man nach Lob süchtig werden kann und damit seine Motivation enorm steigert. Ich bekenne: Ich bin süchtig – nach Lob von meiner Chefin. Dafür tue ich fast alles.
Sogar meine Frau hat die Veränderung bemerkt. Zuerst war sie misstrauisch – sie meinte, da würde wohl eine andere Frau dahinterstecken. Na ja, so ganz falsch liegt sie damit ja nicht – aber nicht wie Sie jetzt denken! Denn was ich noch gar nicht erwähnt habe: Meine Chefin ist zwanzig Jahre jünger als ich – könnte also glatt meine Tochter sein. Aber sie macht ihren Job wirklich großartig, wäre sie meine Tochter, ich wäre stolz auf sie.
Jetzt habe ich eben zwei Chefinnen – eine zu Hause, eine im Job. Kann ich gut mit leben.
In diesem Sinne – frohes Schaffen!
Herzlichst, Ihr Felix, der Glückliche