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Im Blick: Arbeitsrecht

Lesezeit 16 Min.

Massenentlassungsanzeige: Ein Stolperstein weniger für Arbeitgeber

Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 13.07.2023 – C-134/22 G GMBH

Diese Entscheidung wurde mit Spannung erwartet: Da Fehler im Rahmen der Massenentlassungsanzeige zur Nichtigkeit der Kündigung führen können, sind die praktischen und wirtschaftlichen Auswirkungen enorm. Ein Verstoß gegen die Übermittlungspflicht an die Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 S. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) führt nach aktueller Entscheidung des EuGH nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Inwieweit sich sonstige Fehler im Zusammenhang mit § 17 Abs. 2, 3 KSchG auswirken, bleibt vorerst weiterhin offen.

Verortung des Urteils

Im Fall einer anzeigenpflichtigen Massenentlassung muss der Arbeitgeber nicht nur eine Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit erstatten (Anzeigeverfahren), sondern zuvor den Betriebsrat beteiligen (sog. Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG). Dies umfasst nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG u. a. die Darstellung der Gründe für die geplanten Entlassungen und die Angabe der Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie des Zeitraums, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen. Ziel des Verfahrens ist es, mit dem Betriebsrat zu beraten, ob Entlassungen vermieden bzw. die Folgen gemindert werden können.

Zudem regeln sowohl die europäische Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59 EG – MERL) als auch das KSchG, dass der Agentur für Arbeit bereits vor der eigentlichen Massenentlassungsanzeige eine Abschrift dieser Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten ist (sog. Übermittlungspflicht, Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL, § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG). Dadurch soll die Agentur für Arbeit frühzeitig – also bereits vor Erstattung der offiziellen Massenentlassungsanzeige – informiert und auf die geplanten Entlassungen vorbereitet sein.

Sowohl die Massenentlassungsrichtlinie als auch die maßgebliche nationale Vorschrift, § 17 KSchG, sehen keine Sanktionen oder Rechtsfolgen bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren vor. Vor diesem Hintergrund füllte die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) diese Lücke und entwickelte für Deutschland ein Sanktionssystem. Hiernach überprüft die Rechtsprechung zunächst, ob der Arbeitgeber eine in § 17 KSchG festgelegte Pflicht bei der Anzeige der Massenentlassung bzw. eine Pflicht im Konsultationsverfahren missachtet hat. Ist dies der Fall, wird weiter geprüft, ob die verletzte Pflicht einen arbeitnehmerschützenden Charakter hat oder nicht. Falls dies der Fall ist, kann eine ausgesprochene Kündigung wegen der Pflichtverletzung unwirksam sein.

In einem Kündigungsschutzverfahren befasste sich das BAG letztes Jahr mit der Frage, ob ein Verstoß gegen die in § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG geregelte Übermittlungspflicht an die Agentur für Arbeit zur Unwirksamkeit einer Kündigung führt od nicht. Maßgeblich war hierfür, welchem Schutzzweck die Übermittlungspflicht an die Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 KSchG dient: dem zwingenden Arbeitnehmerschutz oder lediglich der Vorabinformation der Agentur für Arbeit über die bevorstehende Massenentlassungsanzeige?

Im Blick Arbeitsrecht
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Der Sachverhalt

Bei einer insolventen GmbH wurde eine Massenentlassung durchgeführt. Im Zuge dessen wurde mit dem Betriebsrat das obligatorische Informations- und Konsultationsverfahren nach § 17 KSchG durchgeführt. Entgegen den gesetzlichen Vorgaben wurde der Agentur für Arbeit jedoch keine Abschrift des Informations- und Konsultationsschreibens, welches an die Arbeitnehmervertretung überreicht wurde, übermittelt. In dem Verfahren vor dem BAG geht es maßgeblich um die Auslegung der aus dem europäischen Massenentlassungsrecht umgesetzten Norm des § 17 Abs. 3 KSchG. Entsprechend legte das BAG diese Frage dem EuGH vor.

Die Entscheidung

Der EuGH verneinte den arbeitnehmerschützenden Charakter der Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 KSchG. Die Pflicht, den nationalen Behörden (in Deutschland der Agentur für Arbeit) in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen Informationen mitzuteilen, dient nicht dazu, den einzelnen Arbeitnehmer zu schützen. Stattdessen solle die Übermittlungspflicht der zuständigen Behörde die Möglichkeit geben, sich insbesondere über die Gründe der geplanten Entlassungen, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie den Zeitraum der Entlassungen einen Überblick zu verschaffen. Dennoch könne sie für die Vorbereitung der bei einer Massenentlassung erforderlichen Maßnahmen nicht vollständig auf die arbeitgeberseitig übermittelten Informationen vertrauen.

Anders als die generelle Verpflichtung zur Anzeige von Massenentlassungen setze die betreffende Übermittlungspflicht weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang noch schaffe sie eine Verpflichtung für die zuständige Behörde, tätig zu werden. Daher erfolge die Übermittlung nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit die Behörde gegebenenfalls ihre weiteren Befugnisse wirksam ausüben kann.

Kurz erklärt

  • Fehler des Arbeitgebers bei der Anzeige einer Massenentlassung können nach deutschem Recht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Das steht zwar so nicht im Gesetz, entspricht aber jahrelanger Rechtsprechung des BAG. Ausschlaggebend für die Annahme der Unwirksamkeit der Kündigung ist dabei allerdings, ob gegen eine den Arbeitnehmer individuell schützende Pflicht verstoßen wurde.
  • Das dargestellte EuGH-Urteil erging zu einer Spezialfrage im europäischen Massenentlassungsrecht und klärt nur den Zweck der Überleitungsverpflichtung des Arbeitgebers.
  • Es ist zu erwarten, dass die EuGH-Entscheidung dazu führen wird, dass das BAG im Fall eines Verstoßes gegen die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG nicht von einer Unwirksamkeit der Kündigung ausgehen wird.
  • An den bereits bekannten Anforderungen an die Masseentlassungsanzeige ändert sich durch das EuGH-Urteil allerdings nichts! Für Aufsehen hatte der Schlussantrag des Generalanwalts im Rahmen des EuGH-Verfahren gesorgt, da darin die durch das BAG entwickelte Sanktionsfolge problematisiert wurde und der Antrag erkennen ließ, dass es auf die den Arbeitnehmer individuell schützende Pflicht oder eine Pflicht mit kollektivem Charakter gar nicht ankommen könnte. Daraufhin legte das BAG mehrere Revisionsverfahren auf Eis. Der EuGH äußerte sich zu der Frage des deutschen Sanktionssystems allerdings nicht. Hierfür bestand auch kein Anlass. Der EuGH hatte bereits in einer Entscheidung vom 04.06.2020 (Rs. C-32/20) zu einem italienische Massenentlassungsverfahren festgehalten, dass es alleinige Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, die Sanktionsfolge bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren auszugestalten.
Im Blick Arbeitsrecht 2
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Praxistipp

Relevant ist die Entscheidung auch deshalb, weil § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG regelt, dass der Arbeitgeber die Übermittlungspflicht gegenüber der Agentur für Arbeit „gleichzeitig“ – d. h. zeitnah nach der Unterrichtung des Betriebsrats – erfüllen muss. Der Gesetzgeber wollte dadurch eine frühzeitige Unterrichtung der Agentur für Arbeit sicherstellen. Aufgrund der EuGH-Entscheidung wird das BAG dem Wort „gleichzeitig“ keine große Bedeutung beimessen. Mit der Entscheidung erübrigen sich damit auch die in der Praxis häufigen Diskussionen darüber, ob eine Übermittlung der Abschrift der Mitteilung nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG zwingend am selben Tag wie die Mitteilung nach § 17 Abs. 2 KSchG erfolgen muss.

Arbeitszeit: Reisezeit mit der Bahn zählt zu der Arbeitszeit im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes

Verwaltungsgericht (VG) Lüneburg, Urteil vom 02.05.2023 – 3 A 146/22

Mitten in die Diskussion zur Erfassung der Arbeitszeit platzt ein Urteil des VG Lüneburg mit Sprengkraft: Bahnfahren ist Arbeitszeit. Das VG Lüneburg entschied am 02.05.2023 – in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des BAG –, dass Reisezeiten mit der Bahn, die im Zusammenhang mit der Überführung von neuen Nutzfahrzeugen anfallen, Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind.

Im Blick Arbeitsrecht 3
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Verortung des Urteils

Es geht um die Frage, ob (Dienst-)Reisezeiten zur Arbeitszeit zählen. Diese Frage ist aus zwei Blickwinkeln zu betrachten: Zum einen sind arbeitsschutzrechtlich die gesetzlichen Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) einzuhalten, etwa die tägliche Höchstarbeitszeit nach § 3 ArbZG sowie die Ruhezeit nach § 5 ArbZG. Zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit diese Reisezeiten zu vergüten sind, wobei sich die Vergütungspflicht – also die Frage, ob Reisezeiten vergütet werden – in der Regel nach den vorhandenen arbeits- oder tarifvertraglichen Regelungen richtet. Schwieriger ist hingegen die Einordnung als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitsschutzes.

Eine Schwierigkeit liegt bereits darin, dass weder das deutsche Arbeitszeitgesetz noch die zugrunde liegende europäische Arbeitszeitrichtlinie den Begriff der Reisezeit regeln. Ob Reisezeiten als Arbeitszeit gelten, muss man im Wege einer Einzelfallprüfung feststellen.

Diese Einzelfallprüfung führt das BAG – bislang noch – mit der selbst entwickelten Beanspruchungstheorie durch. Danach stuft das BAG solche Reisezeiten als Arbeitszeit ein, wenn der Arbeitnehmer dabei in einem derartigen Maße beansprucht wird, dass eine Einordnung als Arbeitszeit gerechtfertigt ist. Im Gegensatz dazu zählen Reisen mit Flugzeug, Bahn oder Taxi so lange nicht als Arbeitszeit, wie der Arbeitnehmer während der Reise keine zusätzlichen Tätigkeiten für den Arbeitgeber erbringt, etwa E-Mails abarbeitet oder Präsentationen vorbereitet.

Der EuGH verfolgt hingegen eine andere Herangehensweise. Er prüft, wie stark der Freizeitwert des Arbeitnehmers von der geforderten Tätigkeit betroffen ist. Gibt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen Aufenthaltsort vor oder muss der Arbeitnehmer sich außerhalb seines sozialen Umfelds aufhalten, stuft der EuGH solche Zeiten regelmäßig als Arbeitszeit ein. Interessanterweise teilt das VG Lüneburg die Rechtsauffassung des EuGH und weicht damit vom BAG ab.

Der Sachverhalt

Die Klägerin ist ein Speditionsunternehmen, das auf die Überführung von neuen und gebrauchten Nutzfahrzeugen, unter anderem Sattelzugmaschinen, spezialisiert ist. Die für die Überführung eingesetzten Arbeitnehmer fahren mit Taxen und öffentlichen Verkehrsmitteln zum jeweiligen Abholort des Fahrzeugs, übernehmen es dort und fahren das Fahrzeug anschließend zum Zielort. Von dort reisen sie wiederum mit der Bahn zurück zu ihrem Wohnort. Für die Bahnfahrt erhalten die Arbeitnehmer eine BahnCard 100 (1. Klasse). Die bis zu zwölfstündigen Bahnfahrten planen die Arbeitnehmer selbstständig. Sie müssen während der Fahrzeit telefonisch erreichbar sein, bei Planänderungen gegebenenfalls umdisponieren. Auf der Fahrt führen die Arbeitnehmer Equipment (Überführungspapiere, Schutzbezüge, Mautboxen) mit. Im Übrigen dürfen sie die Fahrtzeit selbst gestalten. Das zuständige Gewerbeaufsichtsamt hatte die Einhaltung der Arbeitszeitregelungen bei der Arbeitgeberin überprüft und der Klägerin aufgegeben, die zulässigen Höchstarbeitszeiten einzuhalten. Das Gewerbeaufsichtsamt stufte dabei die Bahnfahrten als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes ein. Dagegen wandte sich das klagende Unternehmen mit dem Argument, die betroffenen Arbeitnehmer seien während der Bahnfahrt in der Gestaltung ihrer Zeit völlig frei, sodass ihnen nur ein „Freizeitopfer“ abverlangt werde, und stützt sich damit auf die bisherige Rechtsprechung des BAG im Sinne der „Beanspruchungstheorie“.

Im Blick Arbeitsrecht 4
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Die Entscheidung

Das VG Lüneburg folgt dieser Argumentation jedoch nicht. Aufgrund der einschlägigen europarechtlichen Grundlagen (Arbeitszeitrichtlinie) müsse im vorliegenden Fall von der gängigen Definition des BAG zum Begriff der Arbeitszeit abgewichen werden.

