Im Blick: Arbeitsrecht
Die Inflationsausgleichsprämie und der Gleichbehandlungsgrundsatz
Arbeitsgericht Paderborn, Urteil vom 06.07.2023 – 1 Ca 54/23
Ein sehr praxisrelevantes Urteil! Ein Unternehmen entscheidet sich dazu, die Inflationsausgleichsprämie auszuzahlen, möchte hierbei aber zwischen unterschiedlichen Mitarbeitergruppen unterscheiden und nicht allen gleich viel zahlen. Geht das? Das geht, entschied das Arbeitsgericht Potsdam und stellt klar, unter welchen Bedingungen.
Verortung des Urteils
Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz ist ein Grundprinzip des deutschen Arbeitsrechts, das – neben dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) – Diskriminierung am Arbeitsplatz verhindern soll. Er gilt für alle Phasen des Arbeitsverhältnisses, von der Einstellung bis zur Kündigung, und verpflichtet Arbeitgeber, ihre Beschäftigten gleichzubehandeln, es sei denn, es liegen sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung vor.
Im Kontext der Inflationsausgleichsprämie, die eine steuer- und sozialabgabenfreie Sonderzahlung ist, die Arbeitgeber freiwillig ihren Mitarbeitern zahlen können, spielt der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz eine wichtige Rolle und begrenzt die unternehmerische Freiheit.
Zwar basiert die Frage, ob und in welcher Höhe (bis zu 3.000 Euro) ein Arbeitgeber die Inflationsausgleichsprämie ausbezahlt, auf dessen eigener Entscheidung, allerdings muss er dabei den allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz beachten, der eine willkürliche oder diskriminierende Behandlung von Mitarbeitern verbietet. Spannend ist daher die Frage, inwieweit ein Arbeitgeber zwischen einzelnen Mitarbeitergruppen unterscheiden kann und welche Grenze wiederum der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz hat.
Der Sachverhalt
Die Klägerin ist seit dem 01.09.2009 als Teilzeitverkäuferin bei der Beklagten beschäftigt und erhielt zuletzt ein monatliches Bruttogehalt von 1.658,90 Euro. Die Beklagte bot ihren Arbeitnehmern neue Arbeitsverträge an, die unter anderem den Verzicht auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld beinhalteten. Die Klägerin lehnte dieses Angebot ab. In den Jahren 2020 und 2021 erhielt sie Sonderzahlungen in Höhe von insgesamt 3.700,00 Euro sowie für das Jahr 2022 eine Sonderzahlung in Höhe von 1.036,81 Euro, die sie eingeklagt hatte.
Die Beklagte informierte alle Arbeitnehmer am 29.09.2022 über die geplante Auszahlung einer Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 1.000,00 Euro netto im Dezember 2022. Diese Prämie sollte an alle Mitarbeiter gehen, die in den vergangenen Geschäftsjahren auf Sonderzahlungen verzichtet hatten. Wörtlich hieß es in dem Schreiben wie folgt:
„[…] Wir haben immer gesagt, dass – wenn [die Beklagte] wieder besser da steht – ihr daran teilhaben werdet. Dabei haben wir – in Abstimmung mit dem Betriebsrat, der sich hierfür intensiv eingesetzt hat – entschieden, dass alle Mitarbeiter*innen, die in diesem Geschäftsjahr auf Sonderzahlungen verzichtet haben, spätestens Anfang Dezember eine freiwillige Einmalzahlung von netto 1.000,00 Euro Inflationsprämie erhalten. Teilzeitkräfte erhalten diese entsprechend anteilig*. Wir nehmen die durch die steigende Inflation wachsenden finanziellen Belastungen wahr und hoffen, hierdurch etwas Entlastung zu schaffen.“
Da die Arbeitnehmerin zuvor Sonderzahlungen erhalten hatte, erhielt sie keine Inflationsausgleichsprämie, weshalb sie diese wiederum gegenüber dem Unternehmen einklagte. Sie stützte ihren Anspruch auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz und einen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot gemäß § 612a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).
