Lebenslauf neu lesen : Einen mutigeren Blick auf Bewerber wagen
Wer jemand Stromlinienförmiges sucht, der bekommt wahrscheinlich genau das! Nicht nur im Ausbildungsbereich stehen viele offene Stellen den Bewerbern gegenüber — dazwischen die gähnende Kluft „Fachkräftemangel“. Sind es wirklich das Stellenprofil, der Jobsuchende und die Umstände, die nicht kompatibel sind? Welche Lesarten und kreativen Ansätze und Gedanken es geben kann, zeigen zwei Interviews aus sehr unterschiedlichen Bereichen: Sabine Edle von Schickh, Inhaberin und Geschäftsführerin in der Werbebranche, und Marion Prasse, Personalchefin im einem IT-Unternehmen Brandmaker, zeigen ihre spannende Sichtweise und den anderen Blick auf den Lebenslauf.

- Was heißt für Sie Fachkräftemangel und wie wirkt sich das Thema auf Ihre Branche aus? Was ist die größte Herausforderung bei der Personalgewinnung?
Der Markt scheint mir voll von Pseudo-Fachkräften. Werbung ist noch immer für viele junge Menschen hip, viele fühlen sich berufen, weil sie schon in der Schule so gerne gezeichnet oder irgendeinen Geburtstag organisiert haben. Es gibt viele neue Berufszweige und Akademien, die in Turbozeit Absolventen mit tollen Titeln hervorbringen, Talent oder keines, das ist da nicht die Frage. Wir haben deshalb in unserer Branche in der Summe nicht weniger Bewerber — aber immer mehr lieblose ratzfatz per Mail verschickte Unterlagen.
Oder Bewerbungen, die einen regelrecht ins Staunen versetzen und bei denen man genau sondieren muss: Präsentiert der Bewerber wirklich sein geistiges Eigentum oder hat er zum Schluss nur ein paar Bilder in ein fertiges Konzept eingefügt?
- Alle sprechen von Digitalisierung, Technisierung und Automatisierung der Arbeitswelt. Welche Soft Skills werden Ihrer Meinung vielleicht noch wichtiger werden, als sie es jetzt schon sind?
Die Digitalisierung ist eine Riesenchance, ein Prozessbeschleuniger und Arbeitserleichterer. Vor 25 Jahren musste man noch mit Diskette zur Druckerei fahren oder Daten per ftp hochladen und das Ganze ist x-mal abgestürzt … Es bleiben heute vermehrt kreative und konzeptionelle Aufgaben übrig, die Spaß machen und bei denen man den Kopf einschalten muss. Fundiertes Fachwissen ist dabei unabdinglich, aber ohne soziale Kompetenz und Empathie für uns wertlos. Das Mitdenken und Entscheiden, wann heilige Kühe geschlachtet werden müssen, das Kämpfen um die beste Idee und das Kommunizieren nach innen und außen, das nimmt einem die Technik nicht ab.
- Was macht für Sie einen attraktiven potenziellen neuen Mitarbeiter aus?
Er muss mich begeistern und dazu muss er nicht meiner Meinung sein und auch nicht seine ganzen Projekte runterrattern. Ab dem Moment, wenn er die Agentur betritt, muss ich ihn wahrnehmen und merken, der hat was. Sie glauben gar nicht, wie groß manchmal die Diskrepanz zwischen Bewerbung und Auftritt eines potenziellen neuen Mitarbeiters ist.
- Braucht es „den roten Faden“ nach wie vor und wie gehen Sie mit Brüchen in der Biografie um?
Mittlerweile weiß jeder Bewerber, dass Lücken im Lebenslauf schlecht aussehen. Ich finde, das kommt immer darauf an. Eine schnurgerade Biografie ist mir viel unheimlicher. Ich liebe Multigrafien und die Menschen dahinter, die neben ihrer Profession, nicht nur einfach Hobbies angeben, wie man das früher bei Brieffreundschaften machte, à la schwimmen, Fahrrad fahren, lesen, sondern Typen, die sich auf Neues einlassen und sich ihrem Schicksal nicht einfach ergeben. Ein Lebenslauf, der perfekt „matched“ ist kein Garant für Kreativität und Geist. Die besten Mitarbeiter waren bisher immer die, die eigentlich nicht perfekt auf die Stelle gepasst haben. Komisch, aber wahr.
- Was wird Ihrer Meinung nach die größte Veränderung werden, die noch mehr Kreativität beim Recruiting erfordert?
Die neuen Medien und Kanäle geben einem das Gefühl, überall und jederzeit erreichbar und sichtbar zu sein. Die klassische Anzeige „Wir suchen, Sie bieten“ ist out. Als Agentur muss man ein einheitliches Bild auf allen Ebenen abgeben, sonst ist es mit der Glaubwürdigkeit dahin. Statt dem Angebot von Kicker, Billard und anderen kreativen Verlockungen leben wir in der Agentur New Work und geben jedem Mitarbeiter den Raum und die Zeit, in der er gerne arbeiten möchte, Team-Meetings bleiben Pflichtveranstaltungen — so gibt´s die besten Ergebnisse, das spüren auch die Kunden.

- Was heißt für Sie Fachkräftemangel und wie wirkt sich das Thema auf Ihre Branche aus? Was ist die größte Herausforderung bei der Personalgewinnung?
Fachkräftemangel bedeutet für uns als IT-Unternehmen die zunehmende Schwierigkeit, passende Kandidaten für unsere Vakanzen zu finden. Besonders in den technischen Sparten, wie z. B. Softwareentwicklung oder Systemadministration, bekommen wir über die klassischen Recruitingkanäle (Stellenanzeigen Print/ Online) nur wenig Rücklauf. Aber auch in anderen Bereichen, wie z. B. Produktmanagement oder Consulting, ist ein deutlicher Rückgang der Bewerbungseingänge zu verzeichnen.
Trotzdem müssen offene Positionen zeitnah besetzt werden. Deshalb sind wir dazu übergegangen, Active Sourcing z. B. in beruflichen Netzwerken zu nutzen. Ebenfalls erfolgreich funktioniert unser „Mitarbeiter-werben-Mitarbeiter“-Programm. D. h. die Kollegen erhalten eine Prämie, wenn es aufgrund ihrer Empfehlung zu einer Neueinstellung kommt.
- Alle sprechen von Digitalisierung, Technisierung und Automatisierung der Arbeitswelt. Welche Soft Skills werden Ihrer Meinung vielleicht noch wichtiger werden, als sie es jetzt schon sind?
Verschärfter Wettbewerb und immer schnellere Änderungen der Kundenwünsche stellen Unternehmen vor enormen Herausfor derungen (VUCA-Welt). D. h. Unternehmen und somit auch die Mitarbeiter müssen lernen, mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität umzugehen. Soft Skills, die dabei unterstützend wirken, sind z. B. systemisches Denken und Handeln, Neugierde (Curiosity), agiles Mindset, aber auch die Fähigkeit, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit (Collaboration) zu gestalten. Letzteres wird vor allem geprägt durch besondere Formen der Kommunikation und des Zuhörens.
- Was macht für Sie einen attraktiven potenziellen neuen Mitarbeiter aus?
Neben den oben erwähnten Eigenschaften lege ich Wert auf eine positive Einstellung, Selbstverantwortung, Leidenschaft und Lernbereitschaft. Besonders attraktiv wird ein Kandidat, wenn er oder sie Freude daran hat, die Organisation noch besser zu machen, und unsere internen wie externen Kunden begeistern möchte.
- Braucht es „den roten Faden“ nach wie vor und wie gehen Sie mit Brüchen in der Biografie um?
Ein Lebenslauf mit Brüchen ist für mich kein K.-o.-Kriterium. Vielmehr interessiert mich, wie der Kandidat mit den sogenannten Brüchen in der Biografie umgegangen ist, was er daraus gelernt hat und welcher Mehrwert möglicherweise daraus entstanden ist. Ebenfalls interessieren mich die Motive der Entscheidung, also warum sich der Kandidat für das eine und gegen das andere entschieden hat.
- Was wird Ihrer Meinung nach die größte Veränderung werden, die noch mehr Kreativität beim Recruiting erfordert?
Mit Blick auf die demographische Entwicklung wird sich der „War for Talents“ in den nächsten Jahren sehr wahrscheinlich noch verschärfen. Hinzu kommt, dass die nachwachsenden Generationen eine andere Einstellung zum Berufsleben mitbringen als z. B. die geburtenstarken Babyboomer (1946 und 1964). Bspw. steigt der Wunsch nach Selbstverwirklichung und WorkLife-Balance. Für uns als Unternehmen heißt dies, eine Kultur zu entwickeln, die die Identifikation mit dem Unternehmen fördert und in der es Spaß macht, exzellente Leistungen zu erbringen. Gleichzeitig bieten wir den Mitarbeitern Rahmenbedingungen wie faire Vergütung, Freiräume und stärken, die Zufriedenheit und den Zusammenhalt der Mitarbeiter. Aus Recruitersicht reduzieren wir durch eine geringere Fluktuation den Recruitierungsaufwand und erzeugen gleichzeitig durch die Arbeitgeberattraktivität eine Sogwirkung für neue Bewerber.
