Banner Online Kompaktkurse für fundiertes Wissen zu neuesten Gesesetzesänderungen und Abrechnungskriterien
Free

Zeitwirtschaft : Das durchvermessene Leben

Ein Leben nach der Stechuhr — das klingt nicht erstrebenswert und soll es doch sein, wenn es nach den obersten europäischen Richtern in Luxemburg geht. Wo steht Deutschland? Was passiert nach dem EuGH-Urteil aus dem Mai dieses Jahres in Sachen Zeiterfassung? Werden wir bald Tag und Nacht nur noch kontrolliert?

Fokus
Lesezeit 5 Min.

Lange Zeit galt: Dem flexiblen Arbeiten gehört die Zukunft. Jetzt diskutieren wieder alle: Gewerkschaften und Parteien, Ministerien und Wirtschaftsverbände. Grund ist das Urteil des Europäischen Gerichtshof aus dem Mai dieses Jahres.

Nach der Klage einer spanischen Gewerkschaft gegen die Deutsche Bank hatten die Richter in Luxemburg klargestellt: Arbeitnehmer haben ein Recht auf eine Begrenzung der Arbeitszeit und auf bestimmte Ruhezeiten, in denen sie der Arbeitgeber nicht behelligen darf. Und sichergestellt wird die Gewährung und vor allem Durchsetzungsmöglichkeit dieser Rechte nur dadurch, dass die Arbeitszeiten systematisch erfasst — also täglich präzise gemessen werden.

Dieses Urteil könnte nun weitreichende Folgen in vielerlei Bereichen haben. Denn der nächste Schritt ist die Umsetzung in nationales Recht, da in Deutschland wie auch in Spanien bis dato nur gilt, dass der Arbeitgeber zwar verpflichtet ist, Überstunden und Sonn- und Feiertagsarbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erfassen, nicht aber eine Komplettaufzeichnung durchzuführen. Nur bei geringfügig Beschäftigten und in traditionell schwarzarbeitsgefährdeten Branchen wie dem Baugewerbe oder der Gastronomie ist dies anders.

Was dort gilt, könnte bald Pflicht für alle werden, jedenfalls wollen es die Europa-Richter so. Der Reigen der Reaktionen auf ihr Urteil war im Frühsommer dieses Jahres so bunt gefächert wie die Interessenlage heterogen: Gewerkschaften freuten sich erst, um dann zu befürchten, dass das gesamte deutsche Arbeitsrecht nun beschäftigtenunfreundlicher werden könnte, Wirtschaftsverbände monierten Realitätsferne, Bürokratie und unverhältnismäßigen Mehraufwand, Modernitätsgläubige kündeten vom Ende des Fortschritts und die Hersteller von Zeiterfassungssystemen feierten einfach.

Eine weibliche Hand mit grün lackierten Nägeln ist so positioniert, als würde sie zeigen, während eine andere Hand das Handgelenk fest umklammert. Der Hintergrund enthält verschwommenen, unleserlichen Text. Das allgemeine Farbschema ist neutral, mit einem Fokus auf die grünen Nägel.

Was ist Arbeitszeit?

In dieser unübersichtlichen Gemengelage ist es nun schwierig, diejenigen Stimmen herauszufiltern, die fachlich fundiert und sachbezogen argumentieren — und dabei auch noch von Spekulationen absehen. Daher vielleicht ein paar grundsätzliche Fragen: Was wollen wir 2019 überhaupt zur Arbeitszeit zählen? Rechtlich ist das weitgehend ausgeurteilt: Das Anziehen spezieller Arbeitskleidung gilt als Arbeitszeit, das Erledigen von E-Mails in der S-Bahn hingegen nicht. In Norwegen zum Beispiel ist Letzteres anders. Überhaupt nicht von Belang sind all die klugen und nützlichen Gedanken beim Joggen oder Duschen, aber umgekehrt dafür die mühselige Anlaufphase mit Kaffee und Seufzen jeden Montagmorgen im Büro.

Tatsächlich arbeiten die Deutschen laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin — und hier jetzt stringent die am Arbeitsplatz verbrachte Zeit — etwa fünf Stunden mehr als vertraglich vereinbart. Diese Daten basieren auf eigenen Angaben, denn systematisch gemessen wird die Größe ja bis dato nicht. Erlaubt sind nach geltendem Arbeitszeitgesetz derzeit übrigens regelmäßig maximal 48 Stunden in der Woche; grundsätzlich müssen zwischen zwei Schichten elf Stunden Ruhe sein. Wer sich als Arbeitgeber nicht daran hält, begeht im Moment nur eine Ordnungswidrigkeit, das kostet maximal 15.000 Euro.

