Im Blick: Arbeitsrecht
Beweisverwertungsverbot für Aufnahmen aus Videoüberwachung bei unzulässiger Datenerhebung
Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen, Urteil vom 06.07.2022 – 8 Sa 1149/20
Bislang wird das Thema Beweisverwertungsverbote in arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten oft ausgeklammert. Nicht so in einem Fall, den das LAG Niedersachsen entschied und der verdeutlicht, welches Risiko für Arbeitgeber bei der Verwendung von Videomaterial besteht. Das LAG Niedersachen hat trotz eines offensichtlichen Arbeitszeitbetrugs ein umfassendes Beweisverwertungsverbot angenommen und eine außerordentliche Kündigung für unwirksam erklärt.
Verortung des Urteils
Arbeitgeber können in vielen Bereichen des Arbeitsverhältnisses ein Interesse daran haben, die Leistung und/oder das Verhalten der Mitarbeiter zu überwachen. Dem Überwachungsinteresse des Arbeitgebers steht regelmäßig das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Mitarbeiter entgegen. Durch das Persönlichkeitsrecht werden die zulässigen Kontrollmöglichkeiten des Arbeitgebers erheblich begrenzt. Ob Arbeitgeber rechtmäßig eine Überwachung von Mitarbeitern durchführen können, ist im Rahmen einer einzelfallbezogenen umfassenden Güter- und Interessenabwägung festzustellen.
Bei der bislang wenig beachteten Entscheidung des LAG Niedersachen geht es um zwei wichtige Themen: zum einen um die Frage, ob bzw. inwieweit die Komm- und Gehzeiten der Mitarbeiter per Videokamera überwacht werden dürfen. Zum anderen wird beurteilt, ob die Aufzeichnungen der Videokamera im Gerichtsprozess verwertbar sind. Auch wenn das LAG die Revision zugelassen hat, sollten Arbeitgeber die nachfolgend dargestellte Entscheidung dringend beachten.
Der Sachverhalt
Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit einer außerordentlichen und einer weiteren – hilfsweisen – ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung sowie über die Erteilung eines Zwischenzeugnisses. Hintergrund war ein offensichtlicher Arbeitszeitbetrug des Klägers, auf den der Arbeitgeber mittels eines internen Hinweisgebersystems aufmerksam gemacht wurde.
Es stellte sich heraus, dass der Kläger im Jahr 2018 Werksausweise anderer Mitarbeiter am Werkstor auf eine Art und Weise nutzte, die es ihm erlaubte, das Werksgelände vor Schichtbeginn wieder zu verlassen und dem Zeiterfassungssystem trotzdem vorzutäuschen, er hätte die ganze Schicht gearbeitet. Der Arbeitgeber konnte diese Vorwürfe mittels Videokamera belegen. Dennoch scheiterten sowohl die außerordentliche als auch die ordentliche Kündigung in der ersten Instanz.
Die Entscheidung
Auch das LAG Niedersachen gab dem Kläger Recht. Argumentiert wurde, dass die behaupteten Pflichtwidrigkeiten des Klägers nicht erwiesen seien und auch kein hinreichend dringender Verdacht für ihre Begehung durch den Kläger bestehe – dies, obwohl sich der Arbeitszeitbetrug klar aus dem vorgelegten Videomaterial ergab.
Das LAG stützt sich jedoch auf ein Beweisverwertungsverbot und argumentiert mit der Selbstbindung des Arbeitgebers. Dieser habe im Jahr 2019 (also zu einem Zeitpunkt nach dem Arbeitszeitbetrug) bezüglich der Speicherdauer der Videoüberwachung folgende Regelung getroffen: „Die Daten werden 96 Stunden vorgehalten.“
Diese selbst aufgestellte Regel sei vorliegend der „springende Punkt“. Denn der Arbeitgeber hätte bei Verwertung des Videomaterials aus dem Jahr 2018 hiergegen eklatant verstoßen. Zwar gab es zu dem Zeitpunkt des Arbeitszeitbetrugs noch keinen Hinweis auf die Speicherdauer, dennoch biete der aktuelle Hinweis auf die Speicherdauer einen Anhaltspunkt dafür, dass der Arbeitgeber bei dem Betrieb der Videoanlage eine entsprechende Selbstbindung eingegangen ist.
