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Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert, wenn sie für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen ausgestellt wurde : LAG Niedersachsen

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) hat in der arbeitsrechtlichen Praxis eine zentrale Beweisfunktion. Gemäß § 5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) gilt sie als primafacie-Nachweis dafür, dass der Arbeitnehmer aufgrund einer Krankheit nicht in der Lage ist, seine Arbeitsleistung zu erbringen.

Lesezeit 4 Min.
Gezeigt wird ein Dokument mit dem Titel „Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“, das eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit darstellt. Im Hintergrund ist teilweise ein Stethoskop zu sehen, das eine medizinische Einrichtung symbolisiert.
Foto: © stock.adobe.com/M. Schuppich

In den letzten Jahren hat jedoch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) immer wieder klargestellt, dass die Indizwirkung der AU unter bestimmten Umständen erschüttert werden kann. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 18.04,2024 (6 Sa 416/23) fügt sich in diese Linie ein und konkretisiert die Anforderungen an die Erschütterung der Beweiskraft weiter.

Verortung des Urteils

Das Bundesarbeitsgericht hat sich in verschiedenen Urteilen mit der Beweiskraft der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auseinandergesetzt und klargestellt, dass diese nicht absolut ist, sondern unter bestimmten Bedingungen in Zweifel gezogen werden kann:

Das BAG hatte in einer Entscheidung vom 08.09.2023 grundsätzlich klargestellt, dass Verstöße gegen die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie (AURL) den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern können. Unter anderem sollen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nach der AURL grundsätzlich nicht länger als für eine voraussichtliche Dauer von zwei Wochen ausgestellt werden. Werden sie für einen längeren Zeitraum ausgestellt, kann dies den Beweiswert erschüttern. Hieran knüpft das aktuelle Urteil des LAG Niedersachsen an. 

Der Sachverhalt

Eine Arbeitnehmerin meldete sich am 12.12.2022 beim Geschäftsführer mittels WhatsApp-Nachricht krank und schrieb, sie sei „morgen definitiv raus“. Hierauf antwortete der Geschäftsführer zurück, dass er sie „die Woche“ nicht mehr sehen wolle. Die Arbeitnehmerin legte nach telefonischer Anamnese eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum vom 12. bis 14.12.2022 vor. Am 15.12.2022 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis zum 15.01.2023. Auf die Rückfrage der Arbeitnehmerin, ob sie bis Januar „nicht mehr ins Büro“ kommen brauche, antwortete der Geschäftsführer, dass man „gerne bis zum 15.01.2023 alles sauber abrechnen“ könne. Die Arbeitnehmerin blieb weiterhin arbeitsunfähig erkrankt und brachte – erneut nach telefonischer Anamnese – eine weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 19. bis 21.12.2022 (als Erstbescheinigung) und – nach persönlicher Anamnese – vom 22.12. bis 13.01.2023 (als Folgebescheinigung) bei. Die Arbeitnehmerin machte Vergütung in Höhe von 2.026,00 Euro brutto geltend. Das Arbeitsgericht Hannover gab der Arbeitnehmerin Recht.

Die Entscheidung

Das LAG Niedersachsen gab der Klägerin hingegen nur teilweise Recht. Im Ergebnis sprach das Gericht der Arbeitnehmerin für den Zeitraum von Montag, den 12., bis Sonntag, den 18.12.2022, die Vergütung unter dem Gesichtspunkt des „Annahmeverzugs“ zu. Nachdem der Geschäftsführer geschrieben hatte, er wolle die Arbeitnehmerin „diese Woche“ nicht mehr sehen, habe er auf ihre Arbeitsleistung verzichtet. Damit sei er – juristisch gesehen – hinsichtlich der Annahme der Arbeitsleistung in Verzug gekommen, der einen Anspruch auf „Annahmeverzugslohn“ begründet.

Für den Zeitraum vom 19. bis 31.12.2022 sah das Landesarbeitsgericht Niedersachsen jedoch keine Vergütungsansprüche. Der Annahmeverzug endete mit Ablauf des 18. Dezember 2022. Auch Entgeltfortzahlung aufgrund Arbeitsunfähigkeit sprach das Gericht nicht zu:

Hinsichtlich des Zeitraums vom 19. bis 21.12.2022 hielt das Gericht den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für erschüttert, da diese nicht auf eine unmittelbar persönliche Untersuchung zurückzuführen war. Die Sonderregelungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie galten im Dezember 2022 nicht mehr. Somit nahm das Gericht einen Verstoß gegen § 4 Abs. 5 der AURL an. Auch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum vom 22.12.bis 13.01.2023 hielt das Gericht im Beweiswert für erschüttert. Entgegen § 5 Abs. 5 der AURL wurde hier eine voraussichtliche zukünftige Krankheitsdauer für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen bescheinigt. Die Arbeitnehmerin konnte auch nicht vortragen, dass es aufgrund ihrer Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufs sachgerecht war, gemäß § 5 Abs. 5 Satz 2 der AURL eine längere Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen.

#KurzErklärt

  • AURL: Das LAG Niedersachsen bestätigt, dass bei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ein besonderes Augenmerk auf die Einhaltung der AURL zu legen ist. Zu beachten ist jedoch, dass nicht alle Regelungen in der AURL geeignet sind, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeit zu erschüttern. Besonders relevant sind insoweit die Regelungen in §§ 4 und 5 der AURL, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellung der Arbeitsunfähigkeit beziehen. Regelungen zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse sind hingegen unbeachtlich.
  • Dauer der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Die Ausstellung der AU für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen wecke Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Erkrankung. Das Gericht führte aus, dass eine solch lange Dauer der AU im Zusammenhang mit dem konkreten Krankheitsbild unüblich sei und somit Anlass zur Überprüfung bestehe.
  • Beweislastverteilung: Grundsätzlich hat die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine hohe Beweiskraft (vgl. § 5 EFZG). Sie gilt als Nachweis für die Arbeitsunfähigkeit, es sei denn, es bestehen ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit. Diese Zweifel muss der Arbeitgeber schlüssig darlegen. Im vorliegenden Fall sah das LAG Niedersachsen die Darlegungen des Arbeitgebers als ausreichend an, da die Bescheinigung ohne spezifische Diagnosen und ohne nachvollziehbare Gründe für die lange Dauer ausgestellt wurde.
  • Erschütterung der Beweiskraft: Das Gericht stellte klar, dass es kein allgemeines Misstrauen gegenüber Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen geben dürfe. Jedoch könne die Beweiskraft erschüttert werden, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Bescheinigung nicht auf einer objektiven medizinischen Bewertung, sondern auf einer Gefälligkeit ausgestellt wurde. Hier habe der Arbeitgeber ausreichende Indizien vorgetragen, die den Anschein einer Gefälligkeitsbescheinigung erweckten.
Praxistipp

Praxistipp:
Unternehmen sollten bei Auffälligkeiten hinsichtlich des Zeitraums und der Lage der Arbeitsunfähigkeit auch stets ein Augenmerk auf die Einhaltung der AURL werfen. Bei begründeten Zweifeln sollte keine Entgeltfortzahlung geleistet werden.

von Frau Dr. Felisiak von Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte