Im Blick: Arbeitsrecht
Das LAG Niedersachsen sorgt mit einem neuen Urteil zur Arbeitszeiterfassung für Aufsehen: Was Arbeitgeber über ihre Pflichten wissen müssen.
Überstunden: LAG Niedersachsen sorgt für neuen Wirbel
Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen, Urteil vom 09.12.2024 – 4 SLa 52/24
Dauerbrenner Arbeitszeiterfassung. Die große Aufregung darum hat sich längst gelegt – dachte man zumindest. Im Jahr 2019 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass Arbeitgeber ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einführen müssen (vgl. EuGH, Urteil vom 14.05.2019 – C-55/18). Zunächst fürchteten viele Arbeitgeber hierzulande, dass neue Darlegungs- und Beweislastregeln in Überstundenprozessen drohen. Doch es blieb ruhig: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) stellte im Mai 2022 (BAG, Urteil vom 04.05.2022 – 5 AZR 359/21) ausdrücklich klar, dass die EuGH-Vorgaben die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess unverändert lassen. Viele atmeten auf. Nun hat das LAG Niedersachsen gezeigt, dass das Thema dennoch explosiv bleibt.
Einordnung des Urteils
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Arbeitgeber zur Vergütung von Überstunden verpflichtet sind, ist eine der zentralen Streitfragen im Arbeitsrecht.
Als Faustformel gilt, dass die rechtliche Prüfung in zwei Schritten erfolgt:
- Arbeitsleistung über die vereinbarte Normalarbeitszeit hinaus: Der Ball liegt grundsätzlich bei den Arbeitnehmern. Diese müssen darlegen, an welchen Tagen sie von wann bis wann gearbeitet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten haben. Dieser Vortrag muss detailliert und nachvollziehbar erfolgen. Im Rahmen eines Gerichtsverfahrens hat dann der Arbeitgeber die Möglichkeit, substantiiert und mit konkreten Einwendungen zu widersprechen. Unterlässt er dies, gilt die Darstellung des Arbeitnehmers als zugestanden.
- Zurechenbarkeit der Überstunden: Damit ist der Sieg aber noch nicht in der Tasche. Vielmehr müssen Arbeitnehmer auch darlegen und im Zweifel beweisen, dass die Überstunden durch den Arbeitgeber angeordnet, gebilligt oder geduldet wurden oder aber zur Erfüllung der geschuldeten Arbeitsleistung unabdingbar erforderlich waren. In der Praxis scheitern Arbeitnehmer oft an dieser Hürde.
Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.05.2019 (Az.: C-55/18) wurde eine wesentliche Grundsatzentscheidung zur Arbeitszeiterfassung getroffen. Die Mitgliedstaaten wurden verpflichtet, gesetzliche Regelungen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung zu schaffen. Dies führte zu erheblichen Diskussionen über die Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht, insbesondere hinsichtlich der Beweislast in Überstundenprozessen.
Das Arbeitsgericht Emden knüpfte am 20.02.2020 (Az.: 2 Ca 94/19) an die EuGH-Entscheidung an und entschied, dass ein Arbeitgeber, der Arbeitszeiten nicht aufzeichnet, sich nicht darauf berufen kann, keine Kenntnis von den Überstunden gehabt zu haben. Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Emden ergibt sich aus der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ein „Kennenmüssen“ der Überstunden, womit dem Arbeitgeber eine konkludente Billigung oder Duldung unterstellt wurde.
Dem folgte das BAG (Urteil vom 04.05.2022; Az.: 5 AZR 359/21) nicht und stellte klar, dass das Fehlen einer Arbeitszeiterfassung nicht automatisch dazu führt, dass der Arbeitgeber die Kenntnis der Überstunden unterstellt bekommt. Demnach bleibt es in Überstundenprozessen bei der bisherigen Darlegungslast. Und nun kommt das LAG Niedersachsen und sorgt für neuen Wirbel.
Der Sachverhalt
Die Klägerin machte über 3.000 Überstunden geltend. Laut Arbeitsvertrag war sie für 24 Wochenstunden eingestellt. Tatsächlich will sie aber knapp drei Jahre lang stets 44 Wochenstunden gearbeitet haben. Zur Untermauerung ihrer Behauptung legte sie Kalendereinträge von 2020 bis 2022 vor. Urlaub und Krankheit ausgenommen, war sie angeblich durchgehend während der gesamten Betriebsöffnungszeiten im Einsatz – sogar an Samstagen. Die Beklagte stritt dies als „frei erfunden“ ab. Sie sah sich nicht in der Pflicht, auf die detaillierten Aufzeichnungen der Klägerin konkret zu reagieren.
Die Entscheidung
Das Arbeitsgericht wies die Klage zunächst ab. Die zweite Instanz sah es anders: Das LAG Niedersachsen entschied, dass die Klägerin ihren Vortrag ausreichend dargelegt hatte. Wegen fehlender eigener Aufzeichnungen der beklagten Arbeitgeberin gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) und der fehlenden Substantiierung ihres Vorbringens musste das Unternehmen die vermeintlichen Überstunden gegen sich gelten lassen. Kurzum: Das LAG bewertete es zu Lasten der Arbeitgeberin, dass sie ihrer Pflicht zur Aufzeichnung von Arbeitszeiten nicht nachgekommen war.
Formal knüpft das LAG weiter an die Grundsätze der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess an (vgl. BAG, Urteil vom 16.05.2012 – 5 AZR 347/11). Der Arbeitnehmer muss erstens vortragen, an welchen Tagen er von wann bis wann gearbeitet oder sich zur Arbeit bereithalten musste. Zweitens muss er darlegen, dass die Überstunden vom Arbeitgeber veranlasst oder diesem jedenfalls zuzurechnen sind. Anschließend muss der Arbeitgeber hierauf substantiiert erwidern.
Die Brisanz entsteht jedoch dadurch, dass die Arbeitgeberseite bei Verstößen gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung keine eigenen Aufzeichnungen präsentieren kann. Das LAG Niedersachsen folgert: Wer Daten über Arbeitszeiten hätte erheben müssen, kann sich später nicht auf fehlende Informationen berufen.
Die Revision wurde zugelassen.
Konsequenzen für die Praxis
- In vielen Unternehmen ist das Thema Zeiterfassung längst Routine – zumindest formell. Praktisch hakt es oft an der exakten Umsetzung.
- Arbeitgeber sollten nun nicht in Panik geraten. Doch sie sollten ihre Zeiterfassungssysteme auf den Prüfstand stellen. Das LAG lässt durchblicken, dass fehlende oder fehlerhafte Dokumentation im Prozess fatale Folgen haben kann. Auch wenn die zentralen Beweisgrundsätze im Überstundenprozess unverändert bleiben, gewinnt die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung deutlich an Bedeutung. Arbeitgeber, die diese Pflicht vernachlässigen, laufen Gefahr, den Vortrag des Arbeitnehmers quasi „als zugestanden“ hinnehmen zu müssen.
Praxistipps
Arbeitgeber müssen sich darauf einstellen, dass Gerichte immer genauer hinschauen werden, wenn es um den Nachweis tatsächlich geleisteter Arbeitsstunden geht. Das BAG wird vermutlich an seiner Linie festhalten, dass die Grundsätze zur Darlegungs- und Beweislast im Kern unverändert bleiben. Doch die Flanke für Arbeitnehmer, Überstunden gerichtlich durchzusetzen, könnte sich vergrößern, wenn Arbeitgeber ihre Zeiterfassung nicht sauber führen.
Die „alte“ Darlegungs- und Beweislast bleibt unberührt. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung greift aber stärker in die praktische Beweisführung ein. Arbeitgeber sollten sich auf diesen Trend einstellen. Im Zweifel gewinnt derjenige, der nachvollziehbare, lückenlose Aufzeichnungen vorlegen kann. Das zahlt sich nicht nur im gerichtlichen Streit um Überstunden aus, sondern schafft auch Transparenz im betrieblichen Alltag.
Ob das LAG Niedersachsen in der konkreten Fallgestaltung etwas zu weit gegangen ist, bleibt umstritten. Es gilt jedoch als Signal: Wer im Streitfall keine klaren Aufzeichnungen vorlegen kann, muss damit leben, dass die Gerichte den behaupteten Überstunden des Arbeitnehmers mehr Glaubwürdigkeit beimessen. Arbeitgeber tun daher gut daran, ihre arbeitszeitrechtlichen Pflichten umzusetzen und klar zu dokumentieren, wann, wo und wie lange gearbeitet wird. Das reduziert Prozessrisiken und klärt zugleich frühzeitig, ob tatsächlich Überstunden anfallen.
BAG-Urteil: Schadensersatz wegen verspäteter Zielvorgabe
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 19.02.2025 – 10 AZR 57/24
Das BAG hat eine weitreichende Entscheidung getroffen, die für alle Unternehmen von besonderer Bedeutung ist, die variable Vergütungen an Zielvorgaben knüpfen. Das Gericht hat damit für mehr Rechtsklarheit in Bezug auf die Auswirkungen verspäteter Zielvorgaben gesorgt und eine klare Haftungsregelung für Arbeitgeber festgelegt.
Dieser Entscheidung vorausgegangen war ein Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Köln vom 06.02.2024 (Az. 4 Sa 390/23), das eine erhebliche Verzögerung bei der Festlegung von Zielvorgaben als schadensersatzpflichtig einstufte. Nun wurde diese Ansicht durch das BAG bestätigt und damit die bisherige Rechtslage weiter konkretisiert.
Einordnung des Urteils
Es tut sich schon wieder etwas beim Thema Zielvorgaben.
Kurz zur Erinnerung: Das BAG entschied am 03.07.2024 (Az.: 10 AZR 171/23), dass die bislang oft gewählte Kombination aus Zielvorgabe und Zielvereinbarung eine unangemessene Benachteiligung der Arbeitnehmer darstellt. (Zielvereinbarung bedeutet, dass man mit den Beschäftigten über die Ziele verhandeln und sich einvernehmlich auf Ziele verständigen muss. Zielvorgabe meint hingegen, dass die Ziele einseitig vom Arbeitgeber festgelegt werden.)
In dem vorgenannten Urteil ging es um folgende Formulierung:
„Die Festlegung einer Tantieme und deren Höhe hängen von dem Erreichen von Zielen ab, deren drei wesentliche Kriterien jedes Jahr, erstmals zum Ende der Probezeit, zwischen dem Mitarbeiter und der Gesellschaft vereinbart werden.
Sollten die drei Kriterien nicht zwischen dem Mitarbeiter und der Gesellschaft vereinbart werden, werden diese seitens der Gesellschaft nach billigem Ermessen vorgegeben. …“
Dass Arbeitgeber hiervon Abstand halten sollten und sich entweder für das Modell einer Zielvorgabe oder einer Zielvereinbarung entscheiden sollten, ist klar. Nun konkretisiert das BAG noch einmal die Spielregeln im Zusammenhang mit Zielvorgaben.
Klar war aus Sicht der Rechtsprechung auch schon bislang, dass der Abschluss von Zielvereinbarungen nach Ablauf der Zielperiode keinen Sinn mehr macht, da Zielvereinbarungen entsprechend dem Leistungssteigerungs- und Motivationsgedanken ihre Anreizfunktion nur dann erfüllen können, wenn die Ziele rechtzeitig vereinbart worden sind. Erfolgt die Vereinbarung der Ziele nicht rechtzeitig, ist der Arbeitgeber deshalb regelmäßig verpflichtet Schadensersatz in Höhe des Betrages zu leisten, der einer 100-prozentigen Zielerreichung entspricht.
Unklar war, ob dies auch für einseitige Zielvorgaben gilt, wenn der maßgebliche Zeitraum für die Zielerreichung noch nicht abgelaufen war. Im Gegensatz zu Zielvereinbarungen unterliegt die Zielvorgaben als einseitige Leistungsbestimmung grundsätzlich der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Die Folge einer unbilligen Leistungsbestimmung ist aber (eigentlich) kein 100-prozentiger Schadensersatz, sondern die Festlegung der Ziele durch gerichtliches Urteil. Was nun?
Der Sachverhalt
Ein ehemaliger „Head of Advertising“ forderte Schadensersatz, da der Arbeitgeber ihm für 2019 keine individuellen Ziele mitgeteilt und die Unternehmensziele erst verspätet bekannt gegeben hatte. Eine Betriebsvereinbarung bestimmte, dass bis zum 01.03. des Kalenderjahres eine Zielvorgabe zu erfolgen hat, die sich zu 70 Prozent aus Unternehmenszielen sowie zu 30 Prozent aus individuellen Zielen zusammensetzt. Erst Ende September 2019 teilte die beklagte Firma dem klagenden Mann lediglich mit, für ihn werde von einem Zielerreichungsgrad von 142 Prozent für seine persönlichen Ziele ausgegangen. Erst Mitte Oktober teilte ihm die Firma dann erstmals konkrete Zahlen zu den Unternehmenszielen einschließlich deren Gewichtung mit.
Der Kläger argumentierte, dass ihm zusätzlich zu den bereits gezahlten 15.500 Euro noch 16.000 Euro zustünden. Er ging davon aus, dass er rechtzeitig vorgegebene, billigen Ermessen entsprechende Unternehmensziele zu 100 Prozent und individuelle Ziele zu 142 Prozent erreicht hätte. Durch die verspätete Mitteilung habe er keine Möglichkeit gehabt, auf die Ziele hinzuarbeiten, wodurch ihm ein finanzieller Schaden entstanden sei.
Der Arbeitgeber widersprach. Er erklärte, die Zielvorgabe sei rechtzeitig erfolgt und habe den Grundsätzen der Billigkeit entsprochen. Ein Schadensersatzanspruch wegen verspäteter Zielvorgabe sei ausgeschlossen. Zudem sei die geforderte Schadenshöhe unbegründet. Allenfalls könne der Kläger eine gerichtliche Leistungsbestimmung gemäß § 315 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 BGB verlangen.
Die Entscheidung
Die Klage wurde erstinstanzlich noch abgewiesen, hatte jedoch vor dem LAG Köln Erfolg. Das BAG folgt ebenfalls der Argumentation des LAG Köln: Eine verspätete Zielvorgabe ist nicht anders zu bewerten als eine unterbliebene Zielvereinbarung, da in beiden Fällen die Anreizfunktion entfällt. Dies gilt auch, wenn die Zielperiode noch nicht vollständig abgelaufen ist, aber bereits zu mehr als drei Vierteln verstrichen ist.
Das LAG Köln formulierte dazu: „Erfolgt eine Zielvorgabe erst zu einem derart späten Zeitpunkt innerhalb des Geschäftsjahres, dass sie ihre Anreizfunktion nicht mehr sinnvoll erfüllen kann, ist sie so zu behandeln, als sei sie überhaupt nicht erfolgt. Ein derart später Zeitpunkt ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn das Geschäftsjahr – wie hier – bereits zu mehr als drei Vierteln abgelaufen ist.“
Das BAG knüpft daran an: „Eine ihrer Motivations- und Anreizfunktion gerecht werdende Zielvorgabe war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich.“ Deshalb sei hinsichtlich der Ziele auch keine nachträgliche gerichtliche Leistungsbestimmung nach § 315 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 BGB in Betracht gekommen. Auch bezüglich der Schadenshöhe habe der Arbeitgeber keine besonderen Umstände dargetan, die eine andere Berechnung nahegelegt hätten. Ein Mitverschulden des Arbeitnehmers (§ 254 Abs. 1 BGB) kam laut BAG ebenfalls nicht in Betracht, da der Arbeitgeber die Initiativlast für die Vorgabe der Ziele trage.
Konsequenzen für die Praxis
- Das bedeutet, dass Arbeitgeber, die sich nicht an klare Fristen zur Zielvorgabe halten, mit erheblichen finanziellen Nachteilen rechnen müssen. Die Entscheidung stellt eine weitere Stärkung der Rechte von Arbeitnehmern dar und betont die Bedeutung transparenter Zielvereinbarungsprozesse.
