Kann 2023 kommen? : Viel mehr als nur gute Vorsätze!
Steigen die Herausforderungen in Arbeitswelt und Gesellschaft, dann hilft es, den Blick auf das Wesentliche zu richten. Aus dieser Fokussierung können wir gleicher-maßen Kraft und Sicherheit schöpfen und verlieren uns nicht in der Vielzahl an aktuellen Anforderungen. Das bedeutet nicht, dass andere Perspektiven ausgeblen¬det oder ausgeschlossen werden.
Erst wenn entscheidende Felder gefestigt sind, besteht überhaupt die Basis für ein vernetztes Denken und agiles Handeln. Wo und wie begegnen wir 2023 mit viel mehr als einfachen Gedanken, gutem Glauben und unbedingt mehr als den (üblichen) Vorsätzen?
Wie das für entscheidende Bereiche aussehen und gelingen kann, beantworten Ende 2022 drei kluge Köpfe mit ihren starken Statements: Organisationsexpertin Sandra Einhoff, stellvertretende Chefredakteurin Janette Rosenberg und Jobcoach Dr. Silvija Franjic.
Arbeit + Aufgabe
Sandra Einhoff: Das Ziel unserer Arbeits- und Aufgabengestaltung sollte nicht darin bestehen, uns Druck zu machen und uns zu erschöpfen.
Es geht nicht darum, wie bei Tetris jede Lücke im Terminkalender zu befüllen, um ja aus jeder Minute das Maximum herauszupressen. Gerade bei der Aufgabenerledigung geht es darum, ein Organisationssystem zu etablieren, das uns Struktur und Klarheit für den Tag schenkt. Natürlich ist es befriedigend, am Ende des Tages viel von seiner Liste abstreichen zu können. Doch wie fühlen Sie sich am Abend? Erschöpft, ausgelaugt? Ist das nicht auf Dauer ein hoher Preis für eine ,,leere‘‘ To-do-Liste?
Janette Rosenberg: Die derzeitigen Veränderungen in unserer Gesellschaft und in unseren Denkweisen sind massiv. Aber neue Verhaltensweisen aneignen? Wie soll das gehen, wenn der Mensch dazu neigt, das Gewohnte beizubehalten? Wie oft hört man den Satz, wir haben das schon immer so gemacht. Eines ist auf jeden Fall klar, Veränderungen und dieser permanente Anpassungsprozess stellen uns täglich vor Herausforderungen.
Unternehmen sind gefordert, sich weiterzuentwickeln, sich anzupassen an die technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Aber auch eine Mitgestaltung der Belegschaft ist Voraussetzung. Agiles Handeln muss verinnerlicht sein, beim Management, bei den Führungskräften und bei den Mitarbeitern. Wenn die Unternehmenskultur, die Strukturen und Prozesse gelebt werden, ist der Erfolg sichtbar. Zum anderen bedeutet der Wandel der Arbeitswelt und der Werte auch, veraltete und unflexible Gehaltssysteme zu überdenken, denn diese sind nicht förderlich. Sie geben unbefriedigende Leistungsanreize und helfen überhaupt nicht beim Recruiting neuer Mitarbeiter. Gerade neue Bewerber*innen stellen hohe Ansprüche an Flexibilität, Agilität und Transparenz der Gehaltsstrukturen.
Die Aufgaben des Managements müssen klar sein. Zuallererst muss das Management eine Vorbildfunktion übernehmen, das Umdenken und verändertes Handeln sollte wahrnehmbar sein. Erst dann fängt auch die Belegschaft an, neu zu denken. Klar ist: Agiles Denken kann nicht befohlen werden! Zum anderen muss dem Unternehmen bewusst sein, dass vielen Mitarbeitern die praktischen Erfahrungen für agiles Handeln und vernetztes Denken fehlen. Schulungen sind daher unabdingbar.
Leider folgt aus solch einer Transformation meist, dass einige Mitarbeiter sich in einer neuen Organisation nicht zurechtfinden. Das liegt entweder an der Person selbst oder an der Führungsebene, die den Beschäftigten nicht richtig abgeholt hat oder nicht vertraut und damit in „alte“ Verhaltensmuster fällt. Agile Arbeitsmethoden sind nun mal komplexer und aufwendiger.
Dr. Silvija Franjic: Alle reden vom Fachkräftemangel und dem Arbeitnehmermarkt. Davon profitieren bevorzugt diejenigen, die es ohnehin nicht schwer gehabt hätten, zu wechseln, und leichter zu ermutigen sind. Viele Arbeitgeber verhaften immer noch zu sehr in ihren (alten) Strukturen. Das Verständnis von Führung muss sich verändern. Wenn die Zeiten schwerer werden, hat der Arbeitgeber eine größere Fürsorgepflicht.