Bundesarbeitsministerium: Konsequenzen bis Jahresende klären

Ist das jetzt gut oder schlecht? Knechten die deutschen Arbeitgeber ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tatsächlich? Die Kläger in Luxemburg jedenfalls brachten vor, dass 53,7 Prozent der in Spanien geleisteten Überstunden nicht erfasst würden. Den Richtern war es darum zu tun, die Arbeitnehmerschaft als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags in die Lage zu versetzen, ihre Rechte durchzudrücken.

Das Kernproblem lösten sie freilich nicht: Denn das Urteil und mit ihm der Ruf nach einer Neuregelung gehen ja davon aus, dass Arbeitgeber vorsätzlich oder fahrlässig Überstunden unter den Tisch fallen lassen. Falls Ersteres der Fall ist, hilft auch eine allgemeine Aufzeichnungspflicht nicht weiter, denn auch die dann verpflichtende Dokumentation kann ja mit falschen Daten bestückt oder gar nicht erst verwendet werden.

Kann es ein Gesetz also überhaupt richtig machen? Nach dem derzeitigen Stand befragt, lässt das Bundesarbeitsministerium auf Anfrage von LOHN+GEHALT verlauten, dass für die Umsetzung von Vorgaben aus EuGH-Entscheidungen — anders als bei EU-Richtlinien (dort in der Regel zwei Jahre) — keine festgelegte Frist gelte. Erfahrungsgemäß und vernünftigerweise werde den Mitgliedstaaten entsprechend Zeit für die Durchführung eines Gesetzgebungsverfahren zur nationalen Umsetzung eingeräumt. Der Minister habe deutlich gemacht, dass er die Frage, welche gesetzgeberischen Konsequenzen aus dem Urteil für Deutschland erwachsen, bis zum Jahreswechsel klären will.

Objektiv, verlässlich und zugänglich — kann das funktionieren?

Objektiv, verlässlich und zugänglich“ will das Urteil das künftige System haben, allerdings dürften die Mitgliedstaaten dabei durchaus den „Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs oder Eigenheiten, sogar der Größe bestimmter Unternehmen“ Rechnung tragen. Tja, wenn das immer so einfach wäre. Objektiv geht schon gar nicht, weil Menschen erfassen, verlässlich dito — und zugänglich? Vielleicht kommt hier gar der Datenschutz schon wieder ins Spiel, in jedem Fall aber eine ganze Menge Aufwand für das Ziel, dem Personal Beweismittel in die Hand zu geben. Und das im Grunde ja nur für den Konfliktfall.

Schießt der Staat damit nicht einmal mehr übers Ziel hinaus? Letztlich ist das auch alles eine Frage des — fairen — Wettbewerbs. Denn wer seine Leute anständig bezahlt, soll keine Nachteile haben. Umgekehrt gilt: Braucht es dazu dieses Maß an Überwachung? Natürlich macht zu viel Arbeit auf Dauer krank, doch wo fängt die persönliche Verantwortung eines jeden Arbeitnehmers an? Und wo endet die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers? Im Grunde geht es um nichts anderes als um das Gezerre am Pendel von Freiheit und Sicherheit, von Chance und Schutz. Und jeder argumentiert naturgegebenermaßen nach seinen Interessen — die sich widersprechen können, aber nicht müssen.

Lieber Chance oder Schutz?

Daran ändert auch ein Urteil aus Luxemburg nichts. Denn wenn die Arbeitszeit erzwungenermaßen reduziert werden müsste, weil sich der Arbeitgeber Mehrkosten sparen will, verringern sich dadurch ja wahrscheinlich die Aufgaben nicht. Stichwort Arbeitsverdichtung. Wünschenswert wäre stattdessen eine bessere Verteilung der Arbeitsmenge, oder? Doch in welchen Branchen wird denn zu viel gearbeitet? Gibt es dort überhaupt genug Personal?

Ganz am Ende dann doch auch noch ein Wort zu den Menschen in den Banktürmen: Gelegentlich führt doch die dort und in vielen karriereorientierten Bereichen gelebte Präsenzkultur zu freiwilligen überlangen Arbeits- oder vielmehr Anwesenheitszeiten. Die Devise lautet: Nur wer da ist, ist wichtig und macht Karriere. Am besten telefoniert man dazu freitags nachmittags noch lange intern. Kennen Sie das? Dann sollten Sie vielleicht auch einfach mal früher Schluss machen.

Auf der linken Seite des Bildes ist eine lächelnde Frau mit langen, welligen braunen Haaren abgebildet. Die rechte Seite des Bildes zeigt einen dunkelgrünen Hintergrund mit weißem Text, auf dem steht: „Alexandra Buba, M. A. Wirtschaftsredakteurin Fuchsmühl.“

 

Diesen Beitrag teilen: