Vom Nebenjob zum Wirtschaftszweig
Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahren rasant verändert. Plattformarbeit, oft als Teil der sogenannten „Gig Economy“ oder des „Crowdworkings“ bezeichnet, ist aus dem Schatten einer studentischen Nebentätigkeit herausgetreten und zu einem festen Bestandteil der europäischen Wirtschaft geworden. Rund 35 Millionen Menschen in Europa bieten mittlerweile über digitale Plattformen ihre Dienste an – sei es in der Liefer-, Transport- oder Reinigungsbranche, im IT-Bereich oder anderen Sektoren. Was einst als flexible Beschäftigungsform für Zwischendurch galt, ist für viele zur Haupteinnahmequelle geworden. Angesichts dieser Entwicklung wird deutlich, dass Plattformarbeit nicht länger als temporäre oder prekäre Beschäftigung abgetan werden kann. Ein rechtlicher Rahmen muss her, der die unterschiedlichen Interessen der Plattformarbeiter*innen berücksichtigt. Die EU hat darauf reagiert und im März 2024 eine Einigung über eine neue Richtlinie zur Regulierung der Plattformarbeit erzielt, die voraussichtlich bis 2026 in nationales Recht umgesetzt werden muss.
Worum geht es bei der EU-Richtlinie zur Plattformarbeit?
Ziel der EU-Richtlinie zu Plattformarbeit ist es, hierdurch diese Arbeitsform klar zu regulieren und den Beschäftigten mehr Sicherheit zu bieten – ob sie wollen oder nicht. Herzstück der Richtlinie ist nämlich die Vermutung der Arbeitnehmereigenschaft. Danach sollen Plattformbeschäftigte zunächst einmal als Arbeitnehmerinnen gelten – und zwar Arbeitnehmerinnen der Plattform selbst. Diese widerlegbare Vermutung gilt jedenfalls immer dann, wenn bestimmte Kriterien wie Kontrolle und Steuerung durch die Plattform erfüllt sind. Die Beweislast wird dabei umgekehrt, das heißt, es ist an der Plattform, zu beweisen, dass eine echte Selbständigkeit vorliegt. Wie dies gelingen soll? Hier kommt es – mal wieder – auf die einzelnen Mitgliedstaaten an, die im besten Fall klare Kriterien für eine Arbeitnehmerdefinition vorsehen.
Der rechtliche Flickenteppich und die Unsicherheiten für Unternehmen
Ein Hoch auf den Flickenteppich! Denn wer liebt nicht ein bisschen Rechtsunsicherheit in einer zunehmend digitalen Welt? Andererseits ist dies eine Möglichkeit für den deutschen Gesetzgeber, den bisher eher schwammig formulierten § 611a BGB, der von „weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit“ spricht, nachzuschärfen.
Plattformarbeit: Flexibilität oder Prekarität?
Die Gretchenfrage in diesem Zusammenhang dürfte aber sein: Ist jede Plattformarbeit tatsächlich prekär, oder handelt es sich – jedenfalls zum Teil – um eine bewusste Entscheidung für mehr Unabhängigkeit? Aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht dürfte sich die Deutsche Rente über die grundsätzliche Vermutung der Arbeitnehmereigenschaft freuen. Ob sich am Ende auch tatsächlich jeder bislang Solo-Selbständige darüber freut, ist fraglich. Manch einer von ihnen, insbesondere in der IT-Branche, hat sich bewusst für die Selbständigkeit entschieden und wird wenig begeistert sein, wenn er nun zur Teilnahme an den nationalen Sozialversicherungen gezwungen wird. Es besteht die Gefahr, dass diese Fachkräfte in Länder abwandern, die weniger reguliert sind. Wäre das wirklich ein Fortschritt?
Kollektivrechtliche Aspekte der Plattformarbeit: Neue Modelle gefragt
Auch dürften sich aus betriebsverfassungsrechtlicher Sicht spannende Fragen stellen, wenn man nur mal daran denkt, wie in diesem Fall der Betriebsbegriff ausgefüllt wird. Auch ein klassischer Betriebsrat scheint hier kaum praktikabel, denn wo kein fester Betrieb, da auch kein klassischer Betriebsrat. Vielleicht braucht es neue Modelle, wie virtuelle Betriebsräte oder Gewerkschaften, die digital organisiert sind und die Interessen der Plattformarbeiter*innen vertreten. Insoweit bietet die Richtlinie einige Ansätze, indem sie beispielsweise fordert, dass Plattformbeschäftigte nicht nur von Algorithmen gesteuert werden dürfen. Es müssen menschliche Ansprechpartner vorhanden sein, und die eingesetzten Systeme sollen transparent gemacht werden.
Widersprüchliche Rechtsprechung zur Plattformarbeit: Beispiele aus der Praxis
Nicht irritieren lassen sollte man sich von der Entscheidung des Arbeitsgerichts Aachen (Beschl. v. 23.04.2024, Az. 2 BV 56/23). Dieses geht unzutreffend davon aus, dass Auslieferungsfahrer, die mit Hilfe einer App in einem abgegrenzten Liefergebiet tätig sind, einen eigenen Betriebsrat wählen können. Das Weisungsrecht müsse nicht von einer Person „vor Ort“ ausgeübt werden. Es reiche aus, dass die Leitungsmacht über eine App im Liefergebiet wirke. Hierbei handelt es sich jedoch um eine „Ausreißer Entscheidung“. Es gibt mehrere Entscheidungen, die das anders sehen. So zum Beispiel das LAG Niedersachsen (Beschl. v. 30.5.2024 – 5 TaBV 84/23), die der Entscheidung des ArbG Aachen eine deutliche Absage erteilte (Auf eine Person „vor Ort“, die mit bestimmten Leitungsfunktionen ausgestattet ist und diese gegenüber Kurieren ausübt, könne nicht verzichtet werden.) Auch das LAG Schleswig-Holstein (Beschl. v. 7.8.2024 – 6 TaBV 20/23) bestätigte dies in einem gleichgelagerten Fall und stellte sich bewusst gegen das ArbG Aachen. Das heißt die kollektivrechtlichen Aspekte bleiben spannend.
Fazit Eine Umsetzung der Europäischen Richtlinie sollte mit Augenmaß erfolgen. Es muss eine Balance zwischen dem notwendigen Schutz der Plattformarbeiter*innen und der Beibehaltung der Flexibilität gefunden werden. Ein Anknüpfungspunkt wäre, den Anwendungsbereich (mit Blick auf den Schutzgedanken) nur bis zu einer bestimmten Gehaltsgrenze zu eröffnen oder wie dies beispielsweise auch in § 4 Arbeitnehmerentsendegesetz auf einzelne Branchen zu beschränken. Das Thema verdeutlicht aber eins ganz genau – Unternehmen sollten genau hinschauen: Die Gefahr der Scheinselbständigkeit bleibt ein großes Thema, und mit der neuen Richtlinie wird dieses Risiko noch weiter in den Vordergrund rücken. Am Ende bleibt die Frage: Wird diese Richtlinie das Arbeitsleben für Millionen von Menschen wirklich verbessern oder nur eine weitere Schicht Bürokratie auf eine ohnehin komplexe Arbeitswelt legen? Es wird sich zeigen, ob die Plattformarbeit in Europa aufblüht oder verblasst. |
von Frau Dr. Felisiak von Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte