Im Blick: Arbeitsrecht
Low Performer: Kündigung hält!
Landesarbeitsgericht (LAG) Köln, Urteil vom 03.05.2022 – 4 Sa 548/21
Low Performer gibt es in nahezu allen Unternehmen. Diese untergraben die Moral der Belegschaft und motivieren zu schlechteren Leistungen. Für Personalabteilungen stellt sich dann die Frage, wie man Low Performer in den Griff bekommt. Wenn Personalgespräche nicht weiterhelfen, bleibt oft nur die Kündigung. Diese wirksam zu gestalten, ist komplex und bedarf äußerst guter Vorbereitung. Dass es doch mal geht, zeigte nun ein Fall des LAG Köln.
Verortung des Urteils
Zunächst wirft bereits der Begriff „Low Performer“ Probleme auf, da jeder Betrieb gute und schlechte Arbeitnehmer hat. Auch ein Vergleich mit anderen Arbeitnehmern ist nicht per se aufschlussreich, da es in einer Gruppe immer ein „Schlusslicht“ geben muss.
Als Ursache der Minderleistung kommen zwei verschiedene Szenarien in Betracht: Die eine Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass der Low Performer zwar gern die volle Leistung bringen will, das aber aus persönlichen Gründen nicht kann („will, kann aber nicht“). In diesem Fall kommt eine personenbedingte Kündigung in Betracht. Die andere Situation besteht darin, dass der Low Performer zwar 100 Prozent Leistung bringen kann, das aber nicht will („kann, will aber nicht“). Dies betrifft den Bereich der verhaltensbedingten Kündigung.
Hat der Arbeitgeber den Eindruck, dass der Leistungsabfall des Low Performers gegenüber seinen Kollegen darauf zurückzuführen ist, dass dieser zwar 100 Prozent der Leistung bringen kann, dies aber – aus welchen Gründen auch immer – einfach nicht will, wird der Arbeitgeber zum Mittel der Abmahnung greifen. Erfahrungsgemäß führt diese in vielen Fällen zu einer Leistungssteigerung. Sollte der Low Performer dennoch weiterhin pflichtwidrig nicht leistungsbereit sein, liegt in dem erfolglosen Ausspruch einer Abmahnung die Grundlage für eine spätere verhaltensbedingte Kündigung.
Für den Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung muss der Arbeitgeber dokumentieren, dass der Mitarbeiter die Durchschnittsleistung vergleichbarer Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum hinweg schuldhaft um mindestens ein Drittel unterschritten hat. Auch die erfolglose Abmahnung an sich sowie die anschließend gegebene Gelegenheit, die schuldhafte Schlechtleistung abzustellen, muss der Arbeitgeber beweisen können.
Der Sachverhalt
Es geht um die Kündigung eines Kommissionierers in einem Großhandelslager im Bereich der Lebensmittellogistik. Der 50-jährige Arbeitnehmer war dort seit 2011 beschäftigt. 2018 wurde er vom Frischwarelager ins Trockensortiment versetzt. In einer Betriebsvereinbarung des Arbeitgebers ist für Kommissionierer eine Basisleistung (100 Prozent) festgelegt, die der Normalleistung entspricht und mit dem Grundlohn vergütet wird.
Zusätzlich gibt es eine Leistungsprämie für die Übernahme einer höheren Menge an kommissionierten Packstücken. Seit seinem Wechsel erreichte der Arbeitnehmer in keinem Monat die Basisleistung. Nach zwei Abmahnungen kündigte ihm der Arbeitgeber ordentlich zu September 2020.
Die erste Abmahnung erfolgte wegen bewusster Zurückhaltung der ihm zur Verfügung stehenden Arbeitskraft und Arbeit. Der Arbeitgeber warf dem Arbeitnehmer vor, im Dezember 2019 eine Leistung erbracht zu haben, die einer Basisleistung von 72,86 Prozent entsprach, bei einer Leistung von 116,1 Prozent der Basisleistung der vergleichbaren Mitarbeitergruppe.
