Arbeitswelt im Wandel : Love it or leave it?
Wäre es nicht purer Wahnsinn, zu glauben, die Arbeitswelt könne bleiben, wie sie ist, während sich alles andere verändert? Zwischen den Generationen finden gerade Grabenkämpfe um Glaubenssätze statt. Jüngere werden von älteren „Medieninfluencern“ pauschal zur arbeitsscheuen „Hafermilchgeneration“ deklariert, während die Sinnfrage – gerade in Bezug auf die Arbeitswelt definitiv nicht grundlos – an Bedeutung gewinnt. Wo und warum ist unsere „Zündschnur“ einfach kürzer geworden, wo darf der Knoten endlich platzen und wie können wir Feuerwerke entfachen, die Leucht- und Signalkraft für die Zukunft haben?
Von Luftblasen und Liebe kann keiner wirklich leben. Kraft und Wille – zu Leistung und Veränderung – müssen gleichzeitig genährt werden. Was aber „Wachstum“ (für alle) bedeutet – wirtschaftlich und persönlich –, steht für jeden Einzelnen so zur Debatte wie schon sehr lange nicht mehr. Wo müssen wir auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite künftig genauer hinsehen, schneller und besser entscheiden? Wie gestalten wir sinnvolle und symbiotische Arbeitssysteme, in denen der Einzelne seinen gesunden und gerechten Platz einnehmen kann?
Warum und wie wird die Liebe zur Arbeit gerade jetzt wachsen wollen und können, wo sie vielleicht längst auf einem der härtesten Prüfstände steht, den es seit 1945 gibt? Mehr als einen Ausblick auf das Jahr 2024 zeigen die vier starken Positionen von Marion Lichti, Sandra Einhoff, Silvija Franjic und Janette Rosenberg mit Möglichkeiten einer wichtigen Weichenstellung für die Zukunft.
Business Impact „gesoftet“?
„Weiche“ Themen wie eine wertschätzende Kultur, Wellbeing & Mental Health sollten nicht „nice to have“, sondern Business Impact sein. Denn die Krankheitstage pro Mitarbeiter*in in Deutschland pro Jahr liegen im Schnitt bei 15 – die Kosten, um einen Mitarbeiter* in, der kündigt, adäquat zu ersetzen, summieren sich schnell mal auf 12 bis 24 Monatsgehälter. Fehlende Verbindlichkeit bei der Arbeit könnte hier einer der größten Fehler sein, wenn man (langfristig) auf gute Prognosen bauen will. Das gilt insbesondere für die kreative und lösungsorientierte Arbeit. Warum gilt es, sich von der klassischen Denkstruktur, Mitarbeiter*innen seien (lediglich) „Human Resources“, „Personalstock“ oder Ähnliches, endlich endgültig zu verabschieden?
Marion Lichti: Menschen sind keine Maschinen. Menschen haben Emotionen und Bedürfnisse. Zufriedene Menschen haben keinen Grund, etwas an ihrem Leben zu ändern. Es macht durchaus Sinn, wenn Arbeitgeber*innen neben der leistungsgerechten Entlohnung auch in die Mitarbeiterzufriedenheit investieren. Dazu gehört es, Bedürfnisse ernst zu nehmen und ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das wertschätzend ist und kreatives Denken fördert. Eine Arbeitskultur, die unterstützend ist statt konkurrierend.
Es ist entscheidend, ob Unternehmen ihre Mitarbeiter*innen lediglich als Leistungserfüller*innen oder als zentrales Element betrachten. Mein Arbeitgeber verfolgt das Ziel, 500 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen, was die Perspektive verändert und die Bedeutung jedes Einzelnen hervorhebt. Der Fokus liegt auf dem Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen, sowohl körperlich als auch geistig. Das Inklusionsunternehmen beschäftigt zwei Betriebssozialarbeiter, die für alle Mitarbeiter*innen zugänglich sind. Ein diesjähriger Gesundheitstag bot Gelegenheit, das Immunsystem, das biologische Alter und die Beweglichkeit zu messen sowie Tipps für ein gesünderes Leben zu erhalten.
Gesunde, zufriedene Mitarbeiter* innen, die sich am Arbeitsplatz wohlfühlen, Ideen teilen und innovative Lösungen entwickeln können, zeigen eine geringe Neigung zum Jobwechsel. Dies erfordert menschenorientierte Ansätze, Führungsschulungen und die Verpflichtung zu Unternehmenswerten.