Außerdem entschied das LAG, dass der – erstmalige – Zugriff auf Videoaufzeichnungen, die mehr als ein Jahr zurückliegen, zum Zwecke der Aufdeckung eines behaupteten Arbeitszeitbetrugs regelmäßig nicht angemessen sei. Es fehlt bereits an der grundsätzlichen Geeignetheit des eingesetzten Mittels der Videoüberwachung. Das Mittel der Videoüberwachung und -aufzeichnung ist – so das LAG – zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten und zur Aufdeckung einer damit im Zusammenhang stehenden Straftat nicht erforderlich, da hierzu andere Mittel zur Verfügung stehen. Zu denken ist insoweit z. B. an eine Anwesenheitserfassung der Beschäftigten durch Vorgesetzte oder auch durch technische Einrichtungen wie eine Stempelkarte. Zudem sei sowohl die sachliche als auch die zeitliche Intensität des Eingriffs so erheblich und stünde vorliegend außer Verhältnis zu den rechtfertigenden Gründen.
Mangels Verwertung des Videomaterials lagen die Voraussetzungen der Kündigungen nicht erwiesen vor.
Kurz erklärt
- Grundsätzlich ist die Überwachung der Mitarbeiter per Videokameras nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, denn durch die Aufzeichnung wird das Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiter jedenfalls tangiert, ggf. sogar verletzt. Insbesondere die datenschutzrechtlichen Schranken sind hierbei zu berücksichtigen.
- Eine heimliche Videoüberwachung ist nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich. Selbst bei einer Videoüberwachung im öffentlichen Bereich (z. B. Werkstor) gelten strenge Regeln. Erklären Arbeitgeber in einem Betriebskonzept oder auf einer Beschilderung einer Videoüberwachungsanlage, dass die daraus gewonnenen Aufnahmen nur 96 Stunden gespeichert werden, können Arbeitnehmer sich darauf stützen und darauf vertrauen, dass der Arbeitgeber nur auf Aufzeichnungen Zugriff hat, die bei der Sichtung nicht älter als 96 Stunden sind. Arbeitgeber können das aufgezeichnete Bildmaterial in solch einem Fall daher nur eingeschränkt verwerten.
Praxistipp
Die vermeintlich „sichere“ Beweisführung durch Videoaufnahmen kann durch das Damoklesschwert Beweisverwertungsverbot ins Wanken geraten. Ob das Bundesarbeitsgericht (BAG) tatsächlich die strenge Sicht des LAG Niedersachen teilt und einen offensichtlichen Arbeitszeitbetrug an der fehlenden Verwertbarkeit des Videomaterials scheitern lässt, bleibt abzuwarten. Dennoch sollten Arbeitgeber bei der Verwendung von Videoüberwachungskameras bereits jetzt genau prüfen, ob selbst gegebene Spielregeln (wie beispielsweise in Bezug auf eine gewisse Speicherdauer) im Ergebnis dazu führen, dass das Videomaterial arbeitsrechtlich kaum verwertbar ist.
Verbot des Kopftuchs am Arbeitsplatz ist keine Diskriminierung
Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 13.10.2022 – C-344/20
Kopftuchverbote sorgen immer wieder für Ärger in Arbeitsverhältnissen. Eine Unternehmensregel, die das sichtbare Tragen religiöser, weltanschaulicher oder spiritueller Zeichen verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung dar, so der EuGH. Zudem stellt das Gericht klar, dass eine Neutralitätspolitik eines Unternehmens auch eine mittelbare Benachteiligung unter Umständen rechtfertigen kann.
Verortung des Urteils
Es geht um die Auslegung der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG.
Der Sachverhalt
Anlass für das Urteil war ein Fall aus Belgien. In dem beklagten Unternehmen gibt es eine Arbeitsordnung, nach der die Mitarbeitenden „ihre religiösen, philosophischen oder politischen Weltanschauungen, welche diese auch immer sein mögen, in keiner Weise, weder durch Worte noch durch Kleidung oder in anderer Weise, zum Ausdruck bringen“ dürfen.
Eine junge Frau, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch trägt, hatte einen Praktikumsplatz bei dem Unternehmen nicht bekommen. Die Begründung war die vorgenannte interne Neutralitätsregel. Die Frau weigerte sich, ihr Kopftuch abzulegen.
Einen Monat später bewarb sie sich erneut und schlug vor, eine andere Art von Kopfbedeckung zu tragen. Darauf hieß es jedoch, dass ihr kein Praktikum angeboten werden könne, da keinerlei Kopfbedeckung erlaubt sei. Sie machte nun geltend, wegen ihrer Religion diskriminiert worden zu sein.