Die Beklagte verteidigte sich, indem sie betonte, dass die Prämie gezielt an die Arbeitnehmer ausgezahlt wurde, die neue Arbeitsverträge unterzeichnet und damit auf Sonderzahlungen verzichtet hatten, um Solidarität während wirtschaftlicher Engpässe zu zeigen.
Die Entscheidung
Das Arbeitsgericht Paderborn wies die Klage ab und sah weder einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz noch gegen das Maßregelverbot als gegeben an. Dies resultierte aus folgenden Überlegungen:
- Kein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz:
Ein Ausgleich der inflationsbedingten Teuerungsrate müsse nicht allen Mitarbeitenden gleichermaßen gewährt werden, wenn ein sachlicher Grund für die Differenzierung bestünde. Das Arbeitsgericht argumentierte, dass die Beklagte die Inflationsausgleichsprämie zu Recht nur an die Arbeitnehmer ausgezahlt hatte, die neue Arbeitsverträge unterzeichnet und auf Sonderzahlungen verzichtet hatten. Dies stellte eine Gruppenbildung dar, die nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz sachlich begründet ist und damit die Differenzierung rechtfertigt.
- Kein Verstoß gegen das Maßregelungsverbot gemäß § 612a BGB:
Das Gericht verneinte auch einen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot. Die Klägerin hatte ihre Rechte in zulässiger Weise ausgeübt, indem sie das Angebot auf Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags abgelehnt hatte. Die Nichtunterzeichnung des neuen Arbeitsvertrags war jedoch nicht der Grund und damit nicht kausal dafür, warum die Beklagte der Klägerin keine Inflationsausgleichsprämie ausgezahlt hatte. Die Beklagte hatte vielmehr argumentiert, dass die Klägerin bereits Sonderzahlungen erhalten hatte und daher weniger von inflationsbedingten Härten betroffen war als andere Arbeitnehmer. Das Gericht sah daher keinen Anspruch der Klägerin auf Zahlung der Inflationsausgleichsprämie und wies die Klage ab.
Kurz erklärt
- Diese Entscheidung zeigt, dass der Zweck hinter einer arbeitsrechtlichen Maßnahme (hier: Zahlung der Inflationsausgleichsprämie) jeweils genau zu analysieren ist. Dies spielt sowohl bei der Anwendung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes als auch bei der Beurteilung eines Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot gemäß § 612a BGB eine Rolle.
- In dem entschiedenen Fall wurde die Unterscheidung, ob Arbeitnehmer in den vorherigen Jahren Sonderzahlungen erhalten haben oder nicht, als angemessenes Kriterium betrachtet, um zu entscheiden, ob diesen Arbeitnehmern eine Inflationsausgleichsprämie gezahlt wird. Der Gedanke dahinter: Diese Unterscheidung ist gerechtfertigt, da Arbeitnehmer, die Sonderzahlungen erhalten haben, bereits einen gewissen Ausgleich für inflationsbedingte finanzielle Belastungen erhalten haben, während andere Arbeitnehmer noch keine solche Entschädigung erhalten haben.
- Die Entscheidung des Arbeitsgerichts belegt, dass auch der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz seine Grenzen hat. Arbeitgeber dürfen bei Leistungen an Arbeitnehmer sachliche Unterscheidungen vornehmen, sofern dies zur Erreichung eines legitimen Zwecks erforderlich und angemessen ist.
- Ein Verstoß gegen das Maßregelungsverbot gemäß § 612a BGB kann nur angenommen werden, wenn die zulässige Ausübung von Rechten durch den Arbeitnehmer kausal für seine Benachteiligung war. Im vorliegenden Fall wurde zu Recht verneint, dass die Nichtzahlung der Inflationsausgleichsprämie aufgrund der Nichtunterzeichnung des neuen Arbeitsvertrags durch die Klägerin erfolgte.
Praxistipp
Arbeitgeber dürfen nicht ohne Weiteres einzelne Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern ohne sachlichen Grund von der Inflationsausgleichsprämie ausschließen oder benachteiligen. Vielmehr müssen hierfür nachvollziehbare und objektive Kriterien vorliegen.
Diese lassen sich aber finden. Zum Beispiel können Arbeitgeber die Prämie an die Leistung, die Betriebszugehörigkeit, die Arbeitszeit oder die persönliche Situation der Arbeitnehmer anknüpfen. Auch kann die Prämie nur an bestimmte Abteilungen oder Standorte gezahlt werden, wenn diese von der Inflation besonders betroffen sind. Etwas Kreativität, die zu nachvollziehbaren Argumenten führt, lohnt sich.
Mutterschutzlohn: Anrechnung von Provisionsbeträgen
Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen, Urteil vom 20.02.2023 – 1 Sa 702/22
Ein immer wieder diskutiertes Thema: die Berechnung des Mutterschutzlohns und die Berücksichtigung von variablen Vergütungen, die während des Bezugs des Mutterschutzlohns fällig werden.
Das LAG Niedersachsen stellt insoweit auf die gesetzlichen Grundsätze ab und betont die Bedeutung der letzten drei Monate vor der Schwangerschaft für die Berechnung des Mutterschutzlohns. Außerdem stellt es klar, was mit Provisionen geschieht, die während eines Beschäftigungsverbots ausbezahlt werden.
Verortung des Urteils
Es geht um das Verhältnis von Mutterschaftslohn und zeitgleich fällig werdenden Provisionsansprüchen.
- Mutterschutzlohn: Dieser Lohn basiert in der Regel auf dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt der letzten drei abgerechneten Kalendermonate vor dem Eintritt der Schwangerschaft. Er wird gezahlt, um sicherzustellen, dass die schwangere Arbeitnehmerin während des Mutterschutzzeitraums finanziell abgesichert ist und keine finanziellen Einbußen erleidet.
- Provisionen: Provisionen sind variable Vergütungen, die Arbeitnehmer beispielsweise basierend aufgrund ihrer Leistung und ihren Verkaufserfolgen verdienen. Sie können einen erheblichen Teil des Gesamtgehalts eines Mitarbeiters ausmachen, insbesondere in Vertriebspositionen.
- Verhältnis: Unklar ist, ob Provisionen gezahlt werden müssen, die während des Bezugs von Mutterschutzlohn zur Auszahlung fällig werden.
Der Sachverhalt
Die Klägerin arbeitete als Vertriebsmitarbeiterin für die Beklagte und erhielt neben ihrem festen Gehalt auch eine variable Vergütung. Der Streitpunkt zwischen den Parteien war, ob die Provisionen, die die Klägerin vor einem Beschäftigungsverbot verdient hatte, die aber erst während eines angeordneten Beschäftigungsverbots von ihrem Arbeitgeber ausbezahlt wurden, auf das Mutterschaftsgeld angerechnet werden.
Die Klägerin war seit April 2021 schwanger, seit dem 08.09.2021 bestand ein ärztliches Beschäftigungsverbot nach § 16 Abs. 1 Mutterschutzgesetz (MuSchG). Die Beklagte errechnete den Mutterschutzlohn auf Grundlage der in den Monaten Januar, Februar und März 2021 abgerechneten und gezahlten Bruttomonatsentgelte, einschließlich eines bestimmten Provisionsanteils.
Die Klägerin forderte während ihres ärztlichen Beschäftigungsverbots die Zahlung weiterer Provisionen für September 2021, Oktober 2021 und November 2021. Diese der Höhe nach unstreitigen Provisionsansprüchen beruhen auf Geschäften, die die Klägerin vor Beginn der ärztlichen Beschäftigungsverbote vermittelt hatte und die erst später zur Zahlung fällig wurden.
