Moderne Arbeitswelt : Warum jede Führungsetage heute einen Coach braucht
Früher saß er auf der Trainingsbank. Mit der Pfeife zwischen den Lippen wies er sein Team zurecht. Seine emotional erhitzte Stimme hallte lautstark durch die nach Schweiß und Linoleum riechende Turnhalle. Seine Oversize-Trainingsjacke spiegelte den Charme der 1990er wider. Heute sitzt er leger vor der Bildschirmkamera seines Laptops und kommuniziert via Headset in Weeklies mit seinem Team. Was einst nur im Sport zu finden war, ist inzwischen eine nicht mehr wegzudenkende Figur in deutschen Unternehmen: der Coach.
Führungsarbeit hat sich verändert und ist für viele schwieriger geworden. Remote Work und der Fachkräftemangel haben offenbar für einen Paradigmenwechsel im Führungsverständnis gesorgt: Führungskräfte nehmen ihre Rolle zunehmend als Coach wahr. Das ist das Ergebnis des aktuellen Hernstein Management Reports. Neun von zehn Befragten sehen ihre Hauptaufgabe als Vorgesetzter darin, Mitarbeitende beim Erschließen eigener Potenziale zu unterstützen. Besonders stark ausgeprägt ist dieses Rollenverständnis in der Energie-, Finanz- und Logistikbranche.
Homeoffice und Eigenständigkeit
Mit der Corona-Pandemie zieht das Homeoffice in den Alltag deutscher Unternehmen ein. Die Krise konfrontiert Führungskräfte wie Mitarbeiter mit einer völlig neuen Arbeitssituation. Der Angestellte sitzt isoliert in seinen eigenen vier Wänden und soll seine To-do-Liste zuverlässig abarbeiten. Wer seinen Job weiterhin adäquat ausüben möchte, benötigt ein hohes Maß an Eigenständigkeit. Für Führungskräfte bedeutet dies: Sie müssen ihre Mitarbeiter dementsprechend befähigen. Dazu gehören organisatorische wie informationstechnologische Fähigkeiten gleichermaßen.
Moderne Arbeitswelt und soziale Medien
Dass Vorgesetzte stärker Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter nehmen, ist nicht zuletzt eine Folge des Fachkräftemangels. Traditionelle Führungskonzepte scheinen den Anforderungen des heutigen Selbstverständnisses vieler Mitarbeitenden – vor allem der Generation Y und Z – nicht mehr gerecht zu werden. Passen sie doch so gar nicht in den Livestyle der modernen Arbeitswelt mit Begrifflichkeiten wie New Work, Workation oder Desksharing.
Neben der Transformation der Führungsrolle hat sich auch die Außendarstellung von Führungskräften verändert. Auch das ist ein Ergebnis des Reports. So treten sie vermehrt in den sozialen Medien als Kompetenzträger auf. Das gilt vor allem für die unter 40-Jährigen. Hier spielen Plattformen wie Facebook, LinkedIn und Instagram eine Rolle. Den klassischen Leader im Elfenbeinturm gibt es nicht mehr. Wo früher eine kühle Distanz herrschte, ist heute Nahbarkeit gefragt.
Tools und Teamgeist
Wer sich die guten alten Zeiten zurücksehnt, in denen Mitarbeiter noch ohne Beanstandung das gemacht haben, was der Chef diktiert hat, der verteufelt das neue Führungsverständnis zu unrecht. Denn im agilen Führen steckt das Potenzial, schneller und kreativer auf die Bedürfnisse von Kunden und Märkten zu reagieren. Retrospektiven, Reviews, Standup-Meetings, offene Möglichkeiten, um Wissen mit dem gesamten Team zu teilen – das sind heute die gängigen Tools, derer sich ein Coach im Unternehmensalltag bedient.
Apropos Team. Das rückt in den Mittelpunkt des Geschehens. Wenn der Trainer seine Mannschaft wie im Sport auf sich einschwört, kann er es schaffen, die Mitglieder innerlich von dem, was sie machen, so zu überzeugen, dass er sie zu Höchstleistungen anspornt. Die Devise lautet: Wenn das Wir-Gefühl stark genug ist, wird aus einzelnen Begabungen ein talentierter Schwarm, sprich eine siegreiche Mannschaft.
Selbstvertrauen und Führungskraft
Um diesen Spirit zu etablieren, fordert das Coachsein entsprechende Fähigkeiten. Aufgabe ist es, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der die Teammitglieder bereit sein, offen zu kommunizieren – sogar, wenn sie mit Gegenwind rechnen müssen. Ähnlich wie im Sport benötigt die Führungskraft viel Selbstvertrauen. Schließlich muss sie auch in schwierigen Zeiten Selbstbewusstsein und Zuversicht suggerieren. Wie auf dem Spielfeld sollte sie ihre Teammitglieder genau kennen, wissen, wie jeder Einzelne tickt.
Wie kann sie als Coach jeden Einzelnen motivieren? Welche Art von Anerkennung benötigt jedes Teammitglied? Und wie viel davon? All das sind Fragen, die ein Coach im Effeff beantworten können sollte. Außerdem sollte er die Fähigkeit besitzen, sich zwar in sein Team hineinversetzen zu können, gleichzeitig aber immer objektiv zu bleiben.
Feedback und aktives Zuhören
Fragen, fragen, fragen. Ob offen oder geschlossen – ganz egal. Wer sein Team kennenlernen möchte, sollte neugierig bleiben. Sich für jeden Einzelnen interessieren. Gut zuhören. Eine gesunde Feedback- und Lernkultur ist das A und O für jedes Team, um sich dauerhaft weiterzuentwickeln. Genau hier ist der Coach gefragt. Er muss Dinge sichtbar machen und gegenseitiges Feedback in eine annehmbare Gesprächsatmosphäre betten.
Authentisch sein: Auch das ist 2022 Aufgabe der Führungskraft. Dass jeder einmal Fehler macht – auch er selbst –, sollte dem Coach klar sein. Sich zu reflektieren und in Frage stellen zu können, ist als Führungskraft heutzutage enorm wichtig. Das Motto sollte lauten: „Die Besten lernen aus Fehlern. Die Dummen machen den gleichen Fehler noch einmal.“
Coaching und Erfolg
Coaching ist ein viel verwendetes Wort. Manch einem mag es schon zu den Ohren raushängen – wird es derzeit doch so inflationär für alle Lebensbereiche angepriesen. Doch wer das Coaching im Sinne des Sports begreift, hat immer ein Team im Hintergrund, das zu Höchstleistungen bereit ist. Und genau das ist es, was sich Unternehmen wünschen: eine eingeschworene Mannschaft, hungrig und gierig auf den Erfolg. Dazu braucht jede Führungsetage heute einen Coach.
Philipp R. Kinzel