Das Arbeitsgericht legte dem EuGH zwei Fragen vor:
- Zum einen ging es um die Frage, ob die in der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG verwendeten Begriffe „Religion oder … Weltanschauung“ als zwei Facetten eines geschützten Merkmals zu verstehen sind oder als zwei verschiedene Merkmale.
- Zum anderen ging es darum, ob das in der Arbeitsordnung niedergelegte Verbot, ein konnotiertes Zeichen oder Bekleidungsstück zu tragen, eine unmittelbare Diskriminierung darstellt.
Die Entscheidung
Der EuGH entschied, dass Art. 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltenen Begriffe „Religion oder … Weltanschauung“ einen einzigen Diskriminierungsgrund darstellen, der sowohl religiöse als auch weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen umfasst.
In Bezug auf die Arbeitsordnung führte der EuGH zunächst grundsätzlich aus, dass diese keine unmittelbare Diskriminierung „wegen der Religion oder der Weltanschauung“ im Sinne des Unionsrechts darstellt, wenn diese Bestimmung allgemein und unterschiedslos angewandt wird. Da jede Person eine Religion oder religiöse, weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen haben kann, begründet eine solche Regel nämlich, sofern sie allgemein und unterschiedslos angewandt wird, keine Ungleichbehandlung, die auf einem Kriterium beruht, das untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbunden ist.

Bezüglich der konkret dargestellten Arbeitsordnung stellte der EuGH jedoch fest, dass hierin eine mittelbare Diskriminierung liegen könnte, wenn sich erweist – was durch das Arbeitsgericht zu prüfen ist –, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden. Eine mittelbare Ungleichbehandlung könne jedoch wiederum durch den Willen des Arbeitgebers, eine Neutralitätspolitik zu betreiben, gerechtfertigt sein. Laut EuGH kann das nationale Gericht bei der Beurteilung der Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen, denen der Religion oder der Weltanschauung größere Bedeutung beimessen als denen der unternehmerischen Freiheit, soweit sich dies aus seinem innerstaatlichen Recht ergebe.
Kurz erklärt:
- Wegweisend war in Deutschland das Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem die Karlsruher Richter für ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen hohe Hürden setzten. Nur wenn im konkreten Fall eine Gefährdung oder Störung des Schulfriedens vorliege, dürfe es ein solches Verbot geben. Eine konkrete Störung in einem Unternehmen verlangt grundsätzlich auch das BAG, wenn es um Kopftuchverbote am Arbeitsplatz geht. Der Arbeitgeber muss genau nachweisen, warum eine strenge Neutralitätsregel in seinem Unternehmen nötig ist.
- Grundsätzlich gilt: Pauschale Kopftuchverbote sind in Deutschland – nach wie vor – rechtswidrig. Der Grund dafür ist der besondere Schutz der Religionsfreiheit im Grundgesetz
der auch im Einklang mit dem Urteil des EuGH steht. Für Arbeitgeber kann jedoch der Wunsch nach Neutralität ein Anknüpfungspunkt für solch ein Verbot sein.
Praxistipp
Vorsicht bei Kopftuchverboten oder sonstigen betrieblichen Regelungen, die gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen können. Wollen sich Arbeitgeber auf das vorstehende EuGH-Urteil berufen, muss genau geprüft werden, welchen Grund es für die Neutralitätsregelung gibt.
Schwerbehindertenvertretung existiert fort, selbst bei Unterschreiten des Quorums
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 19.10.2022 – 7 ABR 27/21
Die Schwerbehindertenvertretung in Betrieben bleibt bestehen, auch wenn die Anzahl der schwerbehinderten Mitarbeiter unter den Schwellenwert von fünf sinkt, so das BAG.
Verortung des Urteils
Die Schwerbehindertenvertretung ist die Interessenvertretung der schwerbehinderten und gleichgestellten Beschäftigten.
Sie wird nach § 177 I 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IX u. a. in Betrieben mit wenigstens fünf – nicht nur vorübergehend beschäftigten – schwerbehinderten Menschen für eine Amtszeit von regelmäßig vier Jahren gewählt. Was passiert aber, wenn während dieser Amtszeit die Voraussetzungen entfallen?
Der Sachverhalt

In einem Kölner Betrieb einer Arbeitgeberin mit ungefähr 120 Mitarbeitern wurde im November 2019 eine Schwerbehindertenvertretung gewählt. Zum 01.08.2020 sank die Zahl der schwerbehinderten Menschen in diesem Betrieb auf vier Beschäftigte. Die Arbeitgeberin informierte die Schwerbehindertenvertretung darüber, dass sie nicht mehr existiere und die schwerbehinderten Beschäftigten von der Schwerbehindertenvertretung in einem anderen Betrieb vertreten würden.
In dem von ihr eingeleiteten Verfahren hat die Schwerbehindertenvertretung des Kölner Betriebs die Feststellung begehrt, dass ihr Amt nicht aufgrund des Absinkens der Anzahl schwerbehinderter Menschen im Betrieb vorzeitig beendet ist. Die beiden ersten Instanzen wiesen den Antrag ab.
Die Entscheidung
Anders das BAG, das entschied, dass das Amt der Schwerbehindertenvertretung nicht vorzeitig beendet ist. Eine ausdrückliche Regelung, die das Erlöschen der Schwerbehindertenvertretung bei Absinken der Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter unter den Schwellenwert nach § 177 I 1 SGB IX vorsieht, besteht im Gesetz nicht. Eine vorzeitige Beendigung der Amtszeit ergibt sich auch nicht aus gesetzessystematischen Gründen oder im Hinblick auf Sinn und Zweck des Schwellenwerts.
Kurz erklärt
- Das Landesarbeitsgericht Hannover (Beschl. v. 20.08.2008 – 15 TaBV 145/07 Rn. 24) vertrat – neben der Vorinstanz der dargestellten Entscheidung – bislang die Gegenansicht. In der Praxis wurde diese Entscheidung oft von Arbeitgebern verwendet, um Schwerbehindertenvertretungen ihre Existenz abzusprechen.
Praxistipp
Arbeitgeber müssen darauf achten, dass es nach dem BAG-Urteil nicht mehr möglich ist, Schwerbehindertenvertretungen mit zum Teil geringem, auch zahlenmäßig schwankendem Quorum wahlberechtigter Menschen in der laufenden ordentlichen Wahlperiode reflexartig die (Fort-) Existenz abzusprechen, sobald einmal weniger als fünf nach dem SGB IX wahlberechtigte Menschen im Betrieb tätig sind.
BEM-Verfahren kann einvernehmlich vorzeitig beendet werden
Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf, Urteil vom 17.05.2022 – 14 Sa 825/21
Der Dauerbrenner „BEM-Verfahren“ und die Frage, welche Voraussetzungen an eine wirksame personenbedingte Kündigung zu stellen sind, landen regelmäßig in Personalabteilung. Dass auch ein Referenzzeitraum von zwei Jahren ausreicht und die einvernehmliche Beendigung eines BEM-Verfahrens möglich ist, entschied nun das LAG Düsseldorf.
Verortung des Urteils
Es geht um die Wirksamkeit einer Kündigung wegen häufiger (Kurz-)Erkrankungen, bei denen die folgenden drei Stufen geprüft werden.
- Stufe: Negative Gesundheitsprognose
Die erste Stufe erfordert eine negative Gesundheitsprognose. Hierfür müssen im Kündigungszeitpunkt objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Hierbei wird auf die zurückliegenden Jahre (sog. Referenzzeitraum) zurückgegriffen.
- Stufe: Erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen
Außerdem müssen die prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen (u. a. Betriebsablaufstörungen und Entgeltfortzahlungskosten, wenn diese den Umfang von sechs Wochen übersteigen).
- Stufe: Interessenabwägung
Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung ist sodann zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber gleichwohl hingenommen werden müssen.
Das nachfolgende Urteil betrifft die erste Stufe.
Der Sachverhalt
Es geht um die Wirksamkeit einer personenbedingten Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen. Im Jahr 2019 war der gegen die Kündigung klagende Arbeitnehmer in neun Zeiträumen an insgesamt 36 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Im Jahr 2020 war der Kläger in 13 Zeiträumen an insgesamt 82 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Die Zeiträume der Arbeitsunfähigkeit beruhten auf unterschiedlichen Erkrankungen.
Die Beklagte lud den Kläger mit Schreiben vom 23.07.2020 zu einem „Klärungsgespräch im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements“ (sog. BEM) ein. Daraufhin stimmte der Kläger der Durchführung des BEM-Verfahrens zu. Im Rahmen des BEM-Gesprächs gab der Kläger an, sehr viel privaten Stress durch Wohnungssuche und Hochzeit gehabt zu haben. Hingegen machte er keine Angaben zu einzelnen Erkrankungen oder weiteren Krankheitsursachen. Im Gesprächsprotokoll wurde u. a. festgehalten, der Kläger habe am 19.09.2020 geheiratet und habe seitdem keinen Stress mehr. Der Kläger erklärte, wieder voll einsatzfähig zu sein und aktuell keine Erkrankungen zu haben, die ihn bei der Arbeit beeinträchtigen. Das BEM-Verfahren wurde daraufhin am 29.10.2020 einvernehmlich beendet.
Im Rahmen des Kündigungsschutzprozesses wandte der Kläger u. a. ein, dass ein begonnenes BEM-Verfahren nicht zu Ende geführt worden ist. Die erste Instanz, das Arbeitsgericht Düsseldorf, gab dem Kläger Recht.
Die Entscheidung
Anders das LAG, welches die Kündigungsschutzklage abwies. Folgende Punkte waren für diese Entscheidung relevant:
- Negative Prognose (1. Stufe): Die negative Prognose lag vor. Der Kläger hat selbst zu unterschiedlichen Erkrankungen vorgetragen, darunter zu Erkältungs- und Entzündungskrankheiten und Beschwerden des Bewegungsapparates. Bei diesen Krankheiten könne regelmäßig von einer Wiederholungsgefahr ausgegangen werden, wenn keine besonderen Therapiemaßnahmen erfolgen. Zudem hatte der Kläger sich auf sehr viel privaten Stress berufen. Das Gericht stellte insoweit fest, dass dieser den Kläger jedoch in allen Lebenslagen ereilen könne, weshalb es dann auch naheliege, dass die verschiedenen, stressbedingten Erkrankungen erneut auftreten.
- Referenzzeitraum von zwei Jahren: Auch der Referenzzeitraum von (nur) zwei Jahren genügte vorliegend.
- Ordnungsgemäße Durchführung bzw. Beendigung des BEM-Verfahrens: Das Gesetz regelt nicht explizit, wann ein BEM-Verfahren abgeschlossen ist. Es ist jedenfalls dann abgeschlossen, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einig sind, dass der Suchprozess durchgeführt ist oder nicht weiter durchgeführt werden soll. D. h. die Arbeitsvertragsparteien können – so das LAG – ein BEM-Verfahren einvernehmlich abschließen. Wichtig war dabei, dass der Arbeitnehmer die notwendige Kenntnis über das BEM-Verfahren besaß, um beurteilen zu können, ob es beendet oder fortgesetzt werden sollte. Dies wurde vorliegend bejaht.

Kurz erklärt
Das Urteil legt den Schluss nahe, dass sich ein Arbeitnehmer bei der Offenlegung seiner konkreten Erkrankungen „um Kopf und Kragen“ redet, wenn diese keinen Bezug zur ausgeübten Tätigkeit haben und das BEM-Verfahren deshalb zu dem negativen Ergebnis führt. D. h. dass keine leidensgerechte Möglichkeit zur Fortführung des Arbeitsverhältnisses besteht.
Bei Durchführung eines BEM-Verfahrens ist wichtig, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX auf die Ziele des BEM sowie die Art und den Umfang der dabei erhobenen Daten hingewiesen hat. Dieser Hinweis erfordert eine Darstellung der Ziele, die inhaltlich über eine bloße Bezugnahme auf die Vorschrift des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hinausgeht. Dem Arbeitnehmer muss verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen seiner Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch er Vorschläge einbringen kann.
Daneben ist ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung erforderlich, der klarstellt, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes BEM durchführen zu können. Dem Arbeitnehmer muss mitgeteilt werden, welche Krankheitsdaten – als personenbezogene Daten besonderer Kategorie – erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber zugänglich gemacht werden.
Hat das BEM ein positives Ergebnis, sollten am Ende mögliche Eingliederungsmaßnahmen besprochen werden. Zudem sollte der weitere zeitliche Ablauf abgestimmt und auch im Protokoll festgehalten werden.
Praxistipp
Dieser Fall macht die Fallstricke, die für alle Beteiligten beim BEM-Verfahren lauern, deutlich. Hat der Arbeitgeber den Eindruck, dass der Arbeitnehmer an einer Fortsetzung des BEM-Verfahrens, dem er ursprünglich zugestimmt hat, nun kein Interesse mehr hat, so sollte er dafür Sorge tragen, dass sich aus dem Protokoll des BEM-Verfahrens eine entsprechende Einlassung des Arbeitnehmers ergibt. Es kann außerdem ratsam sein, den Arbeitnehmer nochmals darauf hinzuweisen, dass ein vorzeitig einvernehmlich beendetes BEM-Verfahren wie ein abgeschlossenes BEM-Verfahren anzusehen ist.
Dr. Michaela Felisiak, Rechtsanwältin, ADVANT Beiten