Im Blick: Arbeitsrecht
Urlaubsgewährung bei fristloser Kündigung
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 25.08.2020 – 9 AZR 612/19
Ein bisher in der Praxis oft nicht beachtetes Urteil, welches Arbeitgeber im Zusammenhang mit außerordentlichen fristlosen Kündigungen kennen und anwenden sollten. Denn nach der Rechtsprechung des BAG ist es möglich, dass Arbeitgeber bei Ausspruch einer außerordentlichen fristlosen Kündigung vorsorglich noch ausstehenden Urlaub für den Fall gewähren können, dass die fristlose Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Dem stehen weder sozialversicherungsrechtliche Handlungsobliegenheiten des Arbeitnehmers noch die Ungewissheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses entgegen.
Verortung des Urteils
Im Fall von schwerwiegenden Pflichtverletzungen wird typischerweise – abhängig von den Einzelheiten – eine außerordentliche fristlose Kündigung und vorsorglich hilfsweise ordentliche Kündigung zum nächstzulässigen Termin ausgesprochen. An das Thema Urlaub wird häufig nicht gedacht, da man davon ausgeht, dass die außerordentliche Kündigung einer gerichtlichen Überprüfung „standhält“ und damit das Arbeitsverhältnis ab Zugang der Kündigungserklärung beendet ist. Was passiert aber mit dem Urlaubsanspruch, wenn die außerordentliche Kündigung doch nicht hält oder die Parteien sich im Rahmen eines Vergleichs auf die Beendigung zum ordentlichen Beendigungszeitpunkt einigen?
Der Sachverhalt
Die Parteien streiten über die restliche Vergütung aus einem beendeten Arbeitsverhältnis.
Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich fristlos mit Schreiben vom 18.09.2017, hilfsweise ordentlich zum 30.11.2017. Im Kündigungsschreiben erteilte der Arbeitgeber dem Kläger vorsorglich Urlaub für den Fall, dass sich die fristlose Kündigung als unwirksam erweisen sollte. Zugleich erklärte er, dass die geleistete Urlaubsabgeltung in diesem Fall als Zahlung des Urlaubsentgelts gelte, und sicherte dem Kläger die Urlaubsvergütung vorbehaltlos zu. Wörtlich hieß es in dem Kündigungsschreiben:

„Für den Fall der Wirksamkeit der fristlosen Kündigung gelte ich Ihren bis zum Kündigungszeitpunkt nicht genommenen Urlaub ab. Für den Fall der nicht anzunehmenden Unwirksamkeit der fristlosen Kündigung habe ich Ihnen hilfsweise ordentlich gekündigt. In diesem Fall gilt Folgendes:
Sie werden Ihren sämtlichen noch nicht genommenen Urlaub direkt im Anschluss an den Zeitpunkt des Zugangs dieser Kündigung in der Zeit vom 19.09.2017 bis 11.10.2017 nehmen. Die gezahlte Abgeltung ist dann als Zahlung des Urlaubsentgelts für den betreffenden Zeitraum zu verstehen. In jedem Fall sage ich Ihnen für die Zeit Ihres Urlaubs die Urlaubsvergütung vorbehaltlos zu.“
Der Arbeitgeber rechnete das Entgelt bis zum 18.09.2017 zzgl. einer Urlaubsabgeltung i. H. v. ca. 1.300 Euro brutto ab. Der Kläger erhob gegen die Kündigung Kündigungsschutzklage.
Die Parteien einigten sich im Kündigungsschutzverfahren auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum ordentlichen Beendigungstermin, dem 30.11.2017. Daneben verpflichtete sich der Beklagte, an den Kläger eine Abfindung i. H. v. 4.000 Euro brutto zu bezahlen sowie den Zeitraum vom 18.09.2017 bis 31.10.2017 ordnungsgemäß auf der Basis eines Monatsgrundgehalts in Höhe von 1.900 Euro abzurechnen.
Der Arbeitgeber behandelte die gezahlte Urlaubsabgeltung bei der Abrechnung als bereits geleistetes Urlaubsentgelt. Hiergegen wendete sich der Kläger mit einer weiteren Klage mit der Begründung, die vorsorgliche Urlaubsgewährung sei wegen Verfehlung des Urlaubszwecks nicht zulässig gewesen. Die Vorinstanzen wiesen die Klage.
Die Entscheidung
Die Revision des Klägers hatte ebenfalls keinen Erfolg. Das BAG entschied, dass der Kläger keinen Anspruch aus Annahmeverzug hat, da ihm für den fraglichen Zeitraum Urlaub gewährt wurde.
Das BAG führte hierzu aus, dass nach § 615 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) der Arbeitgeber die vereinbarte Vergütung gem. § 611a Abs. 2 BGB fortzuzahlen habe, wenn er mit der Annahme der Dienste des Arbeitnehmers in Verzug gerät, was nach § 293 BGB die Nichtannahme der vom Arbeitnehmer geschuldeten Arbeitsleistung voraussetze. Hierzu müsse jedoch im streitgegenständlichen Zeitraum ein erfüllbares Arbeitsverhältnis bestehen, aufgrund dessen der Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung verpflichtet sei. Sei jedoch – wie hier – der Arbeitnehmer rechtswirksam durch Urlaubsgewährung von der Arbeitspflicht befreit, so scheide ein Anspruch auf Annahmeverzugslohn aus.
Der Arbeitgeber kann dem Arbeitnehmer Urlaub vorsorglich für den Fall gewähren, dass eine von ihm erklärte Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht auflöst. Voraussetzung ist eine eindeutige Urlaubserteilung und die Zahlung des Urlaubsentgelts vor Antritt des Urlaubs oder dessen vorbehaltlose Zusage.
Nach Auffassung des BAG steht die Ungewissheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses der Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber nicht entgegen. Gewissheit über das Bestehen einer Arbeitspflicht sei nicht erforderlich. Entscheidend sei vielmehr, dass der Arbeitnehmer wisse, dass er für einen bestimmten Zeitraum nicht zur Arbeit herangezogen werde und ihm dadurch Freizeit zur Erholung und Entspannung zur Verfügung stehe.
Auch sozialversicherungsrechtliche Handlungsobliegenheiten gegenüber der Agentur für Arbeit stünden der Erfüllung des Urlaubsanspruchs nicht entgegen. Sie seien dem persönlichen Lebensbereich des Arbeitnehmers zuzuordnen. Der Arbeitgeber schulde über die Freistellung von der Arbeitspflicht und der Zahlung von Urlaubsentgelt keinen darüber hinausgehenden Urlaubserfolg.

Kurz erklärt
- Im Zusammenhang mit dem Ausspruch einer fristlosen Kündigung kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Urlaub vorsorglich für den Fall gewähren, dass die außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht auflöst. Dazu muss er den Arbeitnehmer unmissverständlich und endgültig zur Erfüllung des Anspruchs auf Erholungsurlaub von der Arbeitspflicht befreien und das Urlaubsentgelt entweder vor Antritt des Urlaubs zahlen oder dessen Zahlung vorbehaltlos zusagen.
- Ist der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ungewiss, weil der Arbeitnehmer gegen die fristlose Kündigung Kündigungsschutzklage erhoben hat, steht dies der Erfüllung des Urlaubsanspruchs nicht entgegen. Maßgeblich ist nicht, ob der Arbeitnehmer das Bestehen seiner Arbeitspflicht kennt, sondern dass er die Gewissheit hat, während eines bestimmten Zeitraums nicht zur Arbeit herangezogen zu werden, und sich deshalb nicht zur Erbringung einer Arbeitsleistung bereithalten muss.
- Das BAG bestätigt mit seiner Rechtsprechung zutreffend die Risikoverteilung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Mit unwidersprochener Festlegung des Urlaubszeitraums und der Zahlung des Urlaubsentgelts oder zumindest dessen vorbehaltloser Zusage erfüllt der Arbeitgeber sein „Soll“. Den Urlaub störende Ereignisse fallen grundsätzlich in die Risikosphäre des Arbeitnehmers. Der Arbeitnehmer trägt das Risiko, dass sich der Urlaubszweck nach der Urlaubsgewährung nicht vollständig realisiert, etwa, weil er seine Erreichbarkeit durch die Agentur für Arbeit sicherstellen muss.
Praxistipp
Da das BAG ausdrücklich entschieden hat, dass die zitierten Erklärungen des Arbeitgebers im Kündigungsschreiben den Anforderungen an eine wirksame vorsorgliche Urlaubsgewährung standhalten, ist dies eine gute Vorlage für Arbeitgeber bei Ausspruch einer außerordentlichen und hilfsweise ordentlichen Kündigung.

Kritik am Arbeitgeber kann Kündigung rechtfertigen
Landesarbeitsgericht (LAG) Thüringen, Urteil vom 19.04.2023 – 4 Sa 269/22
Das LAG Thüringen entschied über die Wirksamkeit einer Kündigung nach harscher Kritik eines Beschäftigten an dem Arbeitgeber.
Verortung des Urteils
Immer wieder stellt sich die Frage, wie weit Arbeitnehmer im Rahmen ihrer Meinungsfreiheit (Art. 5 Grundgesetz (GG)) Kritik am Arbeitgeber äußern dürfen. Besonders brisant wird diese Frage, wenn die Kritik nicht nur gegenüber dem Arbeitgeber, sondern öffentlich geäußert wird.
Der Meinungsfreiheit steht insoweit die Loyalitätspflicht des Arbeitnehmers gegenüber. Hieraus folgt die Verpflichtung, ehrverletzende Kritik am Arbeitgeber zu unterlassen. Daher sind bei der Frage, ob die Loyalitätspflicht vom Arbeitnehmer verletzt wurde, die Belange beider Parteien – der Persönlichkeitsschutz des Arbeitgebers und die arbeitsrechtlichen Pflichten neben dem Recht auf freie Meinungsäußerung des Arbeitnehmers – zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) muss das Grundrecht auf Meinungsfreiheit in der Regel dann zurücktreten, wenn die Äußerung des Arbeitnehmers einen Angriff auf die Menschenwürde oder eine Beleidigung darstellt. Maßgeblich ist außerdem die Schwere der jeweiligen Beeinträchtigung durch die Kritik.
Überwiegt die Verletzung der Loyalitätspflicht das Recht auf freie Meinungsäußerung, ist grundsätzlich eine verhaltensbedingte Kündigung möglich. Das Grundrecht des Arbeitnehmers tritt in einem solchen Fall zurück.
Der Sachverhalt
Ein Therapeut einer psychiatrischen Einrichtung übte im Internet harsche Kritik an seinem Arbeitgeber, dem Thüringer Maßregelvollzug. Er errichtete für einen verstorbenen Untergebrachten im Internet eine Gedenkseite. Dort formulierte er wörtlich: „A… durfte nach einem ungleichen Kampf, den er nicht gewinnen konnte, friedlich einschlafen, den er den B… Fachkliniken C… mit seiner Oberärztin D… mit zu verdanken hatte, die ein fachärztliches Konsil über Monate hinweg hinauszögerte.“
Außerdem verfasste er unter einem Pseudonym eine Internetpublikation. Unter der Überschrift „Bossing und Mobbing“ hatte er im Internet die Zustände im Thüringer Maßregelvollzug kritisiert, weil die Thüringer Pläne einer Verstaatlichung noch immer nicht umgesetzt seien. Es gebe „permanente Rechtsbrüche von privaten Betreibern“. Konkret nannte er Datenschutzverletzungen, Schreibtischdurchsuchungen und die Bloßstellung schwerbehinderter Mitarbeiter. Die Mitglieder des Betriebsrats ließen sich für Mobbing „verzwecken“. Außerdem behauptete er, dass im Maßregelvollzug Untergebrachte in den Hungerstreik getreten seien, aber unzureichend versorgt würden.
