Mythos Agilität : WIE ES EIGENTLICH GEDACHT IST UND WIE ES IN DER PRAXIS (NICHT) LÄUFT
Bekanntermaßen wird ja alle paar Jahre im Bereich HR und/oder Organisation eine neue Sau durchs Dorf gejagt. So mancher Hype verschwindet ebenso schnell wieder, wie er gekommen ist. Ein wenig anders scheint es beim Thema Agilität und agilem Arbeiten zu sein. Was daran liegen mag, dass diese Form der Arbeit ja nicht völlig neu ist. Früher nannte man es flexibles Arbeiten. Allerdings weichen Erwartungen und Erfahrungen beim agilen Arbeiten vielfach stark voneinander ab. Wir schauen uns einmal an, warum das so ist und was in der Praxis so alles falsch gemacht wird.
Die Idee
Agiles Arbeiten soll von der Definition her eine Alternative zu den herkömmlichen Organisationsformen (prozess- oder projektorientiert) darstellen. Der Kundennutzen soll im Mittelpunkt stehen. In agilen Prozessen werden Produkte und Leistungen in rascher Abfolge, aber immer nur in kleinen Teilen entwickelt. Der Fokus liegt auf schnellen Ergebnissen, nicht auf einem durchdachten Gesamtkonzept und einer umfassenden Lösung. Die ergibt sich erst im Laufe der Arbeit. Dadurch bleibt häufig die Qualität auf der Strecke. Zwar kann durch die kurzen und schnellen Wege auf Fehler und Qualitätsmängel schneller reagiert werden als in herkömmlichen Organisationsstrukturen, die Häufigkeit der Fehler und Unzulänglichkeiten ist aber höher — was nicht immer im Sinne des Kunden und des Unternehmens ist.
Die meisten Unternehmen beginnen agiles Arbeiten in der IT. Wo es auch am ehesten Erfolge zeigen kann. Dabei kommen Mitarbeiter aus den verschiedensten Bereichen zusammen und arbeiten gemeinsam an einem Projekt. Die Fachleute, die IT-Spezialisten, Datenschützer, Buchhalter, PÖ-Profis usw. Das Besondere an dieser Form der Projektarbeit ist der weitgehende Verzicht auf Hierarchien — jeder Projektmitarbeiter hat die gleichen Rechte, ein Vetorecht ist grundsätzlich nicht vorgesehen. Ziel ist es, auch ungewöhnliche Ideen oder Blickwinkel nicht auszugrenzen sondern in die Entwicklung mit einzubeziehen. Der Blick über den eigenen Tellerrand, der Verzicht auf die Schere im Kopf, all das soll bei der Ergebnisfindung helfen und ungewöhnliche Wege und Ergebnisse ermöglichen.
Innerhalb eines begrenzten Zeitraums sollen sich die Projektteilnehmer ausschließlich auf das Projekt und dessen Ergebnisse fokussieren. Sie sollen frei und von der normalen Arbeit losgelöst, ohne direkte und einschränkende Weisungen ihres Vorgesetzten denken und arbeiten können. Ein Projektleiter — soweit vorhanden — ist als primus inter paris für die Organisation und die zeitliche Zieleinhaltung verantwortlich, weisungsbefugt ist er darüber hinaus nicht.
Soweit die Idee — die durchaus funktionieren und tatsächlich besonders kreative und ungewöhnliche Ergebnisse produzieren kann.
Das braucht es für agiles Arbeiten unbedingt
Um in einem Unternehmen agiles Arbeiten sinnvoll und erfolgreich einsetzen zu können, müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt und bestimmte (Er-)Kenntnisse vorhanden sein — sonst kann es nicht klappen.
- Das Management muss verstehen was Agilität wirklich bedeutet.
- Das Management muss agiles Arbeiten wirklich wollen und nicht nur mitmachen, „weil es alle machen“.
- Es muss eine entsprechende Fehlerkultur und einen langen Atem geben, denn agiles Arbeiten bringt nicht unbedingt auf Anhieb perfekte Ergebnisse.
- Bei agilen Methoden steht das Ziel bzw. das gewünschte Ergebnis nicht von vornherein fest — es muss erst im Rahmen der Arbeit entwickelt werden.
- Nicht jedes Projekt ist für agile Methoden geeignet. Was nicht ausschließt, dass man im Einzelfall im Rahmen eines „klassischen“ Projektes auch einzelne agile Methoden anwendet. • Agiles Arbeiten muss man lernen.
- Die Techniken für agiles Arbeiten muss man lernen.
- Die Projektteilnehmer müssen für die Dauer des Projektes aus der bisherigen Hierarchie herausgelöst werden.
- Agiles Arbeiten geht manchmal schneller als die klassische Arbeit — aber eben nicht immer. Es kann auch mal länger dauern. Ungeduld ist der Feind kreativer Ergebnisse.
- Die Projektteilnehmer sind — an ihrem üblichen Arbeitsplatz — nicht da! Sie müssen für die Dauer des Projektes zu 100 Prozent vertreten werden.
- Agiles Arbeiten findet am besten „fern der Heimat“, also abseits des bisherigen Arbeitsplatzes statt.
Die Praxis
Die Frustration ist häufig groß. Hatte man sich doch von der Agilität — gerade beim Management — soooo viel versprochen. Und dann hakt es plötzlich an vielen Ecken und die Mitarbeiter ziehen nicht richtig mit — warum?