Viele Vorgesetzte fordern ganz selbstverständlich immer noch viel mehr, als dass sie unterstützen. Arbeiten muss sich lohnen – und das nicht nur monetär. Sie kann nicht immer schön oder interessant sein, aber sie sollte zumindest absichern. Das vermitteln uns längst die jüngeren Generationen ganz deutlich und haben eindeutige Wünsche in Bezug auf die Arbeitswelt. Weil wir uns gesellschaftlich und politisch der demokratischen Solidarität und der Klima- bzw. Energiekrise verschrieben haben, wird nicht jeder automatisch nach größeren Idealen bei der Arbeit streben oder sich unbedingt mit dem Job oder dem Unternehmen identifizieren können oder wollen. Wir sollten nicht einfach offiziell höhere Werte anstreben, von denen dann „unten“ im Arbeitsleben nichts ankommt, bzw. das auf Kosten der Kleinsten und Schwächsten gehen lassen. Wer letztlich lediglich ein paar Euro vom Bürgergeld entfernt ist, der wird es sich bald ganz gut und genau überlegen, wofür er jeden Tag aufsteht.
(Selbst)Treue + Glaubenssätze
Sandra Einhoff: ,,Nur die Harten kommen in den Garten …“ „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen…‘‘ Das sind Überzeugungen, die bis heute in den Köpfen viele Menschen verankert sind. Wer diese Sätze für sich als wahr angenommen hat, lebt nach dem Glaubenssatz, dass Arbeit anstrengend und hart ist. Wer das glaubt, wird einen Arbeitsalltag haben, in dem Entspannung, Pausen und Entschleunigung eher Mangelware sind. Doch genauso gut lassen sich Glaubenssätze etablieren, die ein Gefühl von Leichtigkeit, Energie und Freude entstehen lassen. Wir können aktiv dafür sorgen, wie wir uns vor, während und nach unserer Arbeit fühlen! Wer sich selbst etwas Gutes tut, investiert in die eigene Leistungsfähigkeit.
Janette Rosenberg: Ein fundamentaler Wandel des Mindsets ist gefordert. Wir müssen es wollen und können. Starre Strukturen, lange Entscheidungsprozesse hierarchisches Denken, falsche Gehaltssysteme oder eine von Angst geprägte Fehlerkultur sind fehl am Platz, wenn es darum geht, eine Verbesserung herbeizuführen. Mitarbeiter brauchen mehr Eigenverantwortung, Selbstorganisation, Vertrauen, Wertschätzung und Leistungsanreize.
Hinweis: Die richtige Gehaltsstrategie spielt ebenfalls eine Rolle – also eine faire Gehaltszahlung. Leider wird eine gerechte Gehaltsfindung oft von persönlichen Ansichten und Missverständnissen beeinflusst. Mehr Transparenz und Kommunikation könnten der Schlüssel sein. Die Beschäftigten sollten mit einbezogen werden, um ein Bewusstsein für die finanziellen Möglichkeiten zu erzielen. Erkennbare Rahmenbedingungen und sichere Perspektiven fördern die Zufriedenheit, demnach also nicht mehr Gehalt. Zwar strebt jeder nach mehr, doch nicht jeder kann auch mit mehr Gehalt zufriedengestellt werden. Denn wer wegen des Gehalts kommt, geht auch wegen des Gehalts.
Dr. Silvija Franjic: Auch der Grundsatz, dass es sich lohnt, sich für Geld zu verbiegen, dürfte immer mehr Geschichte werden. Hierzulande sind die Mitarbeiter längst dafür bekannt, zu einem nicht unerheblichen Teil innerlich gekündigt zu haben – und das lange, bevor sie gehen. Deshalb muss das miteinander Reden und einander Zuhören einen noch größeren Stellenwert im Arbeitsalltag bekommen. Mitarbeitergespräche dürfen keine Einbahnstraßen sein, bei denen es hauptsächlich darum geht, Leistungsbeurteilungsbögen als reinen Anforderungskatalog zu gestalten. Neben Zielvereinbarungen muss es auch mal Raum geben, Enttäuschungen von Arbeitnehmerseite zu äußern oder als Führungskraft zusätzlich Geleistetes eindeutig anzuerkennen und auch faktisch zu würdigen. Wer sich Win-win-Szenarien wünscht, muss das Prinzip des gleichermaßen Gebens und Nehmens intensivieren. Man muss an das glauben können, was einem versprochen wird. Und wer seinen Arbeitsplatz wirklich verlassen will, der sollte es tun, statt sein Gift ständig unter den Kollegen zu versprühen und sich damit selbst zum Teil des Problems zu machen. Sich selbst treu zu bleiben, heißt, noch konsequenter zu handeln und trotz aller Kompromissbereitschaft seine eigenen Werte nicht zu verraten.
Kompromisse + Zugeständnisse
Sandra Einhoff: Kompromisse zu schließen, bedeutet, offen für neue Herangehensweisen zu sein. Durchgehend auf seiner Meinung zu beharren und ,,sein Ding‘‘ durchzuziehen, ist nicht immer der beste Weg. Besonders dann nicht, wenn das Ego uns im Weg steht. Doch wie bei allem geht es um eine gesunde Balance. Denn wer seinen eigenen Standpunkt immer wieder treulos verlässt, verrät sich selbst. Das ist weder authentisch noch gesund. Eine gute Kommunikation, Transparenz und Offenheit sind hier wichtig, sowohl innerhalb des Teams als auch in der Zusammenarbeit mit den Stakeholdern.
Janette Rosenberg: Modernes Führen und reifes Handeln setzt voraus, auch Kompromisse einzugehen und Zugeständnisse zu machen. Ein Unternehmen muss seine Aufgaben reflektieren und auch an sich selbst Kritik üben. Zudem braucht es viel Fingerspitzengefühl, die Beschäftigten in ihrer Einstellung und Haltung zu ändern. Nur wenn alle abgeholt werden, kann der richtige Weg eingeschlagen werden. Das heißt auch, wichtige Überzeugungsarbeit zu leisten, demnach auch auf Augenhöhe zu führen.
Dr. Silvija Franjic: Nicht weiterhin um jeden Preis werden die Menschen „jeden“ Weg zur Arbeit in Kauf nehmen wollen. Vorbei sind die Zeiten, in der gefühlt eine ganze Generation täglich Stunden im Zug oder Auto verbrachte, um dann noch einen ganzen Arbeitstag einschließlich Überstunden zu bewältigen. Durch Corona, den Homeoffice-Trend und die Energiewende sind für die Mobilität in der Arbeitswelt ganz andere Paradigmen entstanden. Hinzu kommt, dass sich mit dem Thema New Work das Bewusstsein in Bezug auf viele Dinge geändert hat. Wir reden viel von Toleranz und Akzeptanz – auch in der Arbeitswelt, zeigen uns (als Arbeitgeber und Kollegen) aber immer noch erstaunlich wenig offen für verschiedene Lebensentwürfe, die nicht komplett in das „Höchstleistungsschema“ passen. Damit bleibt unter anderem in großem Maße die Familienplanung – vor allem immer noch für Frauen – eine Entweder-oder-Frage und die automatisch eingebaute Karrierebremse. Einige Firmen müssen deutlich mehr für Familien tun und die Themen auch mal – wirklich – anders denken.
Hoffnung + Perspektive
Sandra Einhoff: Unsere Arbeitswelt hat sich verändert! Zeit gegen Geld zu tauschen, ist nicht mehr das, was der Generation Z vorschwebt. New Work ist auf dem Vormarsch. Gerade junge Menschen wünschen sich mehr selbstbestimmte Zeit, eine sinnstiftende Tätigkeit und Raum für persönliche Entfaltung. Die Haltung, sich durch die Woche zu schleppen und nur für das Wochenende und 30 Tage Urlaub zu leben, ist vorbei.
Durch gute Selbst- und Zeitmanagement-Lösungen gelingt es nachhaltig, pragmatisch und absolut umsetzungsorientiert, einen Arbeitsrhythmus zu etablieren, der zum Job und dessen Herausforderungen passt! Dadurch stehen mehr Zeit und Energie für das Wesentliche zur Verfügung.
Janette Rosenberg: Dauerhafte Demotivation erstickt jeden kreativen Prozess. In der Praxis ist es meist so, wenn Ideen zu langsam umgesetzt oder gar nicht gestartet werden, obwohl man sehr viel Energie reingesteckt hat. Oder Versprechungen der Führungsebene, Änderungen vorzunehmen oder einen Prozess zu verbessern, sind teilweise leere Versprechungen. Beschäftigte werden mit solch einem Verhalten enttäuscht. Warum sollten sie auf neue Veränderungen eingehen? Ein Unternehmen muss verstehen, dass Fehlverhalten in der Führung und im Management Konsequenzen hat. Es kann sich nur etwas ändern, wenn bestehende Muster erkannt und gewürdigt werden und die Dringlichkeit der Veränderungen verstanden wird. Dann eröffnen sich neue Perspektiven. Damit der Wandel für ein agiles Handeln gelingt, müssen wir lernen, die Hinderungsgründe zu verstehen, um passgenaue Lösungen zu finden.
Dr. Silvija Franjic: Wer nicht will, dass ihm die Arbeitskräfte davonlaufen, muss auch bald mehr für (das Gefühl von) Sicherheit leisten. Nicht nur deshalb wird es von noch größerer Bedeutung werden, (weiter) Bindung aufzubauen. Die Mitarbeitertypen, die weiterhin wirklich denken, „das ist ja nur ein Job“, können bald auch überall hingehen und werden es ganz einfach tun. Eine Arbeitsstelle darf sich nicht anfühlen wie eine schlechte Beziehung. Wichtig ist, das Bewusstsein zu etablieren, auch weiterhin gemeinsam voranzukommen, etwas zu schaffen und zu erreichen. Pläne und Visionen sollten gemeinsam getragen werden, damit Ehrgeiz entstehen und Motivation wachsen kann. Der Zusammenhalt sollte in diesen Zeiten sogar noch über die allgemeine Solidarität hinausgehen können. Wenn wir von Flexibilität reden, so sind neue Konzepte denkbar, in denen man Kollegen vielleicht sogar mehr im Arbeitsalltag unterstützen kann, z. B. mit Hilfsarbeitszeitkonten oder Urlaubstagsspenden (im Krankheitsfall eines Kollegen). Wenn wir weniger das Gefühl vom Arbeits-Einzelkämpferdasein und mehr von einem guten und glücklichen Arbeitsmiteinander haben, dann können wir zuversichtlicher in die Zukunft blicken und uns auf eine bessere gemeinsame Perspektive freuen.
Zukunft + Gesellschaft
Sandra Einhoff: Modelle wie die Vier-Tage-Woche zeigen, dass es möglich ist, sich auf die Kernkompetenz der Arbeit zu fokussieren und gleichzeitig mehr Raum und Zeit für Entspannung zu ermöglichen. Wir müssen uns neu organisieren. Es gibt Lösungen, die sowohl unsere Wirtschaft stärken als auch unsere Psyche! Es gilt, der zunehmenden Erschöpfung, Überforderung und Überfrachtung etwas entgegenzusetzen! Bei einer guten Arbeitsorganisation geht eine hohe Arbeitsleistung Hand in Hand mit einem hohen Wohlbefinden. Entspannung, Regeneration und Pausen in der Arbeitswelt sind nicht einfach nur nice to have … sie sind Teil des Erfolgs.
Janette Rosenberg: Unternehmen müssen sich bewusst sein bzw. bewusst dafür entscheiden, neue Wege zu gehen. Vor allem müssen sie umdenken und daran denken, dass es Zeit braucht, Einstellungen und Verhaltensweisen zu ändern. Weiterentwicklung bedeutet mehr Raum für Neues. Durch halbherzige Lippenbekenntnisse werden wertvolle Zukunftschancen vergeudet und Nichthandeln in einem neuen Zeitalter kann im Extremfall dazu führen, dass man den Anschluss verpasst.
Dr. Silvija Franjic: Es steht außer Frage: Die Zeiten werden schwerer. Umso mehr müssen wir uns überlegen, wohin wir uns künftig entwickeln wollen. Genauso müssen wir aber gerade jetzt genau prüfen, welche Pferde wir bereits „falsch gesattelt haben“. Gerade, was die jüngeren Generationen betrifft, sind einige Konzepte fehlgeschlagen. Es hat sich nicht wirklich gelohnt, die Schul-, Ausbildungszeit oder Studienzeit zu verkürzen, die kleinen Köpfe der Schulkinder zuzuballern und aus allen Nachwuchsvortragsredner oder digitale oder technische Genies als Unterrichtsretorten zu machen.
Wir haben aus uns eine Müdigkeitsgesellschaft gemacht, die mit einem Überfluss an Informationen eher desinformiert wirkt als wissend. Wir sind immer mehr zu einer Koexistenz-Gemeinschaft geworden, die sich in ihre Flucht- oder Komfort-Bubbles zurückzieht, in der fundiertes Allgemeinwissen irgendwelchen Social-Media-Hypes gewichen ist. Auch Künstliche Intelligenz hält nicht unbedingt das, was sie verspricht, weswegen Mark Zuckerburg es mit Meta vielleicht und ganz hoffentlich sogar nie schaffen wird, die digitale Weltherrschaft an sich zu reißen. Wie weit und wohin wir schon gekommen sind, sieht man daran, dass sich ein Elon Musk mit seinem milliardenschweren Twitterkauf zum Superhelden der Meinungsfreiheit aufschwingen will. Bei all dem, was wir tun, muss das Menschliche wieder mehr in den Mittelpunkt. Miteinander statt nebeneinander, gegeneinander. Und zusammen müssen wir uns – so gerecht es nur geht – die Frage stellen: Was ist wirklich noch möglich?