Interview Jasmin Weber : „Betriebliches Gesundheitsmanagement muss ein fester Bestandteil von möglichen Kriseninterventionen sein“
Jasmin Weber arbeitet an der Technischen Hochschule Deggendorf im Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM). Die Hochschule bietet eine 12-monatige berufsbegleitende Weiterbildung an, die Teilnehmer dazu qualifiziert, das BGM in Unternehmen professionell einzuführen und zu gestalten.
Frau Weber, was genau ist Ihre Funktion an der Hochschule Deggendorf?

Ich bin wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehr- und Forschungsgebiet für Betriebliches Gesundheitsmanagement und Arbeitssicherheit an der Fakultät für Angewandte Gesundheitswissenschaften. Meine Tätigkeiten umfassen die Projektentwicklung, die Organisation und Durchführung von Analysen sowie deren Interpretation und Maßnahmen in der Personal- und Organisationsentwicklung. Der Transfer der dadurch gewonnenen Erkenntnisse ist uns sehr wichtig, daher darf ich diese auch in Vorlesungen an die Studierenden weitergeben.
Wie muss ich mir den klassischen Teilnehmer Ihrer berufsbegleitenden Weiterbildung vorstellen?
Das Hochschulzertifikat „Systemische Prozessberatung im Betrieblichen Gesundheitsmanagement“ ist ein weiterer Teilbereich der Lehr- und Forschungsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Stephan Gronwald. Den klassischen Teilnehmer gibt es nicht. Wie das BGM selbst, lebt auch diese Weiterbildung von der Interdisziplinarität. Die Teilnehmer kommen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen. Für die Teilnahme am Zertifikatskurs sind keine speziellen Vorkenntnisse notwendig. Insbesondere das Interesse am Thema bringt die Leute in den Kurs.
Inwiefern spielt die Kombination aus Praxis und Theorie in Ihren Kursen eine Rolle?
Sowohl in den Kursen wie auch in den Vorlesungen ist der Transfer die Quintessenz. Als Teil einer Hochschule für angewandte Wissenschaften ist es quasi eine Pflicht, dass das theoretische Wissen in die Praxis umgesetzt werden kann. Im Zertifikat erfolgt dies im Rahmen eines Pilotprojektes. In den Vorlesungen haben wir viele kleine Praxisprojekte integriert. Auch in den BGM-Projekten ist dies ein wichtiger Bestandteil: Die Unternehmen sollen es selbst machen. Wie bei einem Motorrad sitzen wir in einem Beiwagen und unterstützen sie. Daher ist es uns ein Anliegen, die Kompetenz in das Unternehmen selbst zu bringen, z. B. in Form eines systemischen Prozessberaters.
Drehen wir die Uhr ein wenig zurück und denken wir uns in eine Zeit, als das Wort Corona noch ein Getränk beschrieb. Was waren damals die größten Hürden, die Unternehmen respektive Ihre Teilnehmer zur Implementierung eines BGM zu nehmen hatten? Wir sehen, dass bei vielen Unternehmen ein Leitbild fehlt. Das war vor Corona so und ist es auch heute noch. Das ist der Grund dafür, warum Angebote seitens der Mitarbeiter nicht angenommen werden. In der Regel werden Sportangebote von denen wahrgenommen, die auch in ihrer Freizeit in Bewegung sind. Der Personenkreis, für den solche Maßnahmen vor allem sinnvoll wäre, nimmt nicht teil. Hintergrund ist, wie bereits gesagt, meist das fehlende Verständnis für Gesundheit. Ziel eines BGM muss sein, die eingesetzten Maßnahmen hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit (Passung zum Leitbild) zu hinterfragen. Dadurch sollen Prozesse, beispielsweise in der Personal- und Organisationsentwicklung, dem Arbeitsschutz und auch der Gesundheitsförderung, inhaltlich synchronisiert werden und sich gegenseitig fördern.

Inwiefern haben sich diese Aspekte durch die Corona-Pandemie verändert?
Unternehmen stehen immer wieder vor neuen Herausforderungen von Gesellschaft, Markt, Digitalisierung, Politik, Recht und Gesetz. Aktuell trägt diese Herausforderung den Namen Corona. Die Hürden haben sich dadurch nicht geändert, aber viele Maßnahmen im BGM werden leider ausgesetzt. Dabei wäre es gerade jetzt wichtig. Ziel muss sein, die Ängste und Sorgen der Mitarbeiter, die aufgrund der Pandemie entstehen, aufzugreifen. Corona soll und darf keine Ausrede dafür sein, die Gesundheit der Mitarbeiter hintenanzustellen.
Welche Rückmeldungen erhalten Sie von Teilnehmern nach der Ausbildung?
Welche Ziele sind Unternehmen bei der Implementierung eines BGM am wichtigsten? Wie haben sich diese durch die Corona-Pandemie verändert und wie erfolgreich ist das BGM in der Regel? Eine Teilnehmerin hat mal gesagt, dass das Hochschulzertifikat genau so ist, wie man sich eine Weiterbildung vorstellt: wissenschaftlich fundiert, praxisnah, beruflich und persönlich relevant. Vor allem der Austausch und die Diskussionen werden immer wieder als sehr positiv empfunden. Da ich im ersten Jahrgang die Ausbildung selbst absolviert habe, kann ich das nur bestätigen. Viele Geschäftsführer sehen im BGM eine Chance, Fachkräfte zu sichern und den Arbeitsplatz attraktiv zu gestalten. Ein weiteres Ziel ist die Erfüllung der Anforderungen im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Durch die Pandemie hat sich da nicht viel verändert. Da wir viel in systemrelevanten Einrichtungen unterwegs sind, haben wir aber die Erfahrung gemacht, dass die Unternehmen den Mitarbeitern auch mal etwas Gutes tun wollen.
Hat das Betriebliche Gesundheitsmanagement im Zuge der aktuellen Krise eine Aufwertung erfahren? Verzeichnen Sie eine höhere Nachfrage bei Ihren Kursen?
Oftmals wird BGM als Schönwetterdisziplin eingesetzt. Läuft es im Unternehmen gut und ist Geld übrig, werden Maßnahmen umgesetzt. Unserer Meinung nach ist dies ein völlig falscher Ansatz. Wir versuchen immer, BGM im Arbeitsschutz zu verankern. Einerseits wird es da sowieso gefordert, andererseits zeigt die Erfahrung, dass alles, was im Arbeitsschutz ist, auch bleibt. Keiner hat sich je Gedanken darüber gemacht, ob wir z. B. die Überprüfung elektronischer Geräte oder Feuerlöscher wieder abschaffen. Gerade jetzt in der Krise brauchen wir den Arbeitsschutz. BGM muss ein fester Bestandteil von möglichen Kriseninterventionen sein und als solcher gelebt werden. Leider fehlt diese Einstellung und daher ist es aktuell nicht leicht, Teilnehmer zu gewinnen. Allerdings erleben wir großes Interesse von geschlossenen Settings, wie z. B. Polizei oder Bayerisches Rotes Kreuz.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Philipp R. Kinzel.