360-Grad-Feedback : Führungskräfte systematisch und zielgerichtet entwickeln
„Nein, das gefällt mir so nicht.“ Wer als Führungskraft nicht richtig Feedback gibt, sorgt bei seiner Mannschaft für Orientierungslosigkeit. Mitarbeitende wissen nicht, wohin die Reise gehen soll und fühlen sich auf Dauer im Stich gelassen.

Ein Unternehmen, das falsch geführt wird, gleicht einem Schiff, das manövrierunfähig ist. Ist der Kapitän eine Pfeife, kann der Kahn noch so robust sein, er wird trotzdem untergehen. Unternehmen sind deswegen gut beraten, ihre Führungskräfte systematisch und zielgerichtet zu entwickeln. 360-Grad-Feedback kann ein wichtiger Baustein dabei sein.
Erfolgreiche Unternehmen brauchen gute Führungskräfte. Sie haben die Unternehmensziele im Blick. Sie kennen die Stärken und Schwächen ihrer Mitarbeitenden. Und sie haben einen entscheidenden Einfluss auf die Motivation und die Leistungsfähigkeit ihres Teams. Sind Führungskräfte ihrer Rolle jedoch nicht gewachsen, vergiften sie das Betriebsklima und können dazu beitragen, dass gute Mitarbeiter gehen.
Wer die Kompetenzen seiner Führungskräfte ausbauen und stärken möchte, benötigt zunächst eine Grundlage, um diese überhaupt zu bewerten. In der Praxis hat sich bei der Beurteilung von Vorgesetzten das 360-Grad-Feedback bewährt.
360-Grad-Feedback – was ist das?
Unter 360-Grad-Feedback verstehen HR-Experten eine Rundumbeurteilung. Unternehmen beziehen dabei mehrere Akteure in den Feedbackprozess mit ein und bewerten die zu beurteilende Person aus verschiedenen Blickwinkeln.
Diese Perspektiven können sein:
- der oder die direkte Vorgesetzte,
- gleichrangige Kollegen,
- unterstellte Mitarbeitende,
- externe Personen, zum Beispiel Geschäftspartner oder Kunden,
- die eigene Selbsteinschätzung.
Dabei soll ein aussagekräftigeres Gesamtbild über die zu beurteilende Person entstehen, das sämtliche Stärken und Schwächen offenlegt. Dieses Gesamtbild ist die Grundlage für einen nachfolgenden, konstruktiven Feedbackprozess.
Welche Vorteile bietet das 360-Grad-Feedback?
Judith Lehr ist Referentin im Kompetenzfeld Berufliche Qualifizierung und Fachkräfte. Sie ist tätig im Projekt „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung – KOFA“, das am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln angesiedelt ist. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen digitale
Zusammenarbeit, hybrides Arbeiten, (virtuelle) Personalführung und strategische Personalarbeit. Sie formuliert die Vorteile des 360-Grad-Feedbacks wie folgt: „Unterschiede zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung können so ausgemacht, Unbewusstes aufgedeckt, Stärken ausgebaut und die berufliche Zukunft im Unternehmen verbessert werden.“ Die Methode ist in Lehrs Augen allerdings nur dann erfolgversprechend, wenn sie nicht als klassisches Beurteilungsinstrument an Karriere- oder Entgeltentscheidungen gekoppelt ist. Vielmehr sollte 360-Grad-Feedback der Entwicklung von Führungskräften dienen.
Welche Nachteile hat das 360-Grad-Feedback?
Wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten. „Auch, wenn sich das 360-Grad-Feedback in der Praxis bewährt hat, sollten die Feedbackergebnisse mit Vorsicht betrachtet werden“, mahnt Lehr. „Schließlich ist jede der Rückmeldung subjektiv. Als Grundlage für wichtige Personalentscheidungen sollte die Methode daher nicht dienen, sondern eher als Ausgangsbasis für individuelle Entwicklungsziele.“
Auch nicht außer Acht zu lassen, ist der Aufwand, den ein 360-Grad-Feedback mit sich bringt. Sind mehrere Personen am Feedbackprozess beteiligt, kostet das natürlich Zeit und bindet zusätzliche Ressourcen. Das betrifft nicht nur den Feedbackprozess selbst, sondern auch die anschließende Analyse und Auswertung der getroffenen Aussagen.
Vier Tipps von Expertin Judith Lehr: Das sollten Unternehmen bei der Umsetzung beachten
Tipp 1 Transparenz: Der Befragungszweck sollte allen Beteiligten bereits zu Beginn des Feedbackprozesses bekannt sein. Dient die Befragung allgemeinen Entwicklungszwecken (z. B. um eine Ausgangsbasis für Weiterbildungsmaßnahmen zu schaffen)? Oder liegt ein Problem vor, das behoben werden soll? Von einer Änderung des Verwendungszwecks während oder nach der Befragung ist abzuraten, da sonst falsche Erwartungen geweckt werden und Vertrauen verspielt werden kann.
Tipp 2 Anonymität: Mitarbeitende können ehrlicher und direkter antworten, wenn ihre Kommentare anonym behandelt werden. Ergebnisse, die aus persönlichen Interviews gewonnen werden, sollten daher nur aggregiert, ohne Namen oder zurückführbare Zitate, zur Verfügung gestellt werden.
Tipp 3 Zuverlässigkeit: Damit die Ergebnisse des 360-Grad-Feedbacks aussagekräftig sind, braucht es einen zuverlässigen Fragebogen. Am aussagekräftigsten sind Fragebögen, die auf das jeweilige Unternehmen und/oder die jeweilige Situation zugeschnitten sind.
Tipp 4 Weiterverfolgung: Was passiert mit den Feedbackergebnissen? Um die Feedbackergebnisse effektiv zu nutzen, sollten diese anschließend mit dem jeweiligen Vorgesetzten (oder gegebenenfalls mit einem externen Coach) besprochen und Entwicklungsziele vereinbart werden.

Fazit:
Entwickeln, ja – entscheiden, nein. Besser delegieren, Mitarbeitenden zielgerichteter Rückmeldung geben, Budgets passgenauer planen: Das Resultat und die Entwicklungsziele des 360-Grad-Feedbacks können viele Gesichter haben. Vor allem sollte der Prozess aber dazu dienen, Führungskräften Entwicklungsperspektiven aufzeigen – und sie nicht von der Karriereleiter schubsen oder ihre Gehaltschecks einfrieren.
Philipp R. Kinzel