Zwar gehe mit dem Bahnfahren nicht zwingend eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung einher, was nach der Beanspruchungstheorie des BAG maßgeblich für die Erfassung einer Tätigkeit als Arbeitszeit sei. Für die europarechtliche Begriffsbestimmung sei indes allein entscheidend, ob der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung stehe und seine Tätigkeit ausübe oder Aufgaben wahrnehme. Danach zähle die Bahnreisezeit als Arbeitszeit. Denn die regelmäßig mehrstündige An- und Abreise mit der Bahn sei einerseits bereits Teil der Leistungserbringung und beschränke andererseits die Freiheit der Fahrer, über ihre Zeit selbst zu bestimmen.

So hänge die Dauer der Bahnreisezeit allein davon ab, an welchen Ort das Fahrzeug überführt werden müsse. Anders als bei der Anreise zu einer festen Betriebsstätte stehe sie somit nicht zur Disposition des Arbeitnehmers, sondern sei der Sphäre des Arbeitgebers zuzurechnen.

Kurz erklärt

  • Anders als die bisher gängige Betrachtungsweise des BAG knüpft das VG Lüneburg für die Frage der Qualifizierung als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes damit nur daran an, ob die Dauer der Reisezeit von den Arbeitnehmern in ihrem Sinne beeinflussbar ist oder nicht. • Das Urteil wirkt grundsätzlich nur zwischen den Beteiligten. Es ist aber insofern weitreichender, als jedenfalls im Zuständigkeitsbereich des VG Lüneburg mit einer einheitlichen Umsetzung dieser Entscheidung durch die Verwaltungsbehörden zu rechnen ist.
  • Umso wichtiger, genau auf die Einzelheiten des Falls zu achten: Das VG Lüneburg hat keine pauschale Aussage zu Bahnfahrten und schon gar nicht zur grundsätzlichen Einstufung von Dienstreisen als Arbeitszeit getroffen. Der Fall des VG Lüneburg zeichnet sich dadurch aus, dass die Reisen der Arbeitnehmer einen umfangreichen Teil ihrer Tätigkeit ausmachen. Einen argumentativen Schwerpunkt legt das VG Lüneburg darauf, dass die Arbeitnehmer keinen festen Tätigkeitsort haben. Zwar fließt in die Gesamtbeurteilung ein, dass die Arbeitnehmer sich außerhalb ihres familiären und sozialen Umfelds aufhalten, was tendenziell bei jeder Bahnfahrt naheliegt. Im Mittelpunkt steht jedoch neben dem großen zeitlichen Umfang der identitätsprägende Charakter der Bahnfahrten für das Arbeitsverhältnis.
  • Die Praxis steht vor der Herausforderung, die wenig ausdifferenzierten Kriterien des EuGH zum Freizeitwert auf Reisezeiten zu übertragen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Rechtsprechung des EuGH gar nicht zur Bewertung von Dienstreisen als Arbeitszeit ergangen ist. Sie stammt aus dem Bereich der Rufbereitschaft und knüpft daher insbesondere an die Bestimmung des Aufenthaltsorts durch den Arbeitgeber an. Dieses Kriterium lässt sich nur eingeschränkt auf Reisen übertragen.

Praxistipp

Arbeitgeber, die Dienstreisen bislang nicht als Arbeitszeit behandeln, sollten anhand der Kriterien des EuGH (Freizeitwert) diese Einordnung überprüfen. Je freier Arbeitnehmer Dienstreisen gestalten und je stärker sie diese mit privaten Aktivitäten und Gewohnheiten verknüpfen dürfen, desto geringer das Risiko der Einstufung als Arbeitszeit. Bei behördlichen Prüfungen sollten sich Arbeitgeber kooperativ zeigen und mit der Behörde gemeinsam diskutieren, wie Reisezeiten so gestaltet werden können, dass die Behörde diese nicht als Arbeitszeit einstuft. Achtung: Wenn Reisezeit zu der Arbeitszeit im Sinne des ArbZG zählt, müssen auch alle seine Vorschriften zum Schutz vor Überlastung beachtet werden. Das bedeutet, dass Pausenzeiten eingehalten werden müssen (§ 4 ArbZG), pro Tag die Höchstarbeitszeit (8 bzw. 10 Stunden) nicht überschritten werden darf (§ 3 ArbZG), eine Ruhezeit von mindestens 11 Stunden nach Arbeitsende gewährleistet (§ 5 ArbZG) und das grundsätzliche Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit beachtet werden muss (§ 9 ArbZG). Außerdem müssen die Zeiten dann auch entsprechend erfasst werden.