- Unternehmen sollten sich daher eingehend mit den Anforderungen an die rechtzeitige Festlegung von Zielvorgaben beschäftigen, um unnötige rechtliche und finanzielle Konsequenzen zu vermeiden. Zudem kann eine präzise und transparente Zielvorgabenstruktur dazu beitragen, die Mitarbeiterzufriedenheit zu erhöhen und die betriebliche Effizienz zu steigern.
- Hierbei ist auch an die Anreizfunktion, eine entsprechende Dokumentation und – mit Blick auf die bevorstehende Umsetzung der Europäischen Entgelttransparenzrichtlinie – an ein transparentes System zu denken.
Praxistipps für Arbeitgeber
Eine rechtzeitige Definition und Kommunikation der Ziele vermeidet Streitigkeiten und erhöht die Motivation der Beschäftigten. Arbeitgeber sollten ihre internen Fristen klar definieren und dokumentieren, um Streitigkeiten vorzubeugen.
Außerdem empfiehlt es sich, wenn Verträge und Betriebsvereinbarungen klare Fristen für die Zielvorgabe enthalten, um rechtliche Risiken zu minimieren. Unternehmen sollten sich bewusst sein, dass eine verspätete Zielvorgabe einer unterbliebenen Zielvereinbarung gleichgesetzt wird und im Streitfall zu Schadensersatzansprüchen führen kann.
Annahmeverzugslohn – wie war das noch mal mit dem Versand von Stellenanzeigen?
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 12.02.2025 – 5 AZR 127/24
Auch das Thema Annahmeverzugslohn ist ein Dauerbrenner. Kündigung erhalten? Da können sich Arbeitnehmer doch zurücklehnen, oder? Nicht ganz. Denn das BAG hat klargestellt: Wer gekündigt wird, sollte sich schleunigst bewerben – sonst könnte es Ärger geben. Bereits während der Kündigungsfrist kann eine Verpflichtung bestehen, nach einer neuen Stelle zu suchen. Hierfür kommt es aber auf die Gesamtumstände an.
Einordnung des Urteils
Bei dem sehr praxisrelevanten Urteil geht um das Zusammenspiel zwischen Freistellung und Annahmeverzug:
Wird ein Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist freigestellt, obwohl er grundsätzlich einen Anspruch auf Beschäftigung hat, gerät der Arbeitgeber in den sogenannten Annahmeverzug. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber trotz fehlender Arbeitsleistung den vereinbarten Lohn für den gesamten Freistellungszeitraum zahlen muss. Von diesem Grundsatz gibt es jedoch eine Ausnahme: das böswillige Unterlassen anderweitigen Verdienstes.
Nach § 615 Satz 2 BGB kann unter bestimmten Umständen der Lohn um fiktive Verdienste gekürzt werden, wenn der Arbeitnehmer trotz zumutbarer Möglichkeiten absichtlich darauf verzichtet, sich anderweitig zu bemühen. Diese Regelung ist als Billigkeitsnorm zu verstehen – sie soll verhindern, dass Arbeitnehmer ihre Einkommenssituation vorsätzlich verschlechtern, um den Arbeitgeber zu entlasten. Ein entscheidendes Kriterium ist, ob der Arbeitnehmer in einer Gesamtabwägung seiner Pflichten und Rechte wider Treu und Glauben gehandelt hat. Nur wenn eindeutig nachgewiesen werden kann, dass der Arbeitnehmer unredlich und wider Erwarten untätig blieb, kann eine Anrechnung fremder Einnahmen erfolgen.
Entsprechend „heiß“ wird derzeit die Frage diskutiert, wann ein böswilliges Unterlassen vorliegt. In diesem Spannungsfeld bewegt sich das BAG-Urteil. Bisher war der Zeitpunkt, ab dem ein Arbeitnehmer ernsthafte Bewerbungsbemühungen unternehmen muss, nicht abschließend geklärt. Hier schafft das am 12.02.2025 ergangene Urteil des BAG nun mehr Klarheit.
Sachverhalt
Die Arbeitgeberin kündigte einem ihrer Arbeitnehmer fristgerecht unter Wahrung der Kündigungsfrist und stellte ihn für die Dauer der Kündigungsfrist unwiderruflich unter Fortzahlung der Vergütung frei. Die Freistellung erfolgte unter dem Hinweis der Anrechnung anderweitiger Einkünfte in diesem Zeitraum. Der Arbeitnehmer erhob Kündigungsschutzklage und meldete sich arbeitssuchend.
Die Arbeitgeberin versorgte den Kläger während der Freistellung mit über 40 Stellenanzeigen und fordert ihn auf, sich zu bewerben, und befreite den Kläger ausdrücklich vom bestehenden Wettbewerbsverbot. Der Kläger bewarb sich erst zum Ende der Kündigungsfrist auf sieben der bereitgestellten Angebote.
Die Beklagte verweigerte die Zahlung der Vergütung für den letzten Monat der Kündigungsfrist und berief sich auf den Einwand des böswilligen Unterlassens anderweitigen Verdienstes nach § 615 S. 2 BGB durch den Arbeitnehmer. Hiergegen klagte der Arbeitnehmer.
Die Entscheidung
Das BAG teilt die Auffassung der Vorinstanz und gab der Klage des Arbeitnehmers recht. Da die Arbeitgeberin ihren Arbeitnehmer freigestellt hat, befand sie sich im Annahmeverzug – sie hätte ihn ja schließlich weiter beschäftigen können. Damit schuldete die Arbeitgeberin weiterhin die Vergütung, § 615 S. 1 i. V. m. § 611a Abs. 2 BGB.
Dem konnte auch ein böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes nicht entgegengehalten werden. Eine fiktive Anrechnung des Verdienstausfalls ist nur gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer wider Treu und Glauben (§ 242 BGB) untätig bleibt.
„§ 615 S. 2 BGB stellt eine Billigkeitsregelung dar, weshalb der Umfang der anderweitigen Erwerbsobliegenheit des Arbeitnehmers und die Pflichten des Arbeitgebers nicht losgelöst voneinander beurteilt werden können.“
Im vorliegenden Fall legte die Arbeitgeberin nicht dar, dass es für sie unzumutbar gewesen wäre, den Beschäftigungsanspruch des klagenden Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis auch während der Kündigungsfrist zu erfüllen. Der Arbeitnehmer war daher nicht verpflichtet, vor Ablauf der Kündigungsfrist eine anderweitige Beschäftigung aufzunehmen und daraus Einkünfte zu erzielen.
Konsequenzen für die Praxis
Die genauen Entscheidungsgründe stehen noch aus, aber das BAG gibt eine klare Richtung vor: Während der Kündigungsfrist besteht in der Regel keine zwingende Pflicht, sich wie wild zu bewerben. Wer also nicht sofort eine neue Stelle sucht, muss nicht automatisch mit Abzügen rechnen. Doch Vorsicht: Bei besonderen Umständen – etwa wenn der Arbeitgeber gute Gründe hat, den Mitarbeiter nicht weiter zu beschäftigen, oder es sich um eine verhaltensbedingte Kündigung handelt – kann es anders aussehen. Besonders dann, wenn das Vertrauensverhältnis so gestört ist, dass eine Weiterbeschäftigung ausgeschlossen scheint.
Praxistipp
Unternehmen sollten weiterhin proaktiv Stellenangebote an gekündigte Mitarbeiter schicken – nicht nur aus Nettigkeit, sondern auch zur Risikominimierung. Wer Annahmeverzugslohn vermeiden will, sollte von den Arbeitnehmern Auskunft über ihre Bewerbungsbemühungen verlangen und die Vorschläge der Agentur für Arbeit im Blick behalten. Und für Arbeitnehmer gilt: Ein paar Bewerbungen mehr schaden nie – auch wenn der alte Arbeitgeber das Konto noch ein paar Monate füllt!
Dr. Michaela Felisiak, Councel bei Eversheds Sutherland Fachanwältin für Arbeitsrecht
Christian Böhm, Associate bei Eversheds Sutherland Fachanwalt für Arbeitsrecht