Verblasste Werte neu entdeckt : Wertvolles Miteinander und wertvolle Ergebnisse gleichermaßen – geht das?
Was sind – entgegen einer „verselbstständigten Gewinnmaximierung“ – in einer Arbeitswelt des „Schneller, höher, weiter!“ gesunde Werte-Grundpfeiler, die es wiederzuentdecken gilt?

Arbeit, die erfolgreich und nachhaltig sein soll, braucht ein solides Fundament. Keine Werte-Konzepte, sondern eine Werte-Haltung, die den Menschen dient. Wie Werte gerade jetzt nicht nur ein behelfsmäßiges Fangnetz, sondern ein solides Sprungtuch werden können, erklärt Unternehmer- und Führungskräftecoach Thomas Kiefer.
Welchen Werten sollten wir im Business unbedingt wieder einen deutlich größeren Stellenwert einräumen? Wie können wir diese nicht nur stärken, sondern vor allem bewusster in unseren Arbeitsalltag und unsere Wirkungsumgebungen zurückholen?

„Wirkungsumgebung“, ein wunderbares Wort, das uns gleichzeitig Zielbild ist dafür, unsere „Arbeitsräume“ zu Umgebungen machen, in denen Offenheit, Leichtigkeit, ja auch Freude und Spaß sich entfalten können. Lasse ich das zu, dann entsteht auch diese großartige Wirkung.
Die meisten von uns verbringen einen Großteil ihrer Lebenszeit bei der Arbeit. Wenn Werte dabei Orientierung bieten, dann ist schon viel erreicht. Die Arbeitgeber tragen dafür eine enorme Verantwortung. Da sind wir schon beim ersten Wert. (lacht)
In auf maximale Effizienz getrimmten Prozessen ist es doch so, dass der Chef vielfach immer mehr Aufgaben obendrauf legt: „Das schaffen Sie noch!“ Dabei weiß er ganz genau, dass sein Mitarbeiter am Anschlag ist. Stattdessen sollte er Fragen stellen wie: „Was brauchst du, um leichter vorwärtszukommen? Welche Voraussetzungen können wir dafür gemeinsam schaffen?“ Je größer der Druck, desto schlechter die Ergebnisse. Wenn stattdessen noch Zeit zum Durchatmen, zum Zurücklehnen und zum Reflektieren bleibt, erledigen sich alle Aufgaben fast von allein. Mit erfreulicher Wirkung auf die Ergebnisse.
Kürzlich habe ich den Satz gelesen: „Hör auf, dich selbst zu verwirklichen, tue lieber etwas für die Gemeinschaft.“ Auch darum geht es in der Arbeit. Mein Ego hinter mir zu lassen. Lieber meinem Gegenüber helfen, dem Mitarbeiter genauso wie dem Kunden. Unternehmen, die in die Förderung der persönlichen Entwicklung, der Empathie ihrer Führungskräfte und Mitarbeiter investieren, werden das als unschlagbaren Wettbewerbsvorteil erleben.
Sehen Chefs wirklich den Menschen hinter dem Mitarbeiter, unabhängig von Funktion und Leistung? Ein zentraler Punkt, der in neun von zehn Unternehmen alles andere als ideal läuft: Wenn ein Mitarbeiter mit Ideen und Feedback zum Chef kommt, braucht es Zeit und Wertschätzung, den Mitarbeiter und seine Vorschläge gelten zu lassen. Diese auch zuzulassen.
Ja, Geschwindigkeit, die Einhaltung von Standards, hohe Stück- und Schlagzahlen sind Grundlage zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. Gute Führung braucht Respekt und Wertschätzung und natürlich auch bewusst dafür investierte Zeit.
Stellen Sie sich die Frage: „Ist unser Miteinander geprägt von Kooperation, Integrität und Vertrauen – oder bestimmen bei uns manipulative Dschungelkämpfer und Heckenschützen, wo es langgeht?!“ Aus der ehrlichen Antwort ergibt sich meistens Handlungsbedarf.
In Meetings wird, oft als „Einbahnstraßenkommunikation“, häufig über Zahlen, Daten, Fakten gesprochen. Das ist selbstverständlich wichtig. Aber darüber hinaus braucht es Bewusstheit über Herausforderungen und Potenziale, Austausch und Dialog in einer Kultur des Lernens. Wer nicht ehrlich über Dinge, die nicht rundlaufen spricht, wird diese Probleme nicht überwinden.
Die allgemeine Arbeitsmoral ist besonders anfällig für jede Form von Wertewandel. Welche neuen Impulse sollten hier mit einfließen?

Führungskräfte könnten sich zuallererst fragen: „Geht es mir hier nur um mich oder geht es mir um unsere Kunden, Mitarbeiter, um die Menschen? Leiste ich meinen Beitrag als Teil des Ganzen? Und wenn dem nicht so ist, warum? Will und kann ich daran etwas ändern?“
Wenn über Haltung und Verhalten offen gesprochen wird, kann sich Verständnis für unterschiedliche, sogar gegensätzliche Haltungen entwickeln.
Mitarbeiter wünschen sich nicht erst seit gestern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Flexibilität beim Arbeiten, Entwicklungsmöglichkeiten, wollen ihr Talent und ihre Aufgaben optimal in Einklang bringen. Auf der einen Seite ist „nine to five“ in den Köpfen vieler Führungskräfte noch fest verankert, auf der anderen Seite sind nur (!) Tischkicker und Billardtisch für die Zufriedenheit am Arbeitsplatz nicht die Lösung. Auch nach der Pandemie werden die Homeoffice-Quoten hochbleiben. Führung aus der Ferne zwingt Führungskräfte fast schon zu Vertrauen, Empathiefähigkeit und der Delegation von Verantwortung. Im Kern ist es wichtig, den Menschen als ganzen Menschen zu sehen und wertzuschätzen, mit all seinen Befindlichkeiten. Wenn es darum geht, die Versorgung meines kranken Kindes zu organisieren, merke ich als Mitarbeiter schnell, wie ehrlich es mein Chef wirklich mit mir meint. Das klingt hart. Genau das ist meine Erfahrung!
Wenn das Tun in einem Unternehmen durchdrungen ist vom zentralen Wert „für die Menschen“, gibt es auch keine Probleme mit hoher Fluktuation und nur selten Schwierigkeiten, Talente zu rekrutieren. Genau hier entscheidet sich, ob ein Mitarbeiter Dienst nach Vorschrift macht, vielleicht sogar schon innerlich gekündigt hat oder für seine Arbeit brennt. Dass sich das auch betriebswirtschaftlich rechnet, kann regelmäßig bei Gallup nachgelesen werden: Engagierte Mitarbeiter reduzieren die Fluktuation um bis zu 59 Prozent, die Fehlzeiten um 41 Prozent, erhöhen die Profitabilität um 21 Prozent, die Produktivität um 17 Prozent.
Welche Werte vermissen Sie am meisten und mit welchen Mitteln bringen wir Bewährtes und Modernes zu einem neuen Besten zusammen?
Oft fehlen Offenheit und Mut, Dinge beim Namen zu nennen, Fehler zuzugeben, Mitarbeitern wirklich Verantwortung zu überlassen. Auf der einen Seite werden Talente gefördert, was richtig ist. Auf der anderen Seite nimmt man sich zu wenig Zeit, introvertierte und schwächere Mitarbeiter, die hinter den oft lauten Meinungsführern zurückbleiben, punktgenau zu fördern und mitzunehmen. Dort können ungeahnte Potenziale schlummern. Die Leader und Macher könnten sich fragen: „Wen haben wir nicht auf dem Schirm? Wer beteiligt sich nicht oder nur selten? Wie bringen wir auch diese Kollegen zum Brillieren?“ Das Stichwort dazu lautet: gemischte Teams entwickeln, auf neudeutsch: Progress Diversity!
Beidhändiges Vorgehen, die Ambidextrie, schätzt das Bestehende wert und lässt bewusst Experimente zu. In Innovationswerkstätten können agile Settings und neue Methoden wie Hackathons, MVP-Projekte (Minimum Viable Product) und andere Ansätze ausprobiert und weiterentwickelt werden.
Ich sehe wenig Sinn in der kompletten Abschaffung von Hierarchien. Jedoch sind deren Durchlässigkeit und Fähigkeit zur cross-funktionalen Zusammenarbeit entscheidend für den Erfolg. Damit das möglich wird, müssen Führungskräfte ihr Besitzstandsdenken abschaffen und „Bereichspfründe“ loslassen. Führung qua Funktion wird ergänzt durch Führung aus unterschiedlichsten (agilen) Rollen heraus.
Welche Denkfehler könnte es mit dem Fokus auf Nachhaltigkeit zu vermeiden geben, um nicht in eine vordergründige Wertemarketing-Falle zu laufen?
Grundsätzlich stimmt hier die Richtung. Der Nachhaltigkeitsansatz zwingt Unternehmen, über Ressourcenschonung u. a. nachzudenken. Das fordert heutzutage auch der Kunde.
Hier geht es um Wahrhaftigkeit und Echtheit: Kaufe ich nur CO2-Zertifikate, um die notwendigen Punkte im Nachhaltigkeits-Ranking zu erreichen? Oder arbeite ich vor Ort daran, Energie einzusparen, z. B. durch Desksharing, Verzicht auf Dienstreisen, Einsatz von Dienstrad-Leasing?
Wie kann insgesamt aus wiedergewonnenen Werten eine erweiterte Wertschöpfung entstehen?
Wie wichtig Traditionen sind, sehen wir am kolossalen Comeback von Thomas Gottschalks „Wetten, dass …?“. Das ZDF hat reagiert und sendet künftig wieder neue Folgen. Tradition stärkt die Einheit in der Vielfalt, wie Gabor Steingart kürzlich kommentierte. Sie merken schon, auch ich bin ein Fan dieses Formates und schaue „Wetten, dass …?“ mit der ganzen Familie.
Entscheidend ist, dass der Mix aus „Bewährtes bewahren, Überholtes loslassen und Neues schaffen“ im Unternehmen gemeinsam und passgenau immer wieder sorgfältig austariert wird. Vielfalt bringt nur dann Gewinn, wenn Einigkeit besteht im Kern: Wer sind wir? Was macht uns aus? Was ist unsere Wertschöpfung?
Es gilt, in den Köpfen Mangel, überzogene Kontrolle, Druck und Angst zu ersetzen durch Fülle, Zutrauen, Leichtigkeit und den Chancenblick. Mehr vom „Was könnten wir erreichen?!“ anstatt vom „Was kann schlimmstenfalls passieren?“
Wir brauchen echte Herzenswärme im Miteinander und Selbstverantwortung, die diesen Namen auch verdient. Nicht immer einer Meinung sein und trotzdem an einem Strang ziehen! Soziale Verantwortung übernehmen und die Gemeinschaft stärken sowie die Schöpfung bewahren, für eine lebenswerte Welt und für ein ebensolches Miteinander einstehen. All diese Bausteine eines wiederentdeckten, werteorientierten Zusammenarbeitens werden Blockaden im Team lösen und ganz neue Fenster, Türen und Möglichkeiten öffnen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Silvija Franjic, Redakteurin + Jobcoach