Kein Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit während der Altersteilzeit

Europäische Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 27.04.2023 – C-192/22

Ein weiteres Urteil des EuGH zu der Frage des rechtmäßigen Verfalls von Urlaubsansprüchen. Dieses Mal im Zusammenhang mit Altersteilzeitarbeitsverhältnissen und der Besonderheit, dass bestehende Urlaubsansprüche aufgrund von Krankheit nicht vollständig aufgebraucht werden können, bevor ein Arbeitnehmer seine Freistellungsphase beginnt.

Im Blick Arbeitsrecht 5
Im Blick Arbeitsrecht 5

Verortung des Urteils

Es geht um den finanziellen Urlaubsabgeltungsanspruch, der ausnahmsweise am Ende eines Arbeitsverhältnisses entsteht, und die Frage, ob dieser möglicherweise bereits verfallen ist.

In Bezug auf das Urlaubsrecht sind drei Rechtsquellen relevant:

  • Bundesurlaubsgesetz • Art. 7 Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG
  • Art. 31 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union Für das Grundverständnis ist außerdem wichtig, dass das Recht auf bezahlten Jahresurlaub ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union ist, von dem nicht abgewichen werden darf. An einen Verfall sind daher sehr hohe Anforderungen zu stellen.

Der Sachverhalt

Inhaltlich geht es um die Frage, ob ein Urlaubsabgeltungsanspruch besteht oder der Arbeitgeber sich erfolgreich auf die Verjährung berufen kann.

Der Kläger war bis zum 30.09.2019 beim Arbeitgeber beschäftigt. Ab dem 01.10.2019 ging er in Rente. Die Parteien kamen Ende 2012 im Rahmen einer Altersteilzeitregelung überein, das Arbeitsverhältnis in ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis (Blockmodell) zu ändern. Dabei war vorgesehen, dass der Kläger vom 01.02.2013 bis zum 31.05.2016 arbeiten und vom 01.06.2016 bis zum 30.09.2019 freigestellt werden sollte. Kurz vor Beendigung der Arbeitsphase nahm der Kläger seinen noch offenen Urlaub für das Kalenderjahr 2016. Aufgrund einer Erkrankung des Klägers während des Urlaubs waren bei Eintritt in die Freistel lungsphase jedoch noch etwas mehr als zwei der gesetzlichen Urlaubstage übriggeblieben. Die Arbeitgeberin weigerte sich, diese Urlaubstage finanziell abzugelten.

Der Kläger wehrte sich hiergegen und erhob Klage beim Arbeitsgericht auf Abgeltung der nicht genommenen Urlaubstage. Argument: Er habe seinen Urlaub wegen seiner Arbeitsunfähigkeit am Ende der Arbeitsphase nicht vollständig nehmen können. Wegen der Freistellung von der Arbeitspflicht in der Freistellungsphase der Altersteilzeit sei auch eine spätere Einbringung unmöglich gewesen. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, da der vom Kläger während seiner Arbeitsphase im Jahr 2016 nicht beanspruchte Urlaub entsprechend der Regelung des § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des 31.03.2017 verfallen sei. Der Umstand, dass der Arbeitgeber nicht auf die Notwendigkeit hingewiesen hatte, seinen Urlaub vollständig zu nehmen, sei in diesem Fall unerheblich, da dies aufgrund der Freistellung des Arbeitnehmers ab dem 01.06.2016 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 30.09.2019 unmöglich gewesen sei.

Im Blick Arbeitsrecht 6
Im Blick Arbeitsrecht 6

Nach erfolgloser Berufung legte der Kläger Revision beim BAG ein. Das BAG hegte Zweifel in Bezug auf die Anwendung von § 7 Abs. 3 BUrlG, der das Erlöschen der Ansprüche auf nicht genommenen Urlaub nach Ablauf einer bestimmten Frist vorsieht, wenn es dem Arbeitnehmer aufgrund einer Freistellung unmöglich geworden ist, seine Urlaubstage vollständig zu nehmen.

Vor diesem Hintergrund setzte das BAG den Rechtsstreit aus und legte dem EuGH die Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung vor. Es sollte geklärt werden, ob das geltende EU-Recht der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegensteht, wonach der in der Arbeitsphase eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses erworbene, bisher nicht erfüllte Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub in der Freistellungsphase mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt.

Die Entscheidung

Der EuGH gab den Zweifeln des BAG Recht und entschied, dass sowohl ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als auch ein finanzieller Abgeltungsanspruch für nicht erfüllte Urlaubsansprüche auch dann weiterhin besteht, wenn der Arbeitnehmer aufgrund kurzzeitiger Arbeitsunfähigkeit während der Arbeitsphase eines Altersteilzeitverhältnisses daran gehindert war, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub rechtzeitig noch vor Eintritt in die Freistellungsphase zu nehmen. Die Abwesenheit eines Arbeitnehmers, z. B. aus gesundheitlichen Gründen, sei für den Arbeitgeber zwar nicht vorhersehbar, doch sei der Umstand, dass eine solche Abwesenheit den Arbeitnehmer gegebenenfalls daran hindern kann, seinen Anspruch auf Jahresurlaub auszuschöpfen, wenn es sich um ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis handelt, normalerweise nicht unvorhersehbar. Der Arbeitgeber sei nämlich in der Lage, ein solches Risiko auszuschließen oder zu verringern, indem er mit dem Arbeitnehmer vereinbart, dass dieser seinen Urlaub rechtzeitig nimmt.

Außerdem stelle der Anspruch auf Jahresurlaub nur einen der beiden Aspekte des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub als tragender Grundsatz des Sozialrechts der Union dar, während der andere Aspekt die finanzielle Vergütung sei, die dem Arbeitnehmer zusteht, wenn er aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in der Lage ist, seinen Urlaub zu nehmen. Einem Arbeitnehmer, der aufgrund eines unvorhergesehenen Umstands wie durch Krankheit daran gehindert wird, vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen, jeglichen Anspruch auf eine solche finanzielle Vergütung zu versagen, liefe jedoch darauf hinaus, dem im EU-Recht vorgesehenen Recht seinen Gehalt zu nehmen.

Kurz erklärt

  • Der entschiedene Fall hat die Besonderheit, dass die Unmöglichkeit, den erworbenen Urlaub vollständig zu nehmen, in dem vorliegenden Fall darin liegt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in der Passivphase der Altersteilzeit von der Pflicht zur Arbeitsleistung selbst freigestellt hat, sodass mangels Arbeitspflicht keine (Ersatz-)Urlaubsgewährung mehr erfolgen konnte.
  • Außerdem handelte es sich hier um eine kurze krankheitsbedingte Abwesenheit und keine Langzeiterkrankung. Die vom EuGH entwickelte Rechtsprechung zu Langzeiterkrankten, die den Übertragungszeitraum auf 15 Monate begrenzt, ließ sich auf den vorliegenden Fall daher nicht übertragen.
Im Blick Arbeitsrecht 7
Im Blick Arbeitsrecht 7

Praxistipp

Typischerweise nehmen Mitarbeiter, die in die Freistellungsphase eines Altersteilzeitvertrags wechseln, ihren Resturlaub erst kurz vor dem Ende der Aktivphase. Diese bisherige Praxis sollten Arbeitgeber vor dem Hintergrund der neuen EuGH-Rechtsprechung überdenken – jedenfalls dann, wenn Abgeltungsansprüche vermieden werden sollen. Die Inanspruchnahme offener Urlaubsansprüche während der Arbeitsphase sollte rechtzeitig angegangen werden. Aus Arbeitgebersicht sollte möglichst frühzeitig darauf geachtet werden, dass während der Arbeitsphase keine vermehrten Urlaubsansprüche angehäuft werden. Es empfiehlt sich also, rechtzeitig die noch offenen Urlaubsansprüche zu prüfen und eine einvernehmliche Regelung hinsichtlich der Urlaubsgewährung zu finden. Denn nach wie vor gilt auch hier, dass die Urlaubswünsche von Mitarbeitern nur aus dringenden betrieblichen Gründen zurückgewiesen werden dürfen. Die bloße Angst vor Abgeltungsansprüchen dürfte für die Darlegung solcher betrieblichen Gründe nicht ausreichen.

Dr. Michaela Felisiak, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte

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