Dass die Einführung von agilen Prozessen im Unternehmen nicht so ohne weiteres funktioniert, hat eine Vielzahl von Gründen. Beginnen wir mit dem Selbstverständnis — des Unternehmens und der Mitarbeiter.

Wer über Jahre oder gar Jahrzehnte in festen Strukturen und Hierarchien gearbeitet hat, kann nicht einfach einen Schalter umlegen und plötzlich „agil“ sein — nur weil das Management das so möchte. Die Einführung von agiler Arbeit in einem Unternehmen ist ein langfristiger Prozess, mit vielen Rückschlägen und Frustrationen. Die Hoffnung, dass am Ende alles besser wird und Agilität funktioniert, stirbt häufig zu früh, weil zu viel Ungeduld bei allen Beteiligten herrscht.
Wichtiger Faktor: Die Fehlerkultur des Unternehmens. Wer es gewohnt ist, mit höchster Qualität und Präzision zu arbeiten, Fehler um jeden Preis zu vermeiden — insbesondere weil ihm sonst Ärger und Konsequenzen drohen — tut sich naturgemäß schwer mit agilem Arbeiten. Geht es hier doch in erster Linie um schnelle Lösungen, bei denen Fehler und Unzulänglichkeiten eher beiläufig und zwischendurch angepackt werden. Wer anderes gewohnt ist und kein Vertrauen in die Fehlerkultur des Unternehmens hat (häufig aufgrund gemachter Erfahrungen), wird sich mit dem Prinzip der Agilität nicht anfreunden können.
Man muss unterscheiden, ob ein Unternehmen die Agilität für einzelne Projekte nutzen oder sich komplett umstellen möchte. Die jeweils typischen Fehler sind zwar unterschiedlich, aber gleichermaßen gravierend.
Wird die Agilität für einzelne Projekte genutzt (häufig IT-bezogene Projekte mit Beteiligung der Fachabteilung), ist ein häufiger Fehler die mangelnde Abgrenzung. Die Mitarbeiter werden zwar in das Projekt entsandt, aber nicht konsequent aus ihrem bisherigen Arbeitsfeld herausgelöst. Es fehlen Vertretungsregelungen, es gibt keine vernünftige Übergabe an einen Vertreter, dieser muss alles „so nebenbei“ machen, was seine Motivation und Engagement in engen Grenzen hält. So wird der Projektmitarbeiter „nebenbei“ immer wieder auch mit seinem Tagesgeschäft konfrontiert, muss dort eingreifen oder „Feuerwehr“ spielen. Wie man so den Kopf wirklich frei bekommen soll für neue Ideen und Formen, bleibt ein Rätsel.
Weiteres Problem sind die Führungskräfte, die häufig nicht loslassen können. Im günstigsten Fall wollen sie von ihrem Mitarbeiter wissen, was er eigentlich so den ganzen Tag im Projekt treibt, während seine eigentliche Arbeit liegen bleibt. Im ungünstigen Fall wird die Führungskraft seinem Mitarbeiter in die agile Arbeit reinreden, Anweisungen erteilen, konkrete Erwartungen äußern, wie das Projektergebnis aus seiner Sicht aussehen sollte und, und, und. Das solches Vorgehen den Mitarbeiter in seiner Freiheit hemmt, seine Kreativität einschränkt und leicht das ganze Projekt zum Scheitern bringen kann, liegt auf der Hand.
Soll das ganze Unternehmen „agil“ werden, kommt noch ein weiteres Problem hinzu: Die meisten Mitarbeiter haben ein — durchaus menschliches — Bedürfnis nach Ruhe, Routine, klaren Strukturen und Aufgabenstellungen. Für ein ständiges agiles Arbeiten sind nur wenige wirklich geeignet — besonders mental. Dieser menschliche Faktor wird vom Management und den Verfechtern agilen Arbeitens gern übersehen. Es funktioniert ja meist auch für eine gewisse Zeit. Nur das die betroffenen Mitarbeiter unter der ungewollten Situation leiden. Fehlende Motivation (bei agilem Arbeiten ein K.O.-Kriterium), Stress und letztlich gesundheitliche Probleme sind die Folge. Natürlich gibt es Mitarbeiter, die agiles Arbeiten schätzen und denen man keinen größeren Gefallen tun kann — die Regel sind sie aber nicht. Wer ständig Unruhe sät, wird Totenruhe ernten — Mitarbeiter ohne Motivation, ohne Engagement, ohne Freude an der Arbeit.
Fazit
Agiles Arbeiten hat seine Wurzeln im IT-Bereich. Dort kann es — mit den richtigen Voraussetzungen — gut funktionieren. In anderen Bereichen kann Agilität für einzelne Projekte oder Aufgabenstellungen gut, richtig und sinnvoll sein. Wenn es richtig gemacht wird, die Rahmenbedingungen stimmen, die Vorgesetzten und die Mitarbeiter „mitgenommen“ werden. Eine Umstellung des ganzen Unternehmens auf agiles Arbeiten birgt ein hohes Risiko des Scheiterns, der langfristigen oder gar dauerhaften Verschlechterung von Qualität und Produktivität sowie Schwierigkeiten mit den Mitarbeitern.