Sandra Einhoff: Ich kenne Unternehmer* innen, die ihre Mitarbeitenden als „notwendigen Input“ betrachten, als einen Produktionsfaktor, um möglichst viel Output hervorzubringen. Wir Menschen haben individuelle Bedürfnisse, Wünsche und Werte, die gesehen und respektiert werden wollen. Insbesondere die junge Generation sieht es nicht mehr ein, sich von der Arbeit „kaputtmachen zu lassen“.
Gerade durch die Ansätze von Wellbeing & Mental Health wird eines immer klarer: Arbeitszeit ist Lebenszeit! Es sollte normal und nicht die Ausnahme sein, erfüllende Momente auch im Arbeitskontext zu erleben. Daher braucht es Organisationen, die aufrichtiges Interesse an den Menschen haben, die MIT ihnen arbeiten. Dann werden die Mitarbeitenden sich mit all ihren Fähigkeiten und mit voller Leistungsbereitschaft einbringen.
Silvija Franjic: Fehlende Verbindlichkeit bei der Arbeit ist einer der größten Fehler, auch wenn man (wirtschaftlich) auf gute Prognosen bauen will. Mitarbeiter*innen arbeiten am liebsten mit Menschen bzw. Vorgesetzten, auf die sie sich verlassen können, die transparent kommunizieren und ehrlich sind. Wie will man als Unternehmer* in verbindliche und zuverlässige Leistungen oder auch Loyalität erwarten, wenn man selbst nur schwammige Aussichten bietet?
Die soziale Verantwortung von Führungskräften wird immer noch viel zu sehr unterschätzt. Unternehmen brauchen nicht nur motivierte, sondern vor allem gesunde Mitarbeiter*innen, die auch morgen noch in der Lage sind, leistungsfähig zu sein. Eine aktuelle MIT-Studie zeigt: Wer zufriedener ist, ist um 12 Prozent produktiver. Wer zu wenig auf „weiche“ Faktoren baut, wird das (noch) knallhart merken. Die Toleranzgrenzen sind ja längst in Bewegung geraten.
Janette Rosenberg: Was empfinden wir als unpersönlich, veraltet oder negativ? Den Begriff „Human Resources“, „Personalstock“, „Arbeitskraft“ oder „Arbeitnehmer“? Meine Wahrnehmung bei diesen Begriffen ist eher subjektiv und in manchen Kontexten können diese als unpersönlich oder veraltet empfunden werden. Was ich aber feststelle, ist, dass „moderne“ Unternehmen oft nach einer menschenzentrierten Sprache streben, wo klar die Wertschätzung und Individualität der Mitarbeiter*innen betont wird. Es findet ein Wandel der Sprache statt.
Und nicht nur das. In der Tat durchlebt die Arbeitswelt ständig Veränderungen, sei es durch technologischen Fortschritt, gesellschaftliche Entwicklungen oder andere Einflüsse. Wer glaubt, dass die Arbeitswelt unverändert bleiben kann, während sich alles um einen herum verändert, wird schnell feststellen, dass diese Annahme unrealistisch ist.
Alles erfordert Anpassungsfähigkeit und Offenheit für den Wandel, von beiden Seiten – von Unternehmen und Mitarbeitern. Unternehmen müssen flexibel auf Veränderungen reagieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben, Mitarbeiter* innen hingegen müssen ihre Fähigkeiten kontinuierlich weiterentwickeln, um den Anforderungen einer sich wandelnden Arbeitswelt gerecht zu werden.
Lebenslanges Lernen inklusive?
Die einen feiern künstliche Intelligenz (KI) bereits wie die „heilige Kuh allen Wissens“, während andere sie als Tod der Kreativität, der Authentizität und des echten (und ehrlichen) Schöpfertums verteufeln. Dürfen wir uns das Denken bald „abnehmen“ lassen? Steht das im Widerspruch dazu, dass Arbeit absolut agil werden muss und alle sich darauf einrichten müssen, ihr gesamtes Arbeitsleben zu lernen? Passt das noch zum Wunschbild der Selbstbestimmung, zu arbeiten, wie man will? Und werden wirklich alle mitmachen und Schritt halten können?
Marion Lichti: Maschinen sind vermeintlich frei von persönlichen Gefühlen, kulturellen Werten und gesellschaftlichen Normen. Doch sie werden von Programmen gestseuert, die von Menschen mit eigenen Emotionen, Werten und Normen geschrieben wurden – eine faszinierende Kombination.
Die Möglichkeit der technologischen Singularität, in der künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft und sich selbst optimiert, wirft spannende Fragen auf. ChatGPT 3.5 hat das Abitur nicht bestanden, aber was werden zukünftige Versionen wie ChatGPT 7.0 oder 8.5 können? Das ist schwer vorhersehbar.
Aktuell entwickelt sich KI nicht autonom weiter, daher müssen wir weiter lernen. Laut dem Hirnforscher Gerald Hüther ist das positiv, da der Mensch ein natürliches Verlangen hat, zu lernen, angefangen im Mutterbauch bis weit über das Rentenalter hinaus. Damit alle Schritt halten können, ist Unterstützung notwendig, und hier kommt die Technologie ins Spiel.
Technologische Tools wie Vorlesesoftware, Einhand-Tastaturen und Apps, die Texte in einfache Sprache übersetzen, erleichtern den Alltag. Es wäre ideal, wenn die Technologie dem Menschen dient und gleichzeitig den Planeten schützt. Das erfordert gemeinsame Anstrengungen, um die technologische Entwicklung kritisch, aber auch mit Spaß am Ausprobieren zu gestalten.
Sandra Einhoff: Das Ziel von KI sollte darin liegen, unsere Fähigkeiten zu unterstützen, statt sie ersetzen zu wollen. Agiles Arbeiten beinhaltet mehr, als effizient zu sein und automatisierte Prozesse zu haben. Was uns immer von Maschinen unterscheiden wird, sind unsere Emotionen, unsere Empathie und die individuelle Kreativität.
In unserer schnelllebigen Zeit und dem rasanten technischen Fortschritt sollten wir eines niemals vergessen: wie entscheidend und wertvoll eigenständiges Denken für uns ist. Wer immerzu das Denken an die KI abgibt, läuft Gefahr, die Fähigkeit zu verlieren, eigene Problemlösungen zu finden und kreative Entscheidungen zu treffen. Wie immer geht es um die richtige Balance. Es geht darum, einen bewussten und ausgewogenen Umgang mit der KI zu finden.
Silvia Franjic: Nicht nur die Anforderungen an die Arbeitsbedingungen müssen fair und realistisch bleiben, sondern auch die Entwicklungserwartung. Kreativität und Innovationen brauchen außerdem Raum und können nicht gänzlich durch errechnete Routinen ersetzt werden. Das Wunderbare am menschlich produzierten Unberechenbaren, Überraschenden darf keinesfalls verloren gehen.
Es gibt Jobs, und es wird sie weiter geben, da ist wenig „Bewegung“ drin. Die Mitarbeiter*innen dafür wird es (weiterhin) brachen, das muss (auch) geschätzt werden. Technik und KI sollten weitestgehend unterstützen, nicht zu schnell und zu blind „ersetzen“. Es werden clevere Kompromisse erforderlich sein (für alle). Nicht jeder kann parallel sein Wunschkonzert spielen – so funktioniert das Zusammenarbeiten (auch mit KI) nicht.
Janette Rosenberg: Der „KI“-Horror – eine dystopische Zukunft droht, in der hochentwickelte Roboter und KI die Kontrolle übernehmen. Ein Film, den ich mit meinem Sohn gesehen habe, „Die Mitchells gegen die Maschinen“, behandelt humorvoll die Beziehung zwischen Mensch und Technologie, besonders im Kontext von KI. Er betont die menschliche Unberechenbarkeit und Kreativität im Gegensatz zur scheinbaren Ordnung der Roboter.
Viele in der Gesellschaft fürchten eine Übernahme durch KI, aber die Realität ist komplexer. KI sollte als Werkzeug für Fortschritt und Innovation betrachtet werden, mit dem Potenzial, effiziente Lösungen für komplexe Probleme zu bieten. Wichtig ist, zu bedenken, dass KI-Systeme von Menschen entwickelt und kontrolliert werden.
Eine erfolgreiche Integration von KI und lebenslangem Lernen erfordert, die positiven Aspekte von KI zu nutzen und gleichzeitig die menschliche Kreativität zu schützen. Unternehmen sollten eine unterstützende Lernkultur fördern, in der Mitarbeiter*innen ihre Lernwege selbst gestalten können, um mit den neuen Technologien Schritt zu halten.
Alles eine Frage der Sprache?
Der Drogeriekonzern dm ist dieses Jahr dazu übergegangen, seine Auszubildenden Lernlinge zu nennen. Das klingt nicht so hierarchisch, aber vielleicht doch eher niedlich. Wie kann nicht nur Sprache dazu beitragen, Geschlechtergerechtigkeit und mehr Inklusion und Vielfalt (auch in der Arbeitswelt) zu erreichen? Wo liegen die größten Denkfehler in den aktuellen Mindsets, sowohl von Arbeitgebern als auch von Arbeitnehmern? Wann sollten wir Grenzen (selbst) ziehen?
Marion Lichti: Sprache formt Realität und kann Dinge sichtbar machen. In der Kommunikationsbranche sehe ich, wie Sprache Menschen beeinflusst. Problematisch wird es, wenn die Sprache nicht das notwendige Instrumentarium bietet. Begriffe wie Meister, Schüler, Lehrer, Minister sollen beide Geschlechter inkludieren, erzeugen jedoch oft nur männliche Bilder. Frauen gelten in der Vorstellungswelt als unsichtbar, doch in der Sprache selbst sind eigentlich die Männer unsichtbar.
Die Ungerechtigkeit dieser Situation verwundert mich, und ich frage mich, warum Männer nicht schon längst eigene Suffixe eingefordert haben. Als Inklusionsunternehmen betrachten wir auch die Sprache kritisch, besonders im Kontext von Barrieren und Behinderungen.
Begriffe wie „Handicap“ haben historische Hintergründe, die weniger freundlich sind. Ein „behinderter Mensch“ hat zwei Bedeutungen: Er ist behindert und wird behindert. Oft sind Barrieren, ob real, digital oder in den Köpfen, das größere Problem als die Behinderung selbst.
Der Fachkräftemangel in Deutschland wird in Frage gestellt, wenn gut ausgebildete behinderte Menschen überdurchschnittlich lange arbeitsuchend sind. Oder ist der Mangel so gravierend, dass (unbewusste) mentale Barrieren das Hauptproblem sind? Ich glaube daran, dass Sprache dazu beitragen kann, Dinge ins Bewusstsein zu rufen und neu zu bewerten.
Unternehmen wie dm oder Fachkräfte im Bereich der Geburtshilfe nutzen bewusst sprachliche Anpassungen, um eine aktivere Rolle zu betonen. Es ist wichtig, bewusst auf die Stärken der Mitarbeitenden zu achten, unabhängig von etwaigen Vorurteilen oder Einschränkungen. Auf dem Arbeitsmarkt sollten wir uns darauf konzentrieren, die individuellen Fähigkeiten und das wirtschaftlich nutzbare Potenzial zu erkennen. Die Einstellung, den Fokus auf das zu legen, was jemand kann, wirkt positiv für alle Mitarbeitenden, unabhängig von etwaigen Einschränkungen.
Sandra Einhoff: Ich beobachte immer mehr den Trend, dass Unternehmen wegkommen von festen Einstellungskriterien wie Abschlüssen oder langjähriger Berufserfahrung. Dafür wird immer wichtiger, ob neue Mitarbeitende zum Unternehmen passen. Die Facettenvielfalt innerhalb der Belegschaft gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Wer beispielsweise die Einstellung von Müttern begrüßt, hat verstanden, diese Potenziale für die Arbeitswelt zugänglicher zu machen.
Mehr Vielfalt ermöglicht verbesserte Innovationen; es werden bessere Entscheidungen getroffen. Darüber hinaus zieht eine solche Unternehmenskultur neue begabte Mitarbeitende an und führt zu einer tieferen Bindung zur bereits bestehenden Belegschaft.
Silvia Franjic: Wenn viel mehr Marketing als Mensch drinsteckt, tun sich Unternehmen keinen Gefallen mit „falschen Parolen“. Verantwortliche und Vorgesetzte müssen sich klar sein, dass sie immer mehr als Vorbild gefordert sind. Mit Wahrheit und Glaubwürdigkeit hat man es in der Hand, Unternehmensziele, Werte und Unternehmenskultur lebendig zu machen, weil eben auch Geld und materielle Werte als einzige Anreizsysteme nicht mehr (wie bisher) funktionieren.
Es geht – nicht nur sprachlich – darum, gemeinsame Visionen und Missionen auf den Weg zu bringen, welche verbinden, Transparenz schaffen und den Leistungswillen fördern – vor allem durch die intrinsische Motivation der Arbeitnehmer. Begeisterung durch starke Kommunikation, die echte Mehrwerte schafft, ist gefragter denn je. Aber es müssen unbedingt auch Taten folgen. Mitarbeiter*innen sollten sich nicht ewig hinhalten, vertrösten und schon gar nicht wortreich „verschaukeln“ lassen.
Janette Rosenberg: Wie bereits erwähnt, erleben wir einen Wandel der Sprache, der ein bedeutender Schritt ist, insbesondere zur Förderung von Geschlechtergerechtigkeit und Inklusion. Hierarchien müssen aufgebrochen werden, denn Sprache kann nicht nur Machtstrukturen widerspiegeln und verstärken, sondern hat auch das Potenzial, Denkweisen zu verändern. Leider neigen Unternehmen immer noch dazu, sich an etablierte Bezeichnungen und Hierarchien zu klammern, und einige Mitarbeiter*innen sind ebenfalls in alten Denkmustern gefangen. Sie erkennen möglicherweise nicht die Möglichkeit, mit einer inklusiveren Sprache eine offene und vielfältige Arbeitsumgebung zu schaffen. Jeder von uns sollte aktiv nach Möglichkeiten suchen, seine eigenen Grenzen zu ziehen. Dies erfordert eine kontinuierliche Reflexion über die eigene Denkweise und die Bereitschaft, sich neuen Ideen zu öffnen.
Geht es wirklich – wieder und immer weiter – letztlich doch immer nur um (knallhartes) Business oder ist jetzt endlich (allerhöchste) Zeit für die richtige „Gefühligkeit“ in der modernen Arbeitswelt? Wo die einen noch auf der Arbeitnehmermarktwelle dahergeschwommen kommen, sind zur Jahresmitte die Einstellungsraten zurückgegangen. Unsere Arbeitswelt muss (wieder) zu einem Ort werden, an dem Menschen ihren Platz finden und gleichzeitig etwas erschaffen und erwirtschaftet wird – auch angesichts von Krisen, Kriegen und hochgesteckten neuen Zielen, Werte und Lebensentwürfen. Wie schaffen wir Raum für die gesunde Mitte, echtes Miteinander und (mehr) Menschlichkeit? Wo hat jeder (wirklich) die Wahl?
No challenge, no growth?
Während die Linke die Abschaffung der Schulnoten fordert, fürchten manche Wirtschafts- und Psychologenkreise, dass bei sinkendem Intelligenzquotienten (IQ) und dem „Einser-Abitur und Studium für alle“ die Leistungsstandards in Wirtschaft und Gesellschaft weiter runter- bzw. völlig den Bach runtergehen. Hinzukommen soll, dass der ständige Arbeitsplatz- und Berufswechsel das „New Normal“ werden soll. Da stellt sich gleichzeitig die Frage, ob „höher, weiter, schneller“ so weitergehen darf, wenn erste „Start-up-Burnouts“ schon wieder grüßen lassen. Wir wachsen sehr wohl, indem wir leisten – erreichte Erfolge sind die verdiente Ernte. Wie sehr laufen wir aber (weiterhin) Gefahr, in einem Wirtschaftssystem, das von Wachstum lebt, uns letztlich selbst einzuholen?
Marion Lichti: Schulnoten spiegeln nicht alle Aspekte von Leistung und Fähigkeiten wider. Leistungsbewertungen können Menschen zu Erfüllungsgehilfen degradieren, die einfach nur noch das tun, was von ihnen verlangt wird. Sie denken nicht mehr selbstständig, sondern reproduzieren Meinungen. Sie kritisieren nicht, hinterfragen nicht, stören nicht, scheitern nicht und entwickeln keine neuen Ideen. Wo im Zeugnis stehen Eigeninitiative, Loyalität, kritisches Denken, gute Ideen, Umsetzungsstärke, lösungsorientiertes Handeln?
Ich bin nicht gegen Schulnoten, aber Chancengleichheit ist entscheidend für eine zukunftsorientierte Gesellschaft. Noten sind nie neutral und decken nicht alle Kompetenzen ab. Mein Arbeitgeber ermöglicht Menschen aus Werkstätten für behinderte Menschen Langzeitpraktika, um verschiedene Bereiche zu erkunden.
Frauen haben oft bessere Schulnoten, sind besser ausgebildet, aber im Arbeitsmarkt weniger präsent und verdienen weniger. Menschen mit Behinderung sind besser ausgebildet, aber arbeitsuchend. Mehr Bildung ist nicht immer die Lösung; es braucht Zugang vom Bildungsmarkt zum Arbeitsmarkt und weniger Barrieren zwischen Familien- und Erwerbsarbeit.
Sandra Einhoff: Wie zufrieden wir mit unserer Arbeit sind, hängt schon lange nicht mehr nur davon ab, wie viel Geld wir mit nach Hause bringen. Insbesondere die jüngere Generation strebt einen Arbeitsplatz an, der sinnvoll und erfüllend ist. Statt unaufhörlich auf mehr Konsum zu setzen: Wie schön wäre eine Wirtschaft, die auf die Produktion von hochwertigen und langlebigen Produkten und Dienstleistungen setzt?
Wie schön wäre es, wenn wir Menschen weniger, dafür besser ausgewählte Dinge besitzen würden? Eben einfach: weniger, dafür besser?! Wann erreichen wir den Zustand, dass es gut genug ist? Ich glaube, es würde uns allen guttun, etwas minimalistischer zu leben.
Silvia Franjic: Arbeiten entwickelt sich, wie alles andere in unserem (Arbeits-)Leben. Gerade das Lernen und die Erfahrungen außerhalb der Kerndisziplinen erweitern den Denkhorizont erheblich. Nicht jeder ist dafür gemacht, zu reflektieren, zu hinterfragen, eine „gute“ kritische Art oder gesunde Skepsis zu entwickeln. Damit Mitarbeiter* innen lernen, sich selbst einzuschätzen, erreicht man qualitative Aussagen am besten ohne emotionalen Druck und ohne „Bedrohung“ der Existenz – mit einem Interesse an echter Einschätzung. Wir können nicht endlos pushen und peitschen, was nicht heißt, dass man nichts mehr erwarten oder fordern darf.
Wenn es nach den Unternehmen geht, dann gehören Resilienz und ein agiles Mindset zu den Top-Fähigkeiten, genauso wie Networking- Skills und international zu kommunizieren und zu kooperieren. Das muss alles irgendwo her- und hinzukommen, trainiert und gefördert werden und fällt zu keinem Zeitpunkt „vom Himmel“. Am Ende zählt das Ergebnis, daran sind letztlich auch „alle“ beteiligt.
Janette Rosenberg: Warum führen wir überhaupt Diskussionen über Schulnoten, den IQ und den Wandel der Bildungslandschaft? Die Praxis zeigt uns doch, dass das eigentlich nicht notwendig ist. Nur weil jemand schlechte Noten hat, heißt das nicht, dass er in der Praxis schlecht ist. Es ist wichtig zu betonen, dass Bildung nicht ausschließlich auf akademische Leistungen reduziert werden sollte. Ein ganzheitlicherer Ansatz, der die Entwicklung von sozialen, emotionalen und praktischen Fähigkeiten einschließt, ist notwendig.
Veränderungen sollten nicht zu einer Absenkung von Qualitätsstandards führen, sondern vielmehr die Diversität der Talente und Potenziale fördern. Es ist entscheidend, dass Bildungssysteme Flexibilität bieten und die individuellen Stärken der Schüler*innen besser berücksichtigen.
Unsere ständigen Diskussionen über Arbeitsplatz- und Berufswechsel als das „New Normal“ werfen für mich Fragen zur Work- Life-Balance und dem Wohlbefinden der Arbeitnehmer*innen auf. Unternehmen sollten nicht nur eine nachhaltige Unternehmenskultur fördern, sondern auch eine individuelle Work-Life-Balance ermöglichen.
Solange wir unsere Denkweisen und Handlungen nicht ändern, werden wir immer mit der Frage nach dem „höher, weiter, schneller“ konfrontiert sein. Es ist an der Zeit, dass jeder von uns selbst verantwortlich für sein Handeln und Denken wird, um eine ausgewogenere und nachhaltigere Arbeitswelt zu schaffen.
Bewerber – Bittsteller oder Bestimmer?
Auch Recruiting-Prozesse bzw. die Bewerbungen unterliegen stets dem Trend der Zeit. Also gelten Anschreiben mittlerweile als „komplett“ überflüssig, weil sie in Sekundenschnelle von einer KI verfasst werden könnten. Kurze Videos oder Websites seien hier nun gefragt. Wie viel (neue) „Vorformatierung“ verträgt der Mensch (noch), wenn er als solcher eingestellt werden soll? Ist das alles immer noch zu sehr eine Frage der Verstellung? Es gibt natürlich Berufsbereiche, da ist der Bewerber inzwischen „King“ und kann quasi „alles“ fordern. Andersherum kapieren immer noch zu wenige Unternehmen, dass der Bewerber als „eierlegende Wollmilchsau“, die endlos allen Forderungen folgen muss (bzw. wird), immer weniger auf dem Arbeitsmarkt zu finden ist. Was würde man heute seinem jüngeren „Bewerber- Ich“ sagen (bzw. raten), wenn man es könnte? Und was seinem künftigen Chef?
Marion Lichti: Da stellen Sie die Gretchenfrage für das mittlere Management. Mich persönlich hat die Frage inspiriert: Wie will ich heimkommen? Mit welcher Energie will ich nach einem Erwerbsarbeitstag der Hausarbeit und der Familienarbeit nachkommen? Und wie will ich mich selbst am Abend im Spiegel wahrnehmen?
Dazu passen gut die Führungswerte, die wir seit diesem Jahr in unserem Inklusionsunternehmen definiert haben. Die Ausgangsfrage lautete: Nach welchen Prinzipien wollen wir in unserem Unternehmen führen? Die Antwort: mit Klarheit, Energie, Haltung und Reflexion.
Sehr oft gehört es zu meinem Job als Führungskraft (sowohl im Beruf als auch in der Familie), Klarheit zu schaffen und Energie zu erzeugen. Das kann, denke ich, jeder nachvollziehen. Zu den beiden anderen Werten, Haltung und Reflexion, hatten wir Schulungen. Da geht es stark um einen selbst. Welche Haltung nehme ich ein? Was gebe ich an das Team weiter? Bin ich ehrlich (auch mir selbst gegenüber)? Wie mache ich aus den vorhandenen Mitteln das Beste? Wie finde ich Schwachstellen heraus? Und wie thematisiere ich Konflikte angemessen? Es ist nicht immer leicht, im Arbeitsalltag die Zeit dafür zu finden. Aber das ist wichtig und meine klare Empfehlung sowohl an meine Chefin als auch an mein ehemaliges und vielleicht mal zukünftiges Bewerber- Ich.
Also, King oder Wollmilchsau, wir alle sind Menschen mit Stärken und Schwächen. Die Beziehung, die wir zueinander pflegen, ist wichtig. Und da können Klarheit, Energie, Haltung und Reflexion ziemlich coole Stützen sein.
Sandra Einhoff: Meinem jüngeren Bewerber-Ich würde ich sagen: Vertraue auf deine Fähigkeiten, vertraue dich dem Fluss des Lebens an. Entscheide mit dem Bauch, nicht mit dem Kopf. Wähle das, was dich glücklich macht. Wähle das, was dich morgens mit einem Lächeln im Gesicht aufstehen lässt. Auch wenn ich rückblickend wohl andere berufliche Entscheidungen getroffen hätte, weiß ich eines ganz sicher: Jede berufliche Etappe, jeder Rückschlag, jede vermeintliche Fehlentscheidung ist letzten Endes für mich passiert. All die Wege, die ich eingeschlagen habe, haben mich dahin gebracht, wo ich heute stehe.
Meinem künftigen Chef würde ich sagen: Lass uns im Team agieren! Begrüße Fehler und bestrafe sie nicht. Denn jeder weiß: Aus Fehlern lernen wir am besten. Eben ganz nach dem Motto: Wir können gewinnen oder lernen.
Silvia Franjic: Menschen folgen Menschen und keinen Karriereseiten. Wer schon den Bewerbungsprozess mit (unnötigen) Hürden spickt, sichert sich weder Leistungswillen noch Begeisterung. Das junge Bewerber-Ich sollte sich nicht (immer weiter und wieder) auf Versprechen verlassen, sich hinhalten und vertrösten lassen, mit mickrigen jährlichen Gehaltserhöhungen, während es eine „tolle Herausforderung“ nach der andern meistern darf. Der erstrebenswerte Arbeitsplatz ist eine gelungene Mischung aus betriebswirtschaftlichen, sozialen und humanen Faktoren.
Laut Psychologen liegt eine wichtige Ursache hinter dem immer wieder beklagten Fachkräftemangel im Mangel an Motivation. Führungskräfte sollten sich an mutiges Empowerment wagen, mehr Vertrauen entwickeln, damit Mitarbeiter eigene Entscheidungen treffen können. Viele Arbeitnehmer wünschen sich die Ermutigung, sich ohne die Kontrolle oder den Einfluss „von oben“ festlegen zu dürfen, werden jedoch durch drohende Restriktionen und Folgen viel zu sehr und häufig eingeschränkt.
Janette Rosenberg: Gute Frage, was würde ich meinem früheren „Bewerber- Ich“ sagen? Ich bin, wer ich bin. Verfolge deine Träume ohne Furcht, da für dich alle Möglichkeiten offen sind, ungeachtet ihrer Skurrilität oder Unwahrscheinlichkeit. Bleibe dir treu und lass dich nicht von anderen lenken. Zeige das, was du kannst, und arbeite stets an dir selbst.
Meinem künftigen Chef würde ich sagen: Sehe mich als einzelne Person, erkenne meine Stärken und Fähigkeiten, sodass du mich unterstützen kannst, mich weiterzuentwickeln. Mache keine Versprechungen, die nicht eingehalten werden, und gehe respektvoll mit mir um. Für uns beide sollte klar sein, dass wir für das „gleiche Team“ arbeiten, und nur wenn wir uns gegenseitig unterstützen, sind wir beide erfolgreich und glücklich.
Schönes Setup als künftiger Standard?