Das Arbeitsgericht lehnte dies ab, mit der Begründung, dass diese Provisionsbeträge auf den Mutterschutzlohn anzurechnen seien. Die Klägerin argumentiert in ihrer Berufung, dass sie neben dem Mutterschutzlohn Anspruch auf die während des Verbots fälligen Provisionen habe. Bei einer Verrechnung der konkreten Ansprüche mit der gezahlten Pauschale für Provisionsansprüche werde die Klägerin unter Verstoß gegen §§ 7, 1 AGG benachteiligt. Bei männlichen Beschäftigten, die keine Schutzfristen in Anspruch nehmen (könnten), könne ein Verdienstausfall in dieser Form nicht entstehen. Dies rechtfertige – neben der gezahlten Pauschale – auch die kumulative Zahlung der in den Monaten des Beschäftigungsverbots fällig gewordenen Provisionen. Die Beklagte hingegen argumentierte, dass die kumulative Auszahlung von pauschalierten und weiteren Provisionen die Klägerin besserstellen würde und kein Verstoß gegen das AGG vorliegt.
Die Entscheidung
Auch das LAG lehnt den Anspruch der Klägerin ab. „Die Klägerin verkennt, dass sie bei kumulativer Auszahlung von Mutterschutzlohn und Provision tatsächlich besser stünde als in einem aktiven Beschäftigungsverhältnis“, heißt es in den Entscheidungsgründen. Indem der Arbeitgeber den Mutterschutzlohn nach dem Durchschnittsverdienst der letzten drei Monate vor Eintritt der Schwangerschaft berechnet habe, habe er den Vergütungsanspruch während des Beschäftigungsverbots vollständig erfüllt.
Begründet wurde dies u. a. mit der Zielsetzung der Norm des § 18 MuSchG. Dies sei der Schutz vor wirtschaftlichen Nachteilen, die infolge von Beschäftigungsverboten eintreten können. Schwangere sollen vor wirtschaftlichen Nachteilen bewahrt werden, die sonst mit einem Beschäftigungsverbot verbunden wären. Die Beschäftigungsverbote sollen zu keiner Verdienstminderung führen, damit jeder finanzielle Anreiz für die Arbeitnehmerin entfällt, die Arbeit trotz Beschäftigungsverbot fortzusetzen.
Der Klägerin stehen damit nicht kumulativ beide Vergütungsansprüche zu. Sie hat zwar einen arbeitsvertraglichen Provisionsanspruch, aufgrund der von ihr vermittelten Geschäfte. Gleichermaßen hat sie aber einen Anspruch aus § 18 Satz 2 MuSchG auf Weitergewährung des durchschnittlichen Arbeitsentgelts. Dieser Lohnanspruch auf Mutterschutzlohn ist – wie die streitgegenständlichen Provisionsansprüche für die Monate September bis November 2021 – arbeitsvertraglich begründet und enthält bereits einen pauschalierten Anteil an variabler Vergütung, der Provisionsausfälle ausgleichen soll. Damit beruht der Provisionsanspruch auf mehreren Anspruchsgrundlagen. Der Arbeitgeber muss jedoch nur einen Vergütungsanspruch aus dem Arbeitsvertrag erfüllen.
Daraus folgt nach Auffassung des LAG, dass jeweils der höhere Anspruch zu erfüllen ist. Hätte der allein arbeitsvertraglich begründete Provisionsanspruch zu einem höheren Entgelt geführt, hätte die Klägerin darauf Anspruch. Vorliegend waren die Provisionsansprüche aber in den relevanten Monaten geringer als im Durchschnitt der letzten drei abgerechneten Kalendermonate vor Eintritt der Schwangerschaft. Entsprechend hatte der Anspruch auf Mutterschutzlohn Vorrang und der Arbeitgeber all seine Verpflichtungen erfüllt.
Kurz erklärt
- Provisionen, die erst während eines ärztlichen Beschäftigungsverbots nach § 16 MuSchG fällig werden, kommen nur dann und nur in dem Umfang zur Auszahlung, wie sie den nach § 18 S. 2 MuSchG errechneten Mutterschutzlohn übersteigen.
- Auch bei dieser Rechtsfrage ist auf den dahinterliegenden Zweck abzustellen: Ein wichtiger Aspekt des Mutterschutzes besteht darin, sicherzustellen, dass die Inanspruchnahme dieses Schutzes keine Nachteile für die betroffenen Mutter mit sich bringt. Gleichzeitig darf jedoch auch kein Vorteil entstehen.
Praxistipp
Arbeitgeber erhalten durch die vorliegende Entscheidung eine klare Richtlinie für die Berechnung des Mutterschutzlohns bei Zusammentreffen mit Provisionen.
Compliance: Außerordentliche Kündigung wegen massiver sexueller Belästigung
Landesarbeitsgericht (LAG) Köln, Urteil vom 03.03.2023 – 6 Sa 385/21
Das hochsensible Thema „der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz“ und die damit einhergehende Notwendigkeit von Compliance können durch die Umsetzung des Hinweisgeberschutzgesetzes vermehrt an Bedeutung gewinnen. Unternehmen stehen in solchen Situationen oft vor dem Problem, dass die Betroffenen anonym bleiben wollen und die Beweisführung vor Gericht schwierig werden könnte. Wie dies doch gelingen kann, zeigt das Urteil des LAG Köln.
Verortung des Urteils
Ein Arbeitsverhältnis kann wegen sexueller Belästigung gemäß § 626 BGB außerordentlich fristlos gekündigt werden, wenn ein wichtiger Grund für die Kündigung vorliegt, der es dem Arbeitgeber unzumutbar macht, das Arbeitsverhältnis bis zum Ende der Kündigungsfrist fortzusetzen. Massive sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz, wie in dem entschiedenen Fall, können damit die außerordentliche fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. In der Praxis stellt sich jedoch ein anderes Problem. Oft trauen sich die Betroffenen nicht, ihre schmerzlichen Erfahrungen bei den zuständigen Stellen im Unternehmen zu melden. Die Angst vor kritischen Nachfragen, Vorwürfen oder gar Unverständnis, sei es seitens der belästigenden Person selbst, der Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen, überwiegt oft. Selbst wenn Betroffene den Mut aufbringen, die Vorfälle anzuzeigen, geschieht dies nicht selten unter der Bedingung, dass ihre Identität geschützt und die Sachverhalte hinreichend anonymisiert werden, um jeglichen Rückschluss auf ihre Person auszuschließen.
Dieses Dilemma stellt Unternehmen vor eine schwierige Entscheidung: Einerseits müssen sie sicherstellen, dass Beschäftigte vor weiteren Nachteilen geschützt werden, sei es in Form von fortgesetzter Belästigung oder Repressalien nach der Offenlegung ihrer Identität. Auf der anderen Seite stehen sie vor der Herausforderung, spätestens in einem Kündigungsschutzverfahren alle Details „beim Namen zu nennen“. Dies führt oft dazu, dass Unternehmen trotz einer offenkundigen Notwendigkeit zur Kündigung zögern, da sie befürchten, die Vorwürfe nicht hinreichend konkretisieren und belegen zu können – eine schier unüberbrückbar scheinende Lücke zwischen dem Schutz der Opfer und der juristischen Realität. Das Urteil des LAG Köln zeigt, dass es aber auch hier auf den Einzelfall ankommt und Unternehmen dennoch Beweismöglichkeiten haben.
Der Sachverhalt
Der Kläger, der seit über 35 Jahren bei der beklagten Stadt beschäftigt war und tariflich ordentlich unkündbar war, wehrte sich vor Gericht gegen seine außerordentliche Kündigung. Diese erfolgte aufgrund von Vorwürfen sexueller Belästigung, die im Rahmen einer psychologischen Gefährdungsbeurteilung aufgekommen waren.
Nach Bekanntwerden der Vorwürfe wurden Gespräche mit den betroffenen Mitarbeiterinnen durchgeführt und Gesprächsprotokolle erstellt. Die befragten Mitarbeiterinnen berichteten in diesen Gesprächen von diversen Bemerkungen des Klägers, von körperlichen Übergriffen, von wörtlichen Zitaten, von allgemeinen Wertungen, von eigenen Reaktionen und insgesamt von Vorkommnissen aus den Jahren 2016 bis 2020.
Folgende körperliche Übergriffe ereigneten sich: Der Kläger hatte einer Mitarbeiterin in den Bauch gekniffen, einer Mitarbeiterin Papierschnipsel in den Ausschnitt geworfen und einer Mitarbeiterin (die tatsächlich schwanger war) in den Bauch gepikst und gefragt: „Sind Sie schwanger oder haben Sie zu viel gegessen?“
Folgende Zitate (sehr verkürzter Auszug) äußerte er:
„Haben Sie wieder zugenommen?“ (regelmäßig).
„Sie haben aber noch nicht viel abgenommen.“
„Die ist echt auseinandergegangen, die hat doch einen Braten in der Röhre.“
„Frau X hat so einen prallen Hintern, der lädt zum Draufklatschen ein.“ (mehrfach seit 2016, zuletzt 2020)
„Frau X ist ja eine hübsche Frau, aber ungeschminkt möchte ich nicht neben ihr aufwachen.“
„Frau X, kommen Sie nach der Geburt mal rein. Ich will wissen, wie groß Ihre Brüste dann sind“ (2019).
„Frau X, gehen Sie sich bitte schminken, das kann man sich ja nicht ansehen.“ (immer wieder, wöchentlich).
Laut den Gesprächsprotokollen hatte der Kläger wiederholt Bemerkungen über die Brüste verschiedener Mitarbeiterinnen gemacht, Mitarbeiterinnen offensichtlich auf ihre Brüste gestarrt und Kommentare zu Kleidung, Figur und Frisur abgegeben. Darüber hinaus wurden beleidigende Äußerungen dokumentiert.
Der Kläger wendete unter anderem hiergegen ein, dass die Gespräche bzw. Befragungen insgesamt tendenziös gewesen seien und es sich um inszenierte Scheinbefragungen gehandelt habe. Der kündigungsberechtigte Vorgesetzte (Leiter des Bereichs Zentrale Dienste) erhielt am 19.11.2020 die Protokolle dieser Befragungen. Am 20.11.2020 wurde der Kläger freigestellt. Am 23.11.2020 wurde der Kläger zu den Vorwürfen angehört. Am 24.11.2020 wurde der Personalrat eingeschaltet, der gegen die Kündigung keine Einwände erhob. Das Arbeitsverhältnis wurde daraufhin mit Schreiben vom 30.11.2020 außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich unter Einhaltung einer sozialen Aushilfsfrist gekündigt.
In der ersten Instanz hielt das Arbeitsgericht die außerordentliche Kündigung für unwirksam. Interessanterweise fand in der ersten Instanz keine Zeugeneinvernahme statt. Das Arbeitsgericht hielt diese für entbehrlich.
Die Entscheidung
Das LAG bestätigte hingegen die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung und machte sich die Mühe, 10 Zeuginnen 15 Stunden lang zu vernehmen. Die Vorwürfe gliederten sich in drei Hauptkategorien: körperliche Übergriffe, verbale Belästigungen und die Schaffung einer sexualisierten hierarchischen Umgebung im Fachbereich. Die Kammer erachtete diese Kategorien sowohl einzeln als auch in Kombination als wichtigen Grund für die außerordentliche Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB.
Die befragten Mitarbeiterinnen hatten zum Teil zwar wortwörtliche Äußerungen des Klägers genannt, diese jedoch zeitlich kaum eingrenzen und insbesondere weder einen genauen Tatzeitpunkt noch -ort nennen können. Daher war die beklagte Stadt gezwungen, ihre Darlegungs- und Beweislast auf die Vernehmung der befragenden sowie befragten Personen zu stützen. Dem daraufhin ergangenen Einwand des Klägers, die Vorwürfe seien bereits in zeitlicher Hinsicht zu unbestimmt und stellten Anträge zum Ausforschungsbeweis dar, erteilte die Kammer eine Absage.
Die Kammer wertete zudem negativ, dass der Kläger teilweise unmittelbar nach den übergriffigen Handlungen angeordnet hatte, dass keine „MeToo“-Meldungen gemacht werden sollten. Dies wurde als klare Erkenntnis seiner Handlungen und der möglichen Gefährdung seines Arbeitsverhältnisses durch das Gericht interpretiert.
Auch das prozessuale Verhalten des Klägers floss in die Bewertung des LAG ein. Die Tatsache, dass der Kläger bis zum Schluss das von den befragten Zeuginnen bestätigte Verhalten bestritt und nicht nur keine Einsicht zeigte, sondern die Opfer seines Verhaltens stattdessen der Verleumdung bezichtigte, wurde von der Kammer als Indiz betrachtet, das den Kündigungsvorwurf verstärkte.
Kurz erklärt
- Prozessual bedeutet das Folgendes: Auch wenn die Vorwürfe im Vorfeld der Kündigung aufgrund der Anonymität bezüglich Zeit und Personen noch nicht vollständig konkretisiert werden können, führt dies nicht automatisch dazu, dass die Kündigung unwirksam wird. Das Unternehmen, das die Kündigung ausspricht, muss die Gründe für die Kündigung zwar im Prozess vorbringen und im Falle eines Bestreitens nachweisen. (Je vager die Darstellung des Kündigungsvorwurfs ist, desto weniger strenge Anforderungen gelten für das Bestreiten. Daher kann, wie im vorliegenden Fall, einfaches Bestreiten ausreichen.) Prozesstaktisch führt dies jedoch dann dazu, dass das Unternehmen durch andere Beweismittel – zum Beispiel einen Zeugenbeweis der befragenden Person – die Vorwürfe belegen muss.
Praxistipp
Das Urteil zeigt, welche Handlungsoptionen Unternehmen in solch einer schwierigen Situation haben. Auch wenn die betroffenen Personen bei sexuellen Übergriffen (zunächst) anonym bleiben möchten, sollten Unternehmen diese Personen befragen und anonymisierte Gesprächsprotokolle erstellen. Sollten die betroffenen Personen auch nach Ausspruch einer Kündigung in einem etwaigen Kündigungsschutzprozess nicht als Zeugen zur Verfügung stehen, kann der erforderliche Beweis immer noch durch die Vernehmung der Person erbracht werden, die die Gespräche geführt und protokolliert hat.
Da Gerichte bei der Bewertung von Beweisen auch die Position, Einstellung und andere subjektive Eigenschaften der Zeugen berücksichtigen, sollte die Befragungen von objektiven Dritten oder externen Fachleuten durchgeführt werden. Durch die Auslagerung dieser Ermittlungen wird außerdem das Risiko reduziert, dass die zweiwöchige Ausschlussfrist gemäß § 626 Abs. 2 BGB ausgelöst wird, wenn kündigungsberechtigte Personen von relevanten Fakten erfahren und nicht oder zu spät tätig werden.
Sexuelle Belästigung bleibt ein heikles Thema! Dank dieser Entscheidung haben Unternehmen aber Leitlinien, wie sie sich in solch einer Situation verhalten sollten.
Dr. Michaela Felisiak, Rechtsanwältin, Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte