Interview : Endlich Zeit für die Delete-Strategie?
Es klingt fast zu schön, um wahr zu werden: Wir gewinnen arbeitstechnisch umso mehr, indem wir bewusst Dinge weglassen. Vielleicht heißt es in Zukunft sogar noch viel häufiger: „Einfach mal löschen!“ Geht das, darf man so etwas? Sind tatsächlich die wahren New-Work-Heros von morgen viel wahrscheinlicher diejenigen, die nicht unbedingt Tausend Dinge auf einmal tun und erst recht nicht immer alles im Blick haben?
Bezüglich Freizeit haben wir bereits eine eigene Bezeichnung für die Angst, etwas zu verpassen. Der Begriff dafür lautet „Fear of missing out“ (kurz: FOMO) und wird im Cambridge Dictionary beschrieben als: „das unbehagliche Gefühl, dass man spannende Events verpassen könnte, an denen andere Leute teilnehmen, oft hervorgerufen durch Beiträge auf Social-Media-Kanälen“. Das zieht auch weitere Kreise: Eltern, Kinderärzte und Kinderpsychologen äußern besorgte Vermutungen über die Auswirkungen der Smartphones auf die jüngere Generation Z. Diese lehnt Arbeitsverhältnisse und Ausbildungsplätze ab, bei denen die Handynutzung während der Arbeitszeit verboten ist.
Wenn das Verpassen ganz allgemein schon so große Furcht auslöst, wo es nur um „Spaß“ geht, wie kann oder soll das Weglassen von Informationen im Arbeitsumfeld für uns sogar oder auch trotzdem zu einer enormen Erleichterung werden? Warum gerade die Delete-Strategie eine wegweisende Richtung ist und sie gleichzeitig dafür sorgt, dass viele wertvolle Ressourcen freigesetzt werden, dazu beantwortet Martin Gaedt, Autor, Keynote-Speaker und Unternehmer, drei spannende Fragen. Kann es sogar sein, dass wir hier nicht nur über ganz gute und gewinnbringende Möglichkeiten, sondern sogar über echte Notwendigkeiten reden?
Einfach mal löschen?
Herr Gaedt, wer etwas weg- oder auslässt, der möchte sich bei der Arbeit doch trotzdem ganz sicher sein, nichts falsch zu machen oder gar einen Schaden anzurichten. Wie kann man trotz des neuen Muts zur Lücke sicherstellen, dass wirtschaftlich und organisatorisch wesentliche Informationen oder rechtlich relevante Belange nicht auf folgenreiche Art und Weise unter- oder verlorengehen?
Die Frage skizziert eindrücklich den Kern des Problems. Um nichts falsch zu machen, halten wir alles fest. Und FOMO zeigt unsere Neugier wie auch Ängste des Verpassens. Im Ergebnis erleben immer mehr Menschen im Beruf ein Zu-viel-von-allem, zu viele Tools, Apps, Aufgaben, Projekte, Events, Informationen, Meetings. Die permanente Beschäftigung verhindert dabei konzentrierte, sinnvolle und wertschöpfende Arbeitsergebnisse.
In einer globalisierten Welt im schnellen Wandel hat das Festhalten keinen Wert. Wertvolle Informationen und Tätigkeiten werden viel schneller entwertet als früher. Wer hingegen regelmäßig prüft, welche Aufgaben aktuell überhaupt noch wertvoll sind, kann sich auf echte Wertschöpfung fokussieren. Zukünftig ist die wertvollste Frage: Welche alte Aufgabe, Anforderung, welches Tool oder Projekt lassen wir weg?
Martin Gaedt ist Mehrfachgründer
und fünffacher Autor: „Smart
arbeiten mit der Delete-Strategie“,
„4-Tage-Woche“, „Rock Your Idea“,
„Rock Your Work“ und „Mythos
Fachkräftemangel“
Konkrete Beispiele: Die Firma Shopify hat eine Google-Chrome-Erweiterung entwickelt. Wird zu einem Meeting eingeladen, werden dazu direkt die Kosten anzeigt. Seitdem finden nur noch wertvolle Meetings statt. Pro Jahr werden 322.000 Stunden in Meetings eingespart, die nun für wertschöpfende Tätigkeiten eingesetzt werden.
In einer Steuerkanzlei klingelt drei Stunden pro Tag kein Telefon. Außerdem werden E-Mails intern nur zweimal pro Tag zugestellt. Statt vom Team zu erwarten, sich nicht von jeder E-Mail ablenken zu lassen, wird die Struktur für alle angepasst. Die Mitarbeitenden arbeiten jetzt stressfreier und fokussierter. Messbar ist das auch, denn in 34 Stunden pro Woche wird heute mehr Arbeit erledigt als zuvor in 40 Stunden. Ständige Erreichbarkeit brauchen die Feuerwehr und die Polizei, die meisten Büros nicht.
Ein Hotel hat die Arbeitszeit von 40 auf 36 Stunden reduziert bei vollem Lohn. Das Hotel hat die Crew entlastet. Seitdem sind die Bewertungen von den Gästen des Hotels deutlich besser als vorher. Die Gäste erleben einen besseren Service. 1.400 bessere Bewertungen bringen mehr Gäste, mehr Umsatz und mehr Bewerbungen. Attraktive Arbeitgeber entlasten, das spricht sich herum.
Ein Arbeitsbeginn um 3 Uhr morgens ist für viele Menschen unattraktiv. Immer mehr Bäckereien backen erst ab 6 Uhr und öffnen später. Es kommen viel mehr Bewerbungen, und die Kunden kaufen weiterhin, weil es lecker schmeckt.
Wie wir arbeiten, ist kein Naturgesetz. Überlastung und Krankheiten, die durch ungesunde Arbeit entstehen, sollten wir uns nicht mehr leisten, sondern löschen, entmüllen, streichen und weglassen. Das verbessert Arbeit. Schaffen wir Platz für die nächste, bessere Version gesunder und smarter Arbeit. Die Kernfrage lautet: Was können wir weglassen? Das setzt Zeit, Energie und Leistung frei.
Weniger ist smart?
Es wird immer mehr dafür plädiert, dass Arbeit nicht an geleisteter Zeit gemessen werden soll. Trotzdem dominiert immer noch das Bild, dass Menschen, die einen hohen Workload und viele Termine haben, leistungsfähig(er), fleißig(er) und dadurch sogar erfolgreich(er) seien. Gepaart wird das zusätzlich mit einem in den sozialen Medien zur Schau getragenen Selbstoptimierungswahn, wo die „Besten“ sich daran messen und ergötzen, uns ihren täglicher Mega-Masterplan unter die Nase zu reiben. Ihr vollgepacktes und nach außen durchgestyltes (Arbeits-) Leben verkaufen sie uns als „gesund“.
Wie und warum passt angesichts solcher Trends gerade das „Weglassen“ ganz besonders in unsere heutige Zeit? Denn die smarte Form der Entlastung soll ja vor allem unbedingt eine Überlastung verhindern. Aber wie trainiert man das eigentlich und wendet es dann richtig und nachhaltig an?
Ein wichtiger Punkt. Das dominierende Bild zeigt Erfolg durch hohen Workload und viele Termine. Genau dieses Bild braucht Alternativen. Im Leistungssport weiß man längst, dass Höchstleistungen neben dem Training auch von Entspannung, Pausen und gesunder Ernährung abhängig sind. Unternehmen können sich sehr viel bei erfolgreichen Sportlerinnen und Sportlern abschauen. Dann können wir veraltete Bilder von einem hohen Workload löschen und mit neuen Bildern vom Leistungssport ersetzen.
Selbstoptimierung kann helfen, allerdings trägt sie häufig auch zum Zu-viel-von-allem bei. Statt mehr Zeitmanagement, mehr Effizienz und mehr Selbstoptimierung schlage ich vor: zuerst löschen, entmüllen, streichen, weglassen und Platz schaffen. Das entlastet und verbessert so die Arbeit, denn gesunde Menschen sind leistungsfähiger. Wie im Leistungssport.
Am wirksamsten ist Entlastung, wenn Aufgaben und Prozesse für alle Mitarbeitenden ausgemistet werden. Dann ist die ganze Firma aufgeräumt und leistungsfähig. So wie Firmen ihre betriebswirtschaftliche Auswertung erstellen, kann auch jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter den Output ihrer beziehungsweise seiner Aufgaben bewerten. Dabei werden der Zeiteinsatz und der Wert einer Tätigkeit vom Ergebnis her verglichen. Die Tätigkeit mit dem höchsten Zeiteinsatz und dem geringsten Wert kann überprüft und gestrichen werden.
Keine Tätigkeit wird dauerhaft gleich viel zum Umsatz einer Firma beitragen. Was kann raus? Welche Serviceleistungen, Angebote, Produkte, welche ungenutzten Funktionen einer Software, welche Öffnungszeiten und Formulare, welche überflüssigen Prozesse und Gesetze sind Müll?
Es gibt Firmen, in denen jede Woche gefragt wird: Was lassen wir weg? Firmen führen einen Friedhof mit toten Aufgaben ein. So wird sichtbar gemacht, dass Löschen völlig normal ist. Löschlisten der Woche können aushängen und als Befreiung von Ablenkung und Überlastung gefeiert werden. Entlastung wirkt doppelt positiv, da mehr Zeit und Kraft für wirkungsvolle Aufgaben bleiben.
Menschen sollten nie zu 100 Prozent ausgelastet sein. Sonst sind es eindeutig zu viele Aufgaben. Wer entlastet ist, ist agiler und reaktionsfähiger, um spontan und freundlich einen guten Service zu leisten. Aktuell ist künstliche Intelligenz in aller Munde. Mit ihr können Firmen im Mittelstand und im Handwerk neue Umsatzquellen erschließen. Um diese Möglichkeiten zu verstehen und auszutesten, brauchen Menschen Zeit.
Sons Of Motion Pictures ist die größte Filmagentur in Mitteldeutschland und hat bereits 60 Preise gewonnen. Der Geschäftsführer Florian Arndt gab Ende 2022 allen Kolleginnen und Kollegen zwei Tage frei, um sich mit KITools zu beschäftigen, die für ihre Profession relevant sind. Bilder, Ton, Sprachen, Sprecher, Schnitt, Animationen, Drehbücher. Der Clou: Er packte die Aufgabe nicht zusätzlich auf den Stapel aller Projekte, sondern er schuf zeitliche Freiräume zur internen Fortbildung. Seit 2023 sind KI-Tools ein fester Bestandteil im Handwerkszeug der Firma. Der Umsatz steigt.
Der hohe Workload führt auch messbar zu immer mehr Burnout. Wer nicht mehr abschalten kann und schlecht schläft, kann den Stress nicht abbauen. Sogar einige Krankenhäuser bieten seit 2023 eine Vier-Tage-Woche an: das Klinikum Bielefeld, das Krankenhaus Bethanien in Moers, das Klinikum Fürth, die Hochtaunus-Kliniken und die Zentrale Notaufnahme im Krankenhaus Leonberg. Das Klinikum Fürth berichtet, dass die Vier-Tage-Woche die Versorgungsqualität verbessert und die Patientensicherheit erhöht.
Wird der Krankenstand in Firmen mit und ohne Entlastung verglichen, werden Vorgesetzte häufig hellhörig. Das sind Kosten, die messbar sind. In Firmen mit Entlastung sinkt der Krankenstand und die Produktivität steigt, durch fittere Mitarbeitende, die gesund mehr Tage im Jahr arbeiten.
Geniales Vergessen?
Hannah Monyer, Direktorin der klinischen Neurobiologie an der Universität Heidelberg, erforscht die Bedeutung des Vergessens für unser Gehirn und geht davon aus, dass es vor allem für das Lernen wesentlich wichtiger ist, als wir glauben. „Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht“ lautet der Titel ihres aktuell erschienenen Buchs über das „geniale Gedächtnis“. Wer vergisst, hat also nicht nur die Chance, effizienter zu arbeiten und Platz für Kreativität zu schaffen, sondern sogar „schlauer“ zu werden. Das klingt nicht nur danach, dass diese Ansätze vielversprechend, sondern sogar sehr notwendig sind. Wie könnte hier Ihrer Meinung und Erfahrung nach durch die Freisetzung von Ressourcen sogar ein positiver Effekt auf den vielbeklagten Fachkräftemangel entstehen?
Vielen Dank für Ihre Bespiele. Ich arbeite seit 25 Jahren zu den Themen Arbeit und Innovation. Daher ein großes Ja dazu, dass Kreativität Raum und Zeit braucht. Unsere Haut liefert ein gutes Beispiel dafür. Wir verlieren pro Minute 30.000 bis 40.000 Hautzellen. Genau die Haut, die wir verlieren, wächst wieder. In 28 Tagen ist unsere Haut komplett neu. Würden wir nicht zuerst Platz schaffen, hätten wir in zehn Jahren 120 Häute übereinander. Das will keiner, das könnten wir auch gar nicht tragen.
Nur bei der Arbeit wird nicht so strukturiert entmüllt, wie es unsere Haut vormacht. Anders als bei der Haut muss nicht jede alte Aufgabe aussortiert werden. Bewährte Angebote können bleiben. Das ist die unternehmerische Freiheit. Gleichzeitig helfen Routinen – also regelmäßig wiederkehrende Abläufe und Gewohnheiten in der Arbeit – uns dabei, das Wesentliche nicht zu vergessen und den Wandel der Arbeit aktiv zu gestalten. Diese fördern eine gewisse Stabilität und Struktur, die den Mitarbeitenden helfen, konzentriert zu bleiben und sich auf das Wesentliche zu fokussieren.
Attraktive, gesunde Arbeit erhöht das Potenzial für Innovationen. Wenn Menschen frische Energie haben und motiviert sind, können sie Neues schaffen. Wir sind als Gesellschaft nicht weniger innovativ, weil wir fauler sind, sondern weil wir überlastet sind. Wer bereits zu 120 Prozent ausgelastet ist, wird nicht innovativ sein. Guter Service und Weiterentwicklung brauchen Zeit und Energie.
Deshalb sind die Vorgänge Vergessen, Verlernen, Streichen doppelt wertvoll. Erstens, um nicht zu ersticken. Zweitens, um das Potenzial für Innovationen zu erhöhen. Wir sind es nur nicht gewohnt. Wer clever ist, trainiert das Löschen dessen, was wertlos erscheint. Gedanken, Überzeugungen, Prozesse, Produkte. Ab in den Arbeitsaufgaben-to-do-Mülleimer. Wie verändert sich der Wert der Arbeit? Das ist eine wiederkehrende Aufgabe. Wie das Saugen der Büros und Werkstätten. Viele Firmen lassen wöchentlich professionell putzen. Nur die To-do-Listen quellen über vor Dreck.
Mich fasziniert am geflügelten Wort vom Fachkräftemangel sehr, dass aufgeräumte Firmen mit attraktiven Arbeits- und Unternehmenskulturen keinen Mangel an Fachkräften erleben. Sie suchen und finden. Durch mediale Berichte über attraktive Firmen bekommen sie häufig sogar viel mehr gute Bewerbungen, als sie Menschen einstellen können – sowohl von Fachkräften und auch von Auszubildenden.
Wer einen Mangel an Fachkräften hat, sollte sein Angebot ändern, um attraktiver zu werden – besonders bei dem aktuellen absoluten Rekord an Erwerbstätigen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ja, Rekorde! In Deutschland waren 2024 mehr als 46 Millionen Menschen erwerbstätig, mehr als je zuvor. Wo ein Mensch arbeiten möchte, ist seine Wahl. Menschen suchen attraktive Arbeitgeber mit einer gesunden Unternehmenskultur.
Ich habe mit Tausenden Unternehmen gesprochen. Das Muster ist klar. Wer positiv auffällt durch entlastete, sinnvolle Arbeit, ist attraktiver. Wer in 34 Stunden stressfreier arbeiten und mehr schaffen kann als in anderen Firmen in 40 Stunden, geht dahin, wo entlastet gearbeitet wird. Das würde jeder von uns so machen.
Daher sind entmüllte Firmen mehrfach innovativer. Sie schaffen Freiräume für Kreativität und das Ausprobieren neuer Techniken und Tools, ohne Menschen damit zu überlasten. Werden veraltete, wertlose Aufgaben entsorgt, bleibt mehr Zeit und Energie für wertvolle Tätigkeiten. In der Summe ist das Unternehmen agiler im Markt und attraktiver im Bewerbermarkt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Dr. Silvija Franjic, Jobcoach und Fachredakteurin