Es herrscht das Bild des modernen Arbeitswelt-Setups in den „New- Work-Bubbles“ vor, ein perfektes Puppenhaus-Interieur mit allen Möglichkeiten für innen und außen. Dann aber holt „da draußen“ nicht wenige die „Dienstrealität“ ein, wenn beispielsweise ein großer Autokonzern beschließt, ein Dienstwagen für den Auto-Vertriebler sei im Zeitalter der digitalen Möglichkeiten überholt. Eines der großen Zauberwörter der Zeit ist „Vereinbarkeit“ – am besten für alle(s). Hat das gute Setup der Arbeitsbedingungen das Zeug zum echten „Musthave“ der Zukunft? Oder bröckelt die Fassade der schönen New-Work-Welt schon wieder und vieles wird Wunsch bleiben? Wofür sollten wir am meisten kämpfen?
Marion Lichti: Wir sollten für Inklusion kämpfen, für gleichwertige Arbeit. Wir sollten uns für Arbeitsorte stark machen, an denen die Menschen gut arbeiten können. Wir sollten uns für Arbeitskulturen einsetzen, die in Werte und Ressourcen investieren, um ihre Mitarbeitenden nachhaltig zu fördern. Wir sollten uns für Arbeitsinhalte stark machen, die Menschen mit einem lebenswerten Gehalt versorgen, und gleichzeitig unseren Kindern einen lebenswerten Planeten weitergeben.
Hat nicht Götz Werner sinngemäß gesagt, dass man im Grunde nicht für seine Arbeit bezahlt wird? Das sei ein Irrglaube. Man werde dafür bezahlt, dass man leben könne, dadurch könne man es sich leisten, zu arbeiten. Ein interessanter Gedanke. Muss ich mal reflektieren.
Sandra Einhoff: Veränderungen sind Teil des (Arbeits-)Lebens. Veränderungen eröffnen neue Chancen. Weder in New Work noch in anderen Konzepten sollte das Ziel sein, das perfekte System und perfekt aufeinander abgestimmte Prozesse zu haben. Viel wertvoller ist es, Unsicherheiten und Veränderungen anzunehmen, sowie die Fähigkeit, sie gut zu managen.
Ich glaube auch, dass es nicht das „eine“ New-Work-Konzept gibt, das im Gießkannenprinzip über alle drübergeschüttet wird. Arbeit neu zu denken und zu leben, bedeutet, mutig zu sein, Dinge auszuprobieren, anzupassen und wieder zu versuchen. Wenn es darum geht, Arbeit neu zu gestalten, ist es außerdem unerlässlich, die Mitarbeitenden miteinzubeziehen. Nur so kann es nachhaltig gelingen, die Bedürfnisse der Belegschaft mit den wirtschaftlichen Zielen in Einklang zu bringen.
Silvia Franjic: Die Zeit der „umgekehrten Motivation“ ist vorbei. Angst, Kontrolle und Geld als „Druckmittel“ sollten ausgedient haben. Zur großen Vertrauensfrage könnte das bis vor kurzem total „gehypte“ Thema Homeoffice werden. Laut einer KPMG-Umfrage glauben mittlerweile zwei Drittel der Chefs, das Homeoffice könnte in drei Jahren der Vergangenheit angehören.
Trigema-Chef Wolfgang Grupp ging sogar so weit, zu sagen: „Wenn einer im Homeoffice arbeiten kann, ist er unwichtig.“ Carsten Maschmeyer warnt vor der „Wiederkehr der Präsenzkultur“. Das entlarvt, dass Benefits von einigen Unternehmen gern so lange gewährt werden, wie es ihnen selbst dient. Versprechungen sind nicht dazu da, um einfach nur den Hiring-Prozess abzuschließen. Macht Arbeit wirklich liebens- und lebenswert – das wird von den Mitarbeitern nicht nur gewünscht und gebraucht, es wird sich lohnen!
Janette Rosenberg: Anerkennung von flexiblen Arbeitsmodellen, die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben oder die Schaffung einer authentischen, nachhaltigen Arbeitsumgebung? Gibt es denn den perfekten Weg? Ich würde sagen, das ist eine komplexe Herausforderung. Es gibt nicht den einen allgemeingültigen Ansatz, der für jeden geeignet ist. Vielmehr geht es darum, eine Vielzahl von Bedürfnissen und Prioritäten zu berücksichtigen.
Oder auch die Frage, wofür wir kämpfen sollen. Es ist einfach schwierig, das zu beantworten. Das hängt meines Erachtens stark von den individuellen Prioritäten ab. Einige bevorzugen Flexibilität, andere legen Wert auf eine unterstützende Unternehmenskultur, während wieder andere auf ökologische Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung setzen. Es ist wichtig, dass die Arbeitswelt Raum für Vielfalt schafft und verschiedene Modelle und Ansätze zulässt, damit jeder seine optimale Arbeitsumgebung finden kann.