Am 25.01.2022 erhielt die Beklagte einen Brief des Klägers, bei dem auf dem Briefumschlag als Adresse angegeben war „B… Fachklinik für Bossing & Mobbing inkl. Verleumdungen und Datenschutzverletzungen“ nebst Adresse.
Die Einrichtung suchte den Dialog mit dem Betriebsrat und einer Vertretung für Schwerbehinderte und entschied sich für eine fristlose Kündigung des Therapeuten. Dieser klagte hiergegen und berief sich auf sein Recht auf Meinungsfreiheit.
Die Entscheidung
Das LAG Thüringen hielt die Kündigung für zulässig und erklärte, dass der Beschäftigte mit seiner Kritik überzogen hatte.
Dies, obwohl das LAG zugunsten des Klägers unterstellte, dass sowohl seine Äußerungen auf der Gedenkseite für den ehemals Untergebrachten und zwischenzeitlich Verstorbenen als auch seine im Internetmagazin getätigten Äußerungen und auch die Adressierung des Beklagten in einem Brief als „B… für Bossing und Mobbing“ unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen. Insoweit verwies das LAG auf die BAG-Rechtsprechung: Auch Äußerungen, in denen sich Tatsachen und Meinungen vermengen, die erkennen lassen, dass sie durch Elemente einer Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sind, fallen unter den Schutzbereich des Rechts auf Meinungsfreiheit (BAG, 05.12.2019 – 2 AZR 240/19, NZA 2020, 646 654 Rn. 93 ff.).
Auch ging das LAG nicht davon aus, dass es sich bei den hier in Rede stehenden Äußerungen um reine Schmähkritik handelt, die nicht unter den Schutz von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fiele. Eine Schmähung ist eine Äußerung, die unter Berücksichtigung von Anlass und Kontext allein die Diffamierung einer anderen Person beabsichtigt und nicht auch polemisch formulierte und überspitzte Kritik darstellt, mit der auch eine Auseinandersetzung in der Sache gesucht wird (BAG, 05.12.2019 – 2 AZR 240/19, NZA 2020, 646 653 Rn. 87). Die überspitzte Kritik des Therapeuten wurde nicht als Schmähkritik angesehen, da sie eine sachliche Auseinandersetzung bezweckte.
Trotzdem war die hier ausgesprochene außerordentliche Kündigung wirksam. Das Recht auf Meinungsfreiheit gilt nicht schrankenlos. Unter anderem gehört § 241 Abs. 2 BGB zu den allgemeinen, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetzen. Zwischen der Meinungsfreiheit und dem beschränkenden Gesetz findet eine Wechselwirkung statt. Die Reichweite der Pflicht zur vertraglichen Rücksichtnahme muss ihrerseits unter Beachtung der Bedeutung des Grundrechts bestimmt werden, der Meinungsfreiheit muss dabei die ihr gebührende Beachtung geschenkt werden und umgekehrt.
In Anwendung dieser Grundsätze ergibt die Abwägung der Einzelheiten des Falls, dass der Kläger die Grenzen der freien Meinungsäußerung überschritten hat.
Das LAG hat hierbei insbesondere darauf abgestellt, dass derjenige, der Missstände bei seinem Arbeitgeber öffentlich machen will, zunächst verpflichtet ist, die Tatsachen, die er öffentlich machen will, selbst einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen, bevor er damit an die Öffentlichkeit geht (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 16.02.2021 – 23922/19, NJW 2021, 2343 ff.). Hierzu konnte der Kläger im Verfahren nichts vortragen.
Im Rahmen der Abwägung wiegt auch schwer, dass der Kläger sich vor allem diffamierender Schlagwörter wie „Bossing“ und „Mobbing“ bediente. Auf diese Weise macht er eine Überprüfung seiner Behauptungen durch die Beklagte unmöglich. Das zeigt, dass zwar auch eine Auseinandersetzung in der Sache von ihm intendiert ist, er jedoch in allererster Linie seinen Arbeitgeber diffamieren und bloßstellen will. Insgesamt sind seine Äußerungen geprägt von einer aggressiven und feindlichen Einstellung gegenüber seinem Arbeitgeber, dem er durch die Äußerungen in der Öffentlichkeit auch Schaden zufügen will.

Kurz erklärt
- Trotz des grundrechtlichen Schutzes der Meinungsfreiheit müssen Arbeitnehmer gewisse arbeitsvertragliche Pflichten beachten, wie zum Beispiel die Rücksichtnahme auf den Arbeitgeber (§ 241 BGB). Wer Missstände am Arbeitsplatz öffentlich machen möchte, ist zunächst verpflichtet, die Tatsachen einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen, bevor er damit an die Öffentlichkeit geht.
- Dies muss erst recht nach Inkrafttreten des Hinweisgeberschutzgesetzes gelten, welches vor Offenlegung von Missständen gegenüber der Öffentlichkeit eine Meldung an die externe Meldebehörde vorschreibt.
- Auch wenn ein Arbeitnehmer gegenüber der Betriebsleitung bzw. seinem Arbeitgeber schwerwiegende Vorwürfe erhebt – wie Ausbeutung, Altersdiskriminierung, Ungleichbehandlung, Mobbing, Begehung von Gesetzesverstößen, von schweren Straftaten, Verletzung von Arbeitnehmerrechten, Gefährdung der Gesundheit, der Würde, der Menschenrechte –, die auf keinerlei Tatsachen gestützt werden können, liegen Ehrverletzungen vor. Diese können geeignet sein, eine außerordentliche Kündigung ohne vorherige gleichgelagerte Abmahnung zu begründen, wie das LAG Mecklenburg-Vorpommern im Urteil vom 16.08.2022 (2 Sa 54/22) dies feststellte.
Praxistipp
Wenn es um die Kritik am Arbeitgeber geht, ist genau hinzusehen und zu prüfen, um welche Form der Kritik es sich handelt und inwieweit diese Kritik von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.
Beweisverwertungsverbot bei erlaubter Privatnutzung eines Diensthandys?
Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg, Urteil vom 27.01.2023 – 12 Sa 56/21
Kündigt der Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis aufgrund bekannt gewordener Tatsachen durch verdeckte Einsicht in E-Mail- und WhatsApp-Verläufe, kann dies zu Schadensersatzansprüchen der Mitarbeiter führen, wenn die private Nutzung geschäftlicher IT nicht klar geregelt ist.
Verortung des Urteils
Es geht um die Frage, ob Arbeitgeber privat versendete Nachrichten auf Diensthandys überprüfen dürfen und inwieweit die hierbei gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen eines Kündigungsszenarios verwendet werden dürfen. Interessant ist das Urteil aus zwei Gründen:
- Beweisverwertungsverbote – Beweisverwertungsverbote sind im Arbeitsrecht gesetzlich nicht normiert. Ähnlich wie im Strafrecht erfolgt eine Einzelfallabwägung, in der die widerstreitenden Grundrechtspositionen gegeneinander abgewogen werden. Die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg zeigt einmal mehr, wie wichtig in diesem Zusammenhang auch die datenschutzrechtliche Bewertung ist. Stellt sich die arbeitgeberseitig ergriffene Maßnahme als datenschutzrechtlich zulässig heraus, kann bereits kein Beweisverwertungsverbot zugunsten des Arbeitnehmers eingreifen. Ist die Maßnahme hingegen unzulässig, findet eine Abwägung statt.
- Umgang mit der Privatnutzung von betrieblichen Kommunikationsmitteln – Außerdem zeigt die Entscheidung auf, wie wichtig die Schaffung klarer Regelungen für den Umgang mit betrieblichen Kommunikationsmitteln ist. Über den Umgang mit der Privatnutzung von betrieblichen Kommunikationsmitteln kann jedes Unternehmen selbst entscheiden. Es gibt Gründe, die für eine Privatnutzung sprechen (z. B. die Benefits für die Beschäftigten), und Gründe dagegen (z. B. ein höheres Risiko von Cyberangriffen). Egal wie man sich als Unternehmen entscheidet: Es bedarf einer klaren Regelung, die dann auch durchgesetzt wird. Fehlende Regelungen stellen nicht nur ein Compliance-Risiko dar, sondern führen schnell zu Datenschutzverletzungen.
