Entsendungen : Das A1-Verfahren im Überblick
Die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Arbeitnehmern bei Entsendung in das Ausland (Ausstrahlung) und aus dem Ausland nach Deutschland (Einstrahlung) ist in der Praxis oft mit Schwierigkeiten und großem Aufwand verbunden. Welches Sozialversicherungsrecht (SV-Recht) anzuwenden ist, ist immer dann einfach, wenn ein Mitarbeiter in Deutschland lebt und arbeitet. Dann kommt natürlich das deutsche SV-Recht zur Anwendung. Was allerdings ist zu beachten, wenn ein solcher Mitarbeiter für seinen Arbeitgeber auch (mal) im Ausland betriebsbedingt tätig werden muss? Bleibt es dann beim deutschen SV-Recht oder muss der Mitarbeiter in Deutschland bei der Sozialversicherung ab- und bei der Sozialversicherung im Ausland angemeldet werden? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der folgende Beitrag und gibt dabei einen Kurzüberblick.
Beschäftigung in Deutschland = deutsches SV-Recht
Nach § 3 Sozialgesetzbuch (SGB) IV muss ein Mitarbeiter, der in Deutschland beschäftigt wird, zum deutschen Sozialversicherungssystem (SV-System) angemeldet werden. Solange – wie in den meisten Fällen – also Mitarbeiter in Deutschland leben und arbeiten, sind das sogenannte Beschäftigungsstaats- und das Territorialitätsprinzip (auch Wohnstaatsprinzip) deckungsgleich. Besonderheiten sind dabei nicht zu beachten. Solche Mitarbeiter werden grundsätzlich bei einer der derzeit 103 Krankenkassen angemeldet und nach deutschem Recht sozialversichert.
Beschäftigung im Ausland
Was ist jedoch zu beachten, wenn das Beschäftigungsstaats- und das Territorialitätsprinzip auseinanderfallen? Das wird immer dann geschehen, wenn ein Mitarbeiter, der grundsätzlich in Deutschland lebt und arbeitet, betriebsbedingt vom Arbeitgeber zeitweise oder auf Dauer ins Ausland geschickt wird. Gründe dafür werden in der Praxis zum Beispiel Dienstreisen zu Besprechungen bei ausländischen Kunden oder auch Montagetätigkeiten bei ausländischen Auftraggebern sein.
Hierzu regelt § 4 SGB IV Folgendes: „Soweit die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung eine Beschäftigung voraussetzen, gelten sie auch für Personen, die im Rahmen eines im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs bestehenden Beschäftigungsverhältnisses in ein Gebiet außerhalb dieses Geltungsbereichs entsandt werden, wenn die Entsendung infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist.“
Unbefristete Auslandseinsätze
Das bedeutet, dass nur bei zeitlich begrenzten Auslandseinsätzen auch das deutsche SV-Recht (und damit der deutsche Sozialversicherungsschutz) ins Ausland „mitgenommen“ werden kann. Für auf unbestimmte Dauer angelegte Auslandseinsätze kann ein Schutz in der deutschen Sozialversicherung nicht bestehen bleiben.
Befristete Auslandseinsätze
Ab jetzt wird es tatsächlich kompliziert. Bei der Frage nach dem richtigen SV-Recht, wenn es um zeitlich befristete Auslandseinsätze geht, sind zumindest zwei wichtige Punkte zu differenzieren. Geht es um einen Auslandseinsatz in der EU oder in einem Land, mit dem Deutschland ein bilaterales Sozialversicherungsabkommen (SV-Abkommen) hat, oder um einen abkommensfreien Staat? Wie lange dauert der Auslandseinsatz? Besonderheiten gibt es nur bei zeitlich befristeten Auslandseinsätzen.
Beispiel 1
Frau A arbeitet für ein Unternehmen aus Bremen und ist damit derzeit im deutschen SV-System gemeldet. Zum 01.01.2023 soll Frau A jedoch die Zweigniederlassung in Belgien übernehmen und dazu dauerhaft nach Belgien gehen.
Lösung
Damit muss der Arbeitgeber Frau A zum 31.12.2022 im deutschen SV-System abmelden und zum 01.01.2023 im belgischen SV-System anmelden. Ausnahmen gibt es nicht.
Zeitlich befristete Auslandsentsendung in die EU/EWG
§6 SGB IV stellt klar, dass abweichende Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts vorrangig zu beachten sind. Unter überstaatlichem Recht sind in erster Linie die Regelungen des europäischen Gemeinschaftsrechts für den Bereich der sozialen Sicherheit und unter zwischenstaatlichem Recht in erster Linie die von der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Staaten geschlossenen SV-Abkommen zu verstehen.
Bei Entsendungen in oder aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU), des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) oder der Schweiz sind insbesondere zu beachten:
- Artikel 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit,
- Artikel 14 und 15 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 16.09.2009,
- der Beschluss Nr. A2 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zur Auslegung des Artikels 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vom 12.06.2009 und
- der von der Europäischen Kommission herausgegebene „Praktische Leitfaden zum anwendbaren Recht in der Europäischen Union, im Europäischen Wirtschaftsraum und in der Schweiz“.
Solange es um eine auf maximal 24 Monate befristete Auslandsentsendung in den EWG-Raum geht, ist es einfach. Der Mitarbeiter behält für diesen Zeitraum sein Wohnstaats-SV-Recht.
Zeitlich befristete Auslandsentsendung in Abkommensstaaten
Bei Entsendungen in oder aus einem Staat, mit dem Deutschland ein SV-Abkommen geschlossen hat, sind die Regelungen des jeweiligen Abkommens vorrangig zu beachten.
Mit folgenden Staaten hat Deutschland derzeit bilaterale SV-Abkommen:
• Albanien • Kosovo
• Australien • Marokko
• Bosnien u. Herzegowina • Moldau
• Brasilien • Montenegro
• Chile • Nordmazedonien
• China • Philippinen
• Indien • Serbien
• Israel • Türkei
• Japan • Tunesien
• Kanada • Uruguay
• Korea • USA
Die einzelnen SV-Abkommen regeln jedoch unterschiedliche Anwendungsbereiche. Es ist von Staat zu Staat verschieden, ob das Abkommen zum Beispiel nur die Kranken- und Rentenversicherung betrifft oder aber auch die Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung.
Das muss individuell aus dem Abkommen entnommen werden. Hilfe finden Sie dazu unter: www.dvka.de.
Zeitlich befristete Auslandsentsendung in Nicht-Abkommensstaaten
Die meisten Staaten auf der Erde gehören nicht zum EWG-Raum und haben auch kein SV-Abkommen mit Deutschland.
Hier kommt es bei einem Auslandseinsatz allein auf die Befristungen an. Für einen Arbeitnehmer gelten dann während einer vorübergehenden Beschäftigung im Ausland die deutschen Vorschriften über die Sozialversicherung nach § 4 Abs. 1 SGB IV weiter, wenn es sich um eine Entsendung im Rahmen eines in Deutschland bestehenden Beschäftigungsverhältnisses handelt und die Dauer der Beschäftigung im Ausland vertraglich oder durch ihre Eigenart im Voraus zeitlich begrenzt ist.
§4 Abs. 1 SGB IV kennt als Grundvorschrift keine starre Zeitgrenze, anders als die EG-Verordnungen, die innereuropäische Entsendungen für den EWG-Raum auf eine maximale Dauer von 24 Monaten beschränken.
Eine zeitliche Begrenzung der Entsendung im Sinne der Ausstrahlung liegt nur vor, wenn bei vorausschauender Betrachtungsweise ein zeitliches Ende absehbar ist. Die Begrenzung im Voraus kann sich aus der Eigenart der Beschäftigung oder aus einem Vertrag ergeben.
Mitarbeiter aus dem Ausland werden in Deutschland beschäftigt
Wenn Mitarbeiter, die im Ausland leben und arbeiten, nach Deutschland kommen, gilt umgekehrt das Gleiche bereits beschreiben unter „Beschäftigung im Ausland“.
Welche Verfahrensdokumentationen sind erforderlich?
Ob die Voraussetzungen einer Entsendung vorliegen, hat der Arbeitgeber vor Aufnahme der Beschäftigung im Ausland zu prüfen. Er kann, insbesondere in Zweifelsfällen, von der zuständigen Einzugsstelle verlangen, dass diese eine Feststellung darüber trifft, ob im Einzelfall eine Sozialversicherungspflicht (SV-Pflicht) im Rahmen einer Entsendung im Sinne der Ausstrahlung vorliegt oder nicht (§ 28h Absatz 2 SGB IV).
Damit rechtlich sicher bei den Auslandseinsätzen auch wirklich weiter das deutsche SV-Recht gilt und das jeweils vor Ort gültige ausländische Recht nicht, muss für die betreffenden Mitarbeiter eine A1-Bescheinigung beantragt werden.
Diese A1-Bescheinigungen können Arbeitgeber mittlerweile über das Lohnprogramm – im Regelfall – bei der Krankenkasse des betreffenden Mitarbeiters beantragen. Die Krankenkassen sind dann verpflichtet, diese A1-Bescheinigungen – die auch im Ausland bei den Prüfbehörden anerkannt werden – innerhalb von drei Werktagen ab Beantragung dem Arbeitgeber auszustellen. Die A1-Bescheinigung wird dann in das Lohnprogramm eingespielt. Der Arbeitgeber muss diese Bescheinigung seinem Arbeitnehmer aushändigen und die Arbeitnehmer müssen diese während des Auslandseinsatzes mit sich führen und auf Verlangen der ausländischen Prüfbehörden vorzeigen können.
Diese A1-Bescheinigungen sind für jeden (!) befristeten dienstlich veranlassten Auslandseinsatz erforderlich – ab der ersten Minute; es gibt keine Bagatellregelung für Kurzeinsätze.
Insbesondere die österreichischen Prüfbehörden sind diesbezüglich sehr streng. Nach dem österreichischen Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz (LSD-BG) muss jede Entsendung oder Überlassung bei den Behörden gemeldet werden (§ 19 LSD-BG). Zusätzlich ist die A1-Bescheinigung bereitzuhalten. Bei Verstößen drohen Strafen, die sich auf 500 bis 5.000 Euro pro Arbeitnehmer belaufen können.
Fazit:
Arbeitgeber sollten das Thema Entsendung und insbesondere auch die A1-Bescheinigung wirklich ernst nehmen.
Jörg Romanowski, Diplom-Verwaltungswirt (FH), Rentenberater