Im März 2020 erteilte der Arbeitgeber eine weitere Abmahnung mit demselben Vorwurf betreffend die Leistung des Kommissionierers im Februar 2020. Hierbei warf er ihm eine Leistung von 72,47 Prozent der Basisleistung bei einer durchschnittlichen Leistung der vergleichbaren Mitarbeitergruppe von durchschnittlich 117,95 Prozent vor.
Der Arbeitnehmer wehrte sich vor Gericht gegen diese Kündigung. Im Kündigungsprozess legte der Arbeitgeber die Schlechtleistung des Mitarbeiters dann dar, indem er Ausdrucke der Aufzeichnungen aus dem Warenwirtschaftssystem vorlegte. Diese dokumentierten die Kommissionierleistung des „Low Performers“ im Vergleich zu der Leistung von rund 150 vergleichbaren Kommissionierern. Alle Mitarbeitenden der Vergleichsgruppe sind im Trockensortiment eingesetzt. Der Arbeitnehmer machte geltend, dass seine Aufträge in der Regel erheblich zeitaufwendiger in ihrer Erledigung gewesen seien als die durchschnittlichen Aufträge der Kommissionierer mit erheblich höheren Leistungswerten.
Die Entscheidung
Das LAG Köln hielt die Kündigung dennoch für gerechtfertigt. Ausschlaggebend hierfür war die umfassende Dokumentation des Arbeitgebers. Hierdurch konnte er belegen, dass der Kläger die Durchschnittsleistung vergleichbarer Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum um deutlich mehr als ein Drittel – wie es das Bundesarbeitsgericht (BAG) verlangt – unterschritten hatte.
Die Beweislastregeln spielten dabei eine maßgebliche Rolle, da der Maßstab für die Beurteilung der verhaltensbedingten Kündigung das subjektive Leistungsvermögen des betreffenden Arbeitnehmers ist, dem Arbeitgeber aber nur objektive Anhaltspunkte zur Verfügung stehen. Dieses Problem wurde im Sinne der abgestuften Darlegungslast gelöst, sodass zunächst der Arbeitgeber vorzutragen hatte, dass die Leistungen des Arbeitnehmers über einen längeren Zeitraum den Durchschnitt um mehr als ein Drittel unterschritten haben.
Dies tat der Arbeitgeber auch, sodass es anschließend Sache des Arbeitnehmers gewesen wäre, hierauf zu entgegnen. Hierzu hätte er beispielsweise das Zahlenwerk und dessen Aussagefähigkeit im Einzelnen bestreiten oder darlegen können, warum er mit seiner deutlich unterdurchschnittlichen Leistung dennoch seine persönliche Leistungsfähigkeit ausgeschöpft hat. Altersbedingte Leistungsdefizite, Beeinträchtigungen durch Krankheit, aber auch betriebliche Umstände hätten hier beispielswiese angeführt werden können. All dies trug der Kläger aber nicht vor und behauptete lediglich pauschal, er sei systematisch benachteiligt worden. Dies überzeugte das Gericht jedoch nicht. Ebenso wenig gelang es ihm, darzulegen, warum er mit seiner unterdurchschnittlichen Leistung dennoch seine persönliche Leistungsfähigkeit ausgeschöpft hat.
Kurz erklärt
- Bei einem Low Performer kommen zwei Kündigungsgründe in Betracht: Eine personenbedingte Kündigung, wenn der Arbeitnehmer objektiv nicht mehr in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, und eine verhaltensbedingte, wenn der Arbeitnehmer subjektiv sein Leistungsvermögen nicht ausschöpft.
- Eine Kündigung aus personenbedingten Gründen setzt voraus, dass der Arbeitnehmer objektiv nicht mehr in der Lage ist, die arbeitsvertraglich vereinbarten Leistungen zu erbringen. Das wird in der Regel angenommen, wenn die Leistungen des Arbeitnehmers die Normalleistung in etwa um ein Drittel unterschreiten.
- Eine Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen kommt in Betracht, wenn der Arbeitnehmer nicht bereit ist, sein subjektives Leistungsvermögen auszuschöpfen. Dazu ist er verpflichtet. Das Bundesarbeitsgericht formuliert, ein Arbeitnehmer muss „tun, was er soll, und zwar so gut, wie er kann“. Die Annahme, „Dienst nach Vorschrift“ sei rechtmäßig, ist damit unzutreffend. Ein Arbeitnehmer ist nicht nur verpflichtet, seine Aufgaben zu erfüllen, sondern auch, sich zu bemühen, dies möglichst gut zu tun. Allerdings kann nicht allein deshalb, weil jemand schlechter ist als andere, auf ein fehlendes Bemühen geschlossen werden. Von fehlenden Bemühungen darf ein Arbeitgeber in der Regel erst bei weniger als 60 Prozent der üblichen Durchschnittsleistungen schließen.
- Wie bei jeder verhaltensbedingten Kündigung ist auch für eine verhaltensbedingte Kündigung eines Low Performers grundsätzlich der Ausspruch einer Abmahnung notwendig. Durch die Abmahnung weist der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf seine arbeitsvertraglichen Pflichten hin und droht zugleich die Kündigung im Fall eines erneuten Fehlverhaltens an. Der Arbeitnehmer soll also dazu angehalten werden, in Zukunft das Fehlverhalten zu unterlassen.
- Arbeitgeber stützen die Kündigung eines Low Performers regelmäßig sowohl auf verhaltensbedingte als auch zusätzlich auf personenbedingte Gründe. Die personenbedingte Kündigung kommt bei unverschuldeter Schlechtleistung in Frage, beispielsweise wegen Alters oder Krankheit. Der Arbeitgeber kann in der Regel nicht genau wissen, ob der Low Performer schlecht leistet, weil er die vertragsgerechte Leistung nicht erbringen will (Bereich der verhaltensbedingten Kündigung) oder weil der Beschäftigte die vertragsgerechte Leistung nicht erbringen kann (Bereich der personenbedingten Kündigung). Außerdem ist die Schlechtleistung häufig sowohl auf fehlende Einsatzbereitschaft als auch auf fehlendes Leistungsvermögen zurückzuführen. Im Übrigen lässt sich durch diese doppelte Argumentationsstrategie in einem Kündigungsschutzprozess der Druck auf den Arbeitnehmer erhöhen.
- Der Arbeitgeber muss bei einer personenbedingten Kündigung beweisen können, dass die Leistung der Kollegen um ein Drittel unterschritten wird. Zudem muss er eine Prognose dahingehend ausstellen können, dass auch in Zukunft weiter mit einer Schlechtleistung des Mitarbeiters zu rechnen ist und dass es keine milderen Mittel als eine Kündigung gibt, wie z. B. Umschulung, Fortbildung oder Versetzung auf einen geeigneten Arbeitsplatz. Kann der Arbeitgeber diese Nachweise erbringen, wird eine gerichtliche Interessenabwägung zu seinen Gunsten ausgehen, insbesondere bei jungem Alter des Low Performers oder einem nur kurzen störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses.
Praxistipp
Neben einem Kündigungsszenario kann auch eine Versetzung des betreffenden Arbeitnehmers oder die Anordnung zur genauen Dokumentation der Arbeitszeit Sinn machen. Hat man etwa den Eindruck, dass ein Arbeitnehmer Dienst nach Vorschrift macht und auffällig viel Zeit in der Kaffeeküche verbringt, kann man diesen Verdacht durch eine genaue Tätigkeitsdokumentation überprüfbar machen. Die vom Arbeitnehmer angefertigten Tätigkeitsprotokolle könnten anschließend kontrolliert werden. Trägt ein Arbeitnehmer etwa „zwei Stunden Posteingang sortieren“ ein, wofür andere Mitarbeiter 20 Minuten benötigen, ist der Nachweis geführt, dass der Mitarbeiter Zeit vertrödelt.
Soweit der Ausspruch einer Kündigung jedoch unumgänglich ist, müssen Arbeitgeber den Leistungsabfall des Low Performers genau dokumentieren, um für den Fall eines späteren Rechtsstreits die Schlechtleistung vor Gericht beweisen zu können. Für eine gerichtsfeste Dokumentation sind zwei Punkte entscheidend: Zum einen muss deutlich werden, welche Arbeitnehmer aus welchen Gründen mit dem Low Performer vergleichbar sind. Zum anderen muss nachvollziehbar dokumentiert werden, dass der schlechte Mitarbeiter im Durchschnitt weniger als 66 Prozent der Leistung der mit ihm vergleichbaren Arbeitnehmer erbringt.
Ein weiterer Tipp ist die konsequente Kündigung in der Probezeit: Zeichnet sich bei einem neu eingestellten Arbeitnehmer schon in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses ab, dass es sich um einen Low Performer handelt, sollte ihm in der Regel schon in der Probezeit gekündigt werden. Für den Arbeitgeber hat das den Vorteil, dass in dieser Zeit das Kündigungsschutzgesetz noch keine Anwendung findet und damit die Kündigung nicht durch betriebliche, personen- oder verhaltensbedingte Gründe sozial gerechtfertigt sein muss. Es reicht vielmehr die bloße Erklärung, dass der gekündigte Arbeitnehmer z. B. nicht ins Team passt oder nicht die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt. Außerdem gelten für Probezeitkündigungen oftmals kürzere Kündigungsfristen als für normale Kündigungen.
Scheinselbstständigkeit: Vertragliche Gestaltung schützt nicht vor Risiken
Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.06.2022 – L 28 BA 23/19
Der Einsatz von Scheinselbstständigen kann für Unternehmen mit erheblichen Risiken und hohen Nachzahlungen sowie ggf. Säumniszuschlägen verbunden sein. Obwohl die Arbeits- und Sozialgerichte eine Vielzahl von Kriterien zur Einordnung einer Tätigkeit als sozialversicherungspflichtig oder -frei entwickelt haben, stellt die sozialversicherungsrechtliche Einordnung Unternehmen immer wieder vor Herausforderungen.
Besonders schwierig wird es, wenn sich Unternehmen nur als Vermittler sehen. In der IT-Branche ist dies ein Dauerbrenner. Aber auch in anderen Branchen sind Vermittler(-Plattformen) mittlerweile weit verbreitet. Dass dies auch bei Kurierfahrten ein Thema sein kann und ein Kurierfahrer sozialversicherungsrechtlich als nicht selbstständig einzuordnen ist, entschied das LSG Berlin-Brandenburg und ist damit auf der Linie des Bundesarbeitsgerichts (BAG).
Verortung des Urteils
Ende 2020 erregte die „Crowdworker“-Entscheidung des BAG (9 AZR 102/20) erhebliches Aufsehen und verdeutlichte, dass die vermeintlichen Freelancer, die einen Auftrag per App erhalten, in Wirklichkeit Arbeitnehmer sein können.
Auch hier ging es darum, dass eine Internetplattform Aufgaben und/oder Projekte vermittelte. Das BAG entschied, dass ein klagender „Crowdworker“ in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit geleistet hatte. Hierbei waren die Organisationsstruktur des Portals (Anreize, immer mehr Aufträge abzuarbeiten), die enge Bindung sowie die konkreten Vorgaben des „Crowdworkers“ bezüglich der vermittelten Aufträge entscheidend.
Aus arbeitsrechtlicher Sicht können aus der Feststellung des Arbeitnehmerstatus für den vermeintlichen Auftraggeber immense Folgeprobleme entstehen. Zu nennen ist hier beispielhaft die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes, des Bundesurlaubsgesetzes, des Entgeltfortzahlungsgesetzes und nicht zuletzt des Mindestlohngesetzes.
Wichtig zu wissen ist, dass für die Beurteilung, ob eine selbstständige oder eine abhängige Beschäftigung vorliegt, auf verschiedene Kriterien zurückgegriffen wird. Grundlage ist dabei zwar zunächst die vertragliche Vereinbarung. Weichen jedoch die tatsächlichen Verhältnisse, d. h. die Durchführung der Tätigkeit, von den vertraglichen Vereinbarungen ab, sind die tatsächlichen Verhältnisse ausschlaggebend. D. h. es ist immer maßgebend, wie der Alltag aussieht.
Zudem sind insbesondere Kriterien wie die Eingliederung in die betriebliche Organisation des Unternehmens, die Weisungsgebundenheit hinsichtlich Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung der Tätigkeit und das eigene Unternehmerrisiko bei der Beurteilung wichtig. Entscheidend ist in der Praxis aber auch, ob eine selbstständige Tätigkeit direkt vor einer abhängigen Beschäftigung bei demselben Unternehmen bzw. unmittelbar im Anschluss daran ausgeübt wird, ob und wie der Selbstständige nach außen auftritt, ob der vermittelte Auftrag des Selbstständigen seine alleinige Beschäftigung und damit seine Existenzgrundlage darstellt und ob die Abrechnung der selbstständigen Leistungen in einer Regelmäßigkeit ähnlich einer regelmäßigen Lohnzahlung erfolgt. Am Ende entscheidet immer das Gesamtbild der Arbeitsleistung im Einzelfall.
Der Sachverhalt
Es geht um den sozialversicherungsrechtlichen Status eines Kurierfahrers, der in den Jahren 2016 und 2017 Transportaufträge durchführte. Der Kurierfahrer hatte ein entsprechendes Gewerbe angemeldet, verfügte aber nicht über eigene Arbeitnehmer. Er schloss einen Vertrag mit einem großen Kurierunternehmen ab.
Der Vertrag ging davon aus, dass das Kurierunternehmen als Vermittler und der Kurierfahrer als selbstständiger Fahrer agierte. Das Unternehmen erstellte gegenüber dem Kurierfahrer monatliche Abrechnungen auf der Grundlage der ermittelten Transportkilometer und zog von der Vergütung eine Verwaltungspauschale ab.

Die Transportaufträge wurden dem Kurierfahrer von dem Kurierunternehmen über ein Funksystem vermittelt. Für das Kurierunternehmen waren im betreffenden Zeitraum ca. 90 Kurierfahrer tätig. Sämtlichen Fahrern stellte das Kurierunternehmen bei Abschluss des Vertrags als „Vermittlungszentrale“ ein Handbuch als Nachschlagewerk – u. a. mit organisatorischen Tipps, Arbeitsanleitungen etc. – zur Verfügung.
Dieses wurde durch regelmäßige Kurierinformationen (Kurier-Ticker) vervollständigt und erweitert. In dem Handbuch fanden sich u. a. Hinweise zur Verfügbarkeit der Kurierunternehmer sowie zur Verbindlichkeit der verwendeten Funkordnung.
Die Entscheidung
Das LSG Berlin-Brandenburg wertete die Tätigkeit des Kurierfahrers als abhängige Beschäftigung. Ähnlich wie bei der Crowdworker-Entscheidung des BAG waren auch hier die fehlenden Gestaltungsfreiräume des Kurierfahrers maßgeblich.
Nach Auffassung des LSG war der Kurierfahrer bei Übernahme eines Einzelauftrags fortan fremdbestimmt in die Arbeitsorganisation des Unternehmens eingegliedert gewesen. Etwaige Freiräume – beispielsweise im Hinblick auf die Wahl der konkreten Route – fielen demgegenüber nicht erheblich ins Gewicht. Gleiches galt auch für den Umstand, dass der Fahrer für seine Kurierdienste seinen eigenen Pkw nutzte.
Keine wesentliche Bedeutung kam dem Umstand zu, dass dem Kurierfahrer vertraglich die für einen Arbeitnehmer typische soziale Absicherung nicht gewährt wurde. Dieser Umstand könne – so das LSG – allenfalls ein Indiz darstellen, dessen Gewicht sich wegen eines Ungleichgewichts in den Verhandlungspositionen beider Seiten allerdings erheblich abschwäche. Hier sei nicht erkennbar, dass beide Vertragspartner in gleicher Weise Einfluss auf die Ausgestaltung des sozialversicherungsrechtlichen Status hätten nehmen können.
Das Urteil ist allerdings nicht rechtskräftig. Das unterlegene Transportunternehmen kann beim Bundessozialgericht die Zulassung der Revision beantragen.
Kurz erklärt
- Die Scheinselbstständigkeit ist ein virulentes Thema. Egal ob es um Taxidienste, Essenslieferanten, Putztätigkeiten oder das Einsammeln von Elektrorollern geht – onlinebasierte Auftragsarbeiten sind gefragter denn je. Die Grenzen der Selbstständigkeit sind dabei schnell überschritten.
- Falls in einem Vertrag geregelt ist, dass beide Vertragsparteien lediglich eine freie Mitarbeit vereinbart haben und Weisungen weder nach Ort oder Zeit erteilt werden, schließt dies nicht die Scheinselbstständigkeit aus. Maßgeblich ist vielmehr die tatsächliche Durchführung des Vertrags: Wie wird der Vertrag gelebt?
- Bei der Bewertung, ob eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gegeben ist oder nicht, ist maßgeblich, ob der Selbstständige bezüglich Art, Ort und Zeit der Leistungserbringung weisungsfrei tätig ist. Dies wird insbesondere danach geprüft, in welchem Umfang der Selbstständige Berichtspflichten hat, seine Arbeit kontrolliert wird und er Anweisungen betreffend seine Tätigkeit entgegenzunehmen hat. Zudem wird geprüft, in welchem Umfang eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers vorliegt (Zusammenarbeit mit anderen Angestellten, keine eigene Betriebsstätte des Auftragnehmers etc.).
- Neben den bekannten sozialversicherungsrechtlichen und strafrechtlichen Risiken können auch arbeitsrechtliche Risiken bei der Feststellung einer Scheinselbstständigkeit ein weiteres erhebliches finanzielles Risiko darstellen. Dies gilt beispielsweise mit Blick auf die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes, des Bundesurlaubsgesetzes, des Entgeltfortzahlungsgesetzes und nicht zuletzt des Mindestlohngesetzes.
Praxistipp
Unternehmen, die selbst als Vermittler agieren und möglicherweise ein Risiko hinsichtlich einer etwaigen abhängigen Beschäftigung der Vertragspartner sehen, sollten sämtliche Kontrollmechanismen und Vorgaben bezüglich der Art, Zeit und des Ortes der Durchführung ihrer Tätigkeiten auf ein absolut notwendiges Maß reduzieren und eine Einbindung in die eigene Organisation vermeiden.
Es sprechen gute Argumente dafür, dass die Erteilung von Weisungen hinsichtlich der Ausführung bzw. des Ergebnisses bestimmter Tätigkeiten als wesenstypisches Merkmal von Werk- und Dienstverträgen gewertet wird und diese nicht per se zu einer abhängigen Beschäftigung führen. Vermieden werden sollte es jedoch, detaillierte Handlungsanweisungen (bspw. in Form von „Manuals“) an die Hand zu geben und eine präzise Qualitätskontrolle vorzunehmen. Zudem sollten Arbeitgeber bei der konkreten Ausgestaltung beachten, Dienstleister nicht durch ein Anreiz-, Feedback- oder Bewertungssystem in eine psychologische oder tatsächliche wirtschaftliche Abhängigkeit zu bringen.
Corona und Urlaub: Reiserückkehrern darf der Zugang nicht verweigert werden
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 10.08.2022 – 5 AZR 154/22
Reisen Arbeitnehmer in Corona-Risikogebiete, kann dies für Arbeitgeber teuer werden. Jedenfalls dann, wenn sie strengere Quarantäneregeln vorschreiben, als es die behördlichen Regelungen tun. Arbeitgeber tragen in einem solchen Fall das Risiko des Annahmeverzugslohns. Dass ein Arbeitgeber über das Ziel hinausgeschossen ist, entschied das BAG am 10.08.2022.
Verordnung des Urteils
Mitten in der Hauptreisezeit hat das BAG zu der Frage entschieden, was passiert, wenn Arbeitgeber weitergehende Hygienemaßnahmen anordnen, als es das Gesetz vorsieht. Erteilt der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer, der aus einem Covid-Risikogebiet zurückkehrt, ein 14-tägiges Betretungsverbot für das Betriebsgelände, obwohl der Arbeitnehmer entsprechend den verordnungsrechtlichen Vorgaben bei der Einreise aufgrund der Vorlage eines aktuellen negativen PCR-Tests und eines ärztlichen Attests über Symptomfreiheit keiner Quarantänepflicht unterliegt, schuldet der Arbeitgeber grundsätzlich die Vergütung wegen Annahmeverzugs.
Der Sachverhalt
Der Kläger ist bei einem Lebensmittelunternehmen als Leiter der Nachtreinigung beschäftigt. Die Beklagte erstellte zum Infektionsschutz ein Hygienekonzept, das für Arbeitnehmer, die aus einem vom Robert Koch-Institut ausgewiesenen Risikogebiet zurückkehren, eine 14-tägige Quarantäne mit Betretungsverbot des Betriebs ohne Entgeltanspruch anordnet.
Dies ging über die gesetzlichen Vorgaben des Landes Berlin hinaus, die vorsahen, dass nach Einreise aus einem Risikogebiet grundsätzlich eine Quarantänepflicht nicht für Personen gilt, die über ein ärztliches Attest nebst negativem PCR-Test verfügen, der höchstens 48 Stunden vor Einreise vorgenommen wurde, und wenn die Arbeitnehmer keine Symptome einer COVID-19-Erkrankung aufweisen.

Der Kläger reiste während seines Urlaubs in die Türkei, die zu dieser Zeit als Corona-Risikogebiet ausgewiesen war. Vor der Ausreise aus der Türkei unterzog er sich einem PCR-Test, der ebenso wie der erneute Test nach Ankunft in Deutschland negativ war. Der Arzt des Klägers attestierte ihm zudem Symptomfreiheit, sodass keine Quarantänepflicht nach den behördlichen Vorgaben bestand.
Die Beklagte verweigerte dem Kläger dennoch für die Dauer von 14 Tagen den Zutritt zum Betrieb und zahlte keine Vergütung für diesen Zeitraum. Mit seiner Klage machte der Kläger die Vergütung geltend.
Die Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht hat der Klage stattgegeben – zu Recht, so das BAG.
„Erteilt der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer, der aus einem SARS-CoV-2-Risikogebiet zurückkehrt, ein 14-tägiges Betretungsverbot für das Betriebsgelände, obwohl der Arbeitnehmer entsprechend den verordnungsrechtlichen Vorgaben bei der Einreise aufgrund der Vorlage eines aktuellen negativen PCR-Tests und eines ärztlichen Attests über Symptomfreiheit keiner Absonderungspflicht (Quarantäne) unterliegt, schuldet der Arbeitgeber grundsätzlich Vergütung wegen Annahmeverzugs.“
Der beklagte Arbeitgeber befand sich mit der Annahme der vom Kläger angebotenen Arbeitsleistung in Annahmeverzug, da das Betretungsverbot des Betriebs nicht zur Leistungsunfähigkeit des Klägers nach § 297 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) führte. Vielmehr war der Arbeitgeber selbst für die Nichterbringung der Arbeitsleistung verantwortlich.
Auch hat die Beklagte nicht dargelegt, warum ihr die Annahme der Arbeitsleistung des Klägers aufgrund der konkreten betrieblichen Umstände unzumutbar war. Die Weisung, dem Betrieb für die Dauer von 14 Tagen ohne Fortzahlung des Arbeitsentgelts fernzubleiben, war außerdem unbillig (§ 106 Gewerbeordnung (GewO)) und daher unwirksam. Vielmehr hätte die Beklagte dem Kläger die Möglichkeit eröffnen müssen, durch einen weiteren PCR-Test eine Infektion weitgehend auszuschließen. Hierdurch hätte sie den nach § 618 Abs. 1 BGB erforderlichen und angemessenen Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer erreichen und einen ordnungsgemäßen Betriebsablauf sicherstellen können.
Kurz erklärt
- Wenn die gesetzlichen Regelungen, die auf Grundlage der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse erlassen wurden, keine Quarantänepflicht vorschrieben, kann ein Arbeitgeber nicht einseitig den Beschäftigten eine Quarantänepflicht auferlegen und ihnen zudem auch noch das Gehalt vorenthalten
- Es mag sein, dass bestimmte betriebliche Bedürfnisse ein strengeres als das gesetzlich geforderte Hygienekonzept erforderlich machen. Dann kann es u. U. gerechtfertigt sein, Beschäftigte aus dem Betrieb für eine gewisse Zeit „auszusperren“. In diesem Fall muss der Arbeitgeber aber entweder – soweit im Beruf möglich – Homeoffice anbieten oder, wenn das nicht geht, schlichtweg Lohn zahlen, ohne dass dafür Arbeit geleistet werden muss. Ohne eine rechtliche Grundlage ist ein arbeitgeberseitig angeordnetes Betretungsverbot, bei dem der Vergütungsanspruch verloren geht, nur in engen Ausnahmefällen möglich. Dies kann beispielsweise unter Einbeziehung des Betriebsrats in Form einer Betriebsvereinbarung wirksam implementiert werden.
- Im Zusammenhang mit diesem Urteil steht auch eine vom BAG dem Europäischen Gerichtshof vorgelegte Frage zu dem Themenkreis „Behördliche Quarantäne und Urlaub“. Hierbei geht es darum, ob einem Arbeitnehmer Urlaubstage wieder gutgeschrieben werden müssen, wenn er sich während seines Urlaubs aufgrund einer behördlich angeordneten Quarantäne nur in seiner Wohnung aufhalten durfte. Das LAG Hamm war der Auffassung des Arbeitnehmers gefolgt und gab der Klage auf Gutschrift der Urlaubstage statt (Urteil vom 27.01.2022, Az. 5 Sa 1030/21). Die Entscheidung des BAG steht aus. Für den Neunten Senat des BAG ist es entscheidungserheblich, ob die Anrechnung von Quarantänezeit auf Urlaubstage mit Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Einklang steht. Schließlich sei nach nationalem Recht Urlaub nicht nachzugewähren, wenn vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter Jahresurlaub sich mit einer angeordneten häuslichen Quarantäne zeitlich überschneidet und der betroffene Arbeitnehmer selbst nicht krank war (Beschluss vom 16.08.2022, Az. 9 AZR 76/22 (A)).
Praxistipp
Das Thema Urlaub ist gerade in Zeiten von Corona heikel. Zwar können Arbeitgeber nach wie vor Hygienekonzepte erstellen, die über die behördlichen Vorgaben hinausgehen. Schließlich liegen diesen in der Verantwortungs- und Risikosphäre des Arbeitgebers. Allerdings muss der Arbeitgeber auch dann die entsprechenden wirtschaftlichen Konsequenzen tragen. D. h. nicht ohne Weiteres können den Arbeitnehmern finanzielle Konsequenzen aufgebürdet werden.
Dr. Michaela Felisiak, Rechtsanwältin