Der Sachverhalt
Die Parteien streiten über zwei außerordentliche, hilfsweise ordentliche verhaltensbedingte Kündigungen, eine betriebsbedingte Kündigung, hilfsweise die Auflösung des Arbeitsverhältnisses, datenschutzrechtliche Entschädigungsansprüche sowie Annahmeverzugslohn.
Der Kläger war seit dem 01.01.2015 bei der Beklagten tätig und erhielt ein Firmenhandy für seine Arbeit. Da er keine zwei Handys nutzen wollte, war die Beklagte damit einverstanden, dass der Kläger seine private SIM-Karte samt Mobilfunknummer einbrachte. Der Kläger nutzte das Firmenhandy somit sowohl dienstlich als auch privat. Die Beklagte übernahm wegen der dienstlichen Mitnutzung die Kosten des auf den Kläger laufenden Handyvertrags. Im Dezember 2016 kaufte sich der Kläger ein neues iPhone unter Weiterverwendung der bisherigen SIM-Karte und Mobilfunknummer. Auf dem Smartphone war der Messenger-Dienst WhatsApp installiert. Diesen nutzte der Kläger sowohl für private Nachrichten an Freunde, Bekannte und Verwandte als auch für dienstliche Nachrichten an Kollegen und Vorgesetzte. Über das Smartphone wickelte der Kläger auch seinen dienstlichen E-Mail-Verkehr ab.
Nachdem sich die Parteien über die Gehaltsvorstellungen des Klägers nicht einigen konnten und die Beklagte den Verdacht hatte, dass der Kläger betriebliche Daten an unbefugte Dritte weitergegeben hatte, kündigte sie mit Schreiben vom 02.07.2020 das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich, hilfsweise ordentlich. Der Kläger wurde zur Herausgabe des Diensthandys aufgefordert, ihm wurde keine Gelegenheit zur Löschung oder zum Verschieben seiner privaten Nachrichten in einen separaten Ordner gegeben. Die Beklagte wertete die seit Beschäftigungsbeginn auf dem Diensthandy vorhandenen betrieblichen und privaten Nachrichten (E-Mails und WhatsApp) des Klägers aus und verwendete diese, um ihre Kündigung in dem vom Kläger eingereichten Kündigungsschutzverfahren zu begründen und den Verdacht zu beweisen.
Das Arbeitsgericht (ArbG) Mannheim erklärte die außerordentliche Kündigung vom 02.07.2020 für unwirksam und verurteilte die Beklagte zur Nachzahlung der Vergütung sowie Schadensersatz in Höhe von 7.500 Euro wegen der Auswertung privater Nachrichten des Klägers. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Die erste Instanz hielt die außerordentliche Kündigung schon wegen Nichtbeachtung der Zweiwochenfrist für unwirksam und war der Auffassung, dass die WhatsApp-Nachrichten des Klägers nicht ohne seine Einwilligung und Anwesenheit ausgewertet werden durften. Die Gründe für die ordentliche Kündigung vom 02.07.2020 wurden hingegen als erwiesen angesehen. Beide Parteien legten Berufung ein.
Die Entscheidung
Das LAG Baden-Württemberg änderte das Urteil des ArbG Mannheim teilweise ab. Es stellte fest, dass die Kündigung vom 02.07.2020 das Arbeitsverhältnis weder ordentlich noch außerordentlich beendet hat. Die Beklagte wurde zur Nachzahlung des Arbeitsentgelts und zu einem Schadensersatz in Höhe von 3.000 Euro verurteilt. Die übrigen Klagepunkte wurden abgewiesen.
Die außerordentliche verhaltensbedingte Kündigung hielt das LAG – anders als die Vorinstanz – für unwirksam, da ein Grund zur fristlosen Kündigung i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB nicht vorlag. Dies resultierte aus dem umfassenden Sachvortragsverwertungsverbot hinsichtlich des Kündigungsvortrags der Beklagten.
Begründet wurde dies damit, dass die Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) die Anforderungen an eine zulässige Datenverarbeitung den Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung konkretisieren und aktualisieren. War die fragliche Maßnahme nach den Bestimmungen des BDSG nicht erlaubt, wie hier, folgt hieraus regelmäßig ein Verbot der Verwertung der unzulässig beschafften Daten und Erkenntnisse.
Hergeleitet wurde das Sachvortragsverwertungsverbot wie folgt: Hat der Arbeitgeber die Privatnutzung dienstlicher Kommunikationsmittel (E-Mail, WhatsApp) erlaubt, ist im Rahmen von § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG bei deren Auswertung eine verschärfte Verhältnismäßigkeitskontrolle durchzuführen.
Bei erlaubter Privatnutzung eines dienstlichen E-Mail-Accounts darf eine verdachtsunabhängige Überprüfung durch den Arbeitgeber in aller Regel nicht verdeckt erfolgen. Vielmehr muss dem Arbeitnehmer angekündigt werden, dass und aus welchem Grund eine Verarbeitung von E-Mails stattfinden soll. Es muss ihm die Gelegenheit gegeben werden, private Nachrichten in einem gesonderten Ordner zu speichern, auf den kein Zugriff erfolgt.
Nach Ansicht des LAG spricht viel dafür, dass bei unterbliebener ausdrücklicher Regelung durch den Arbeitgeber die Arbeitnehmer grundsätzlich von einer Erlaubnis auch zur privaten Kommunikation über einen dienstlichen E-Mail-Account ausgehen können (im Ergebnis hier offengelassen).
Wird einem Arbeitnehmer ein Smartphone als umfassendes Kommunikations- und Organisationsgerät überlassen und erfolgt im Hinblick auf bestimmte Kommunikationsformen (WhatsApp, SMS, Telefon) ausdrücklich eine einvernehmliche Mischnutzung, darf der Arbeitnehmer annehmen, dass sich die Erlaubnis auch auf andere Kommunikationsformen (E-Mail) bezieht. Angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls ging das LAG davon aus, dass der Kläger berechtigterweise eine Erlaubnis zur privaten Nutzung annehmen durfte.
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze kam das LAG zu dem umfassenden Sachvortragsverwertungsverbot. Hierbei wiegte zulasten des Arbeitgebers schwer, dass die Auswertung der E-Mails für die komplette Dauer des Arbeitsverhältnisses vorgenommen wurde.
Kurz erklärt
- Das LAG Baden-Württemberg geht davon aus, dass eine Privatnutzung üblich ist, wenn es keine Regelungen im Betrieb gibt.
- Eine verdeckte Überwachung des dann möglicherweise auch privaten E-Mail-Verkehrs der Mitarbeiter ist rechtswidrig. Und rechtswidrig erlangte Erkenntnisse unterliegen einem Sachvortrags- oder Beweisverwertungsverbot.
- Kündigt der Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis aufgrund bekannt gewordener Tatsachen durch verdeckte Einsicht in E-Mail- und WhatsApp-Verläufe, kann dies zu Schadensersatzansprüchen der Mitarbeiter führen, wenn die private Nutzung geschäftlicher IT nicht geregelt ist.
Praxistipp
Das Urteil zeigt, wie wichtig klare Regeln für die Nutzung betrieblicher IT-Systeme sind. Unternehmen, die noch keine klaren Spielregeln für die Privatnutzung von betrieblichen Kommunikationsmitteln haben, sollten diese unbedingt aufstellen. Nur so können datenschutzrechtliche und arbeitsrechtliche Nachteile vermieden werden. Werden keine klaren Regeln zur Privatnutzung von betrieblichen Kommunikationsmitteln getroffen, kann das weitreichende Folgen haben. Wenn Arbeitgeber beispielsweise die E-Mails von Mitarbeitern ohne deren Wissen auswerten, kann dies einen Datenschutzverstoß darstellen. Im schlimmsten Fall drohen nicht nur Schmerzensgeldforderungen, sondern auch – wie hier – Beweisverwertungsverbote.
Dr. Michaela Felisiak, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte