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Im Blick: Arbeitsrecht

Lesezeit 14 Min.

Beweisverwertungsverbot für Auf­nahmen aus Videoüberwachung bei unzulässiger Datenerhebung

Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen, Urteil vom 06.07.2022 – 8 Sa 1149/20

Bislang wird das Thema Beweisverwertungsverbote in arbeits­gerichtlichen Streitigkeiten oft ausgeklammert. Nicht so in einem Fall, den das LAG Niedersachsen entschied und der ver­deutlicht, welches Risiko für Arbeitgeber bei der Verwendung von Videomaterial besteht. Das LAG Niedersachen hat trotz eines offensichtlichen Arbeitszeitbetrugs ein umfassendes Be­weisverwertungsverbot angenommen und eine außerordentli­che Kündigung für unwirksam erklärt.

Verortung des Urteils

Arbeitgeber können in vielen Bereichen des Arbeitsverhält­nisses ein Interesse daran haben, die Leistung und/oder das Verhalten der Mitarbeiter zu überwachen. Dem Überwachungs­interesse des Arbeitgebers steht regelmäßig das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Mitarbeiter entgegen. Durch das Persönlichkeitsrecht werden die zulässigen Kontrollmöglichkeiten des Arbeitgebers erheblich begrenzt. Ob Arbeitgeber rechtmäßig eine Überwachung von Mitarbeitern durchführen können, ist im Rahmen einer einzelfallbezogenen umfassenden Güter- und Interessenabwägung festzustellen.

Bei der bislang wenig beachteten Entscheidung des LAG Nie­dersachen geht es um zwei wichtige Themen: zum einen um die Frage, ob bzw. inwieweit die Komm- und Gehzeiten der Mitarbeiter per Videokamera überwacht werden dürfen. Zum anderen wird beurteilt, ob die Aufzeichnungen der Videoka­mera im Gerichtsprozess verwertbar sind. Auch wenn das LAG die Revision zugelassen hat, sollten Arbeitgeber die nachfol­gend dargestellte Entscheidung dringend beachten.

Der Sachverhalt

Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit einer außeror­dentlichen und einer weiteren – hilfsweisen – ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung sowie über die Erteilung eines Zwischenzeugnisses. Hintergrund war ein offensichtlicher Ar­beitszeitbetrug des Klägers, auf den der Arbeitgeber mittels eines internen Hinweisgebersystems aufmerksam gemacht wurde.

Es stellte sich heraus, dass der Kläger im Jahr 2018 Werksaus­weise anderer Mitarbeiter am Werkstor auf eine Art und Weise nutzte, die es ihm erlaubte, das Werksgelände vor Schichtbe­ginn wieder zu verlassen und dem Zeiterfassungssystem trotz­dem vorzutäuschen, er hätte die ganze Schicht gearbeitet. Der Arbeitgeber konnte diese Vorwürfe mittels Videokamera bele­gen. Dennoch scheiterten sowohl die außerordentliche als auch die ordentliche Kündigung in der ersten Instanz.

Die Entscheidung

Auch das LAG Niedersachen gab dem Kläger Recht. Argumen­tiert wurde, dass die behaupteten Pflichtwidrigkeiten des Klägers nicht erwiesen seien und auch kein hinreichend drin­gender Verdacht für ihre Begehung durch den Kläger be­stehe – dies, obwohl sich der Arbeitszeitbetrug klar aus dem vorgelegten Videomaterial ergab.

Das LAG stützt sich jedoch auf ein Beweisverwertungsver­bot und argumentiert mit der Selbstbindung des Arbeitgebers. Dieser habe im Jahr 2019 (also zu einem Zeitpunkt nach dem Arbeitszeitbetrug) bezüglich der Speicherdauer der Videoüber­wachung folgende Regelung getroffen: „Die Daten werden 96 Stunden vorgehalten.

Diese selbst aufgestellte Regel sei vorliegend der „springende Punkt“. Denn der Arbeitgeber hätte bei Verwertung des Video­materials aus dem Jahr 2018 hiergegen eklatant verstoßen. Zwar gab es zu dem Zeitpunkt des Arbeitszeitbetrugs noch kei­nen Hinweis auf die Speicherdauer, dennoch biete der aktuelle Hinweis auf die Speicherdauer einen Anhaltspunkt dafür, dass der Arbeitgeber bei dem Betrieb der Videoanlage eine entspre­chende Selbstbindung eingegangen ist.

Außerdem entschied das LAG, dass der – erstmalige – Zugriff auf Videoaufzeichnungen, die mehr als ein Jahr zurückliegen, zum Zwecke der Aufdeckung eines behaupteten Arbeitszeit­betrugs regelmäßig nicht angemessen sei. Es fehlt bereits an der grundsätzlichen Geeignetheit des eingesetzten Mittels der Videoüberwachung. Das Mittel der Videoüberwachung und -aufzeichnung ist – so das LAG – zur Kontrolle geleisteter Ar­beitszeiten und zur Aufdeckung einer damit im Zusammenhang stehenden Straftat nicht erforderlich, da hierzu andere Mittel zur Verfügung stehen. Zu denken ist insoweit z. B. an eine An­wesenheitserfassung der Beschäftigten durch Vorgesetzte oder auch durch technische Einrichtungen wie eine Stempelkarte. Zudem sei sowohl die sachliche als auch die zeitliche Intensität des Eingriffs so erheblich und stünde vorliegend außer Verhält­nis zu den rechtfertigenden Gründen.

Mangels Verwertung des Videomaterials lagen die Vorausset­zungen der Kündigungen nicht erwiesen vor.

Kurz erklärt

  • Grundsätzlich ist die Überwachung der Mitarbeiter per Video­kameras nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, denn durch die Aufzeichnung wird das Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiter jedenfalls tangiert, ggf. sogar verletzt. Insbe­sondere die datenschutzrechtlichen Schranken sind hierbei zu berücksichtigen.
  • Eine heimliche Videoüberwachung ist nur unter sehr engen Vo­raussetzungen möglich. Selbst bei einer Videoüberwachung im öffentlichen Bereich (z. B. Werkstor) gelten strenge Regeln. Erklären Arbeitgeber in einem Betriebskonzept oder auf einer Beschilderung einer Videoüberwachungsanlage, dass die da­raus gewonnenen Aufnahmen nur 96 Stunden gespeichert werden, können Arbeitnehmer sich darauf stützen und darauf vertrauen, dass der Arbeitgeber nur auf Aufzeichnungen Zugriff hat, die bei der Sichtung nicht älter als 96 Stunden sind. Arbeit­geber können das aufgezeichnete Bildmaterial in solch einem Fall daher nur eingeschränkt verwerten.

Praxistipp

Die vermeintlich „sichere“ Beweisführung durch Vi­deoaufnahmen kann durch das Damoklesschwert Be­weisverwertungsverbot ins Wanken geraten. Ob das Bundesarbeitsgericht (BAG) tatsächlich die strenge Sicht des LAG Niedersachen teilt und einen offensichtlichen Arbeitszeitbetrug an der fehlenden Verwertbarkeit des Videomaterials scheitern lässt, bleibt abzuwarten. Dennoch sollten Arbeitgeber bei der Verwendung von Videoüberwachungskameras bereits jetzt genau prüfen, ob selbst gegebene Spielregeln (wie beispielsweise in Bezug auf eine gewisse Speicherdauer) im Ergebnis dazu führen, dass das Videomaterial arbeitsrechtlich kaum verwertbar ist.

Verbot des Kopftuchs am Arbeits­platz ist keine Diskriminierung

Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 13.10.2022 – C-344/20

Kopftuchverbote sorgen immer wieder für Ärger in Arbeitsver­hältnissen. Eine Unternehmensregel, die das sichtbare Tragen religiöser, weltanschaulicher oder spiritueller Zeichen verbie­tet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung dar, so der EuGH. Zudem stellt das Gericht klar, dass eine Neutralitätspolitik eines Unternehmens auch eine mittelbare Benachteiligung unter Umständen rechtfertigen kann.

Verortung des Urteils

Es geht um die Auslegung der europäischen Gleichbehand­lungsrichtlinie 2000/78/EG.

Der Sachverhalt

Anlass für das Urteil war ein Fall aus Belgien. In dem beklagten Unternehmen gibt es eine Arbeitsordnung, nach der die Mit­arbeitenden „ihre religiösen, philosophischen oder politischen Weltanschauungen, welche diese auch immer sein mögen, in keiner Weise, weder durch Worte noch durch Kleidung oder in anderer Weise, zum Ausdruck bringen“ dürfen.

Eine junge Frau, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch trägt, hatte einen Praktikumsplatz bei dem Unternehmen nicht be­kommen. Die Begründung war die vorgenannte interne Neutra­litätsregel. Die Frau weigerte sich, ihr Kopftuch abzulegen.

Einen Monat später bewarb sie sich erneut und schlug vor, eine andere Art von Kopfbedeckung zu tragen. Darauf hieß es je­doch, dass ihr kein Praktikum angeboten werden könne, da keinerlei Kopfbedeckung erlaubt sei. Sie machte nun geltend, wegen ihrer Religion diskriminiert worden zu sein.

Das Arbeitsgericht legte dem EuGH zwei Fragen vor:

  • Zum einen ging es um die Frage, ob die in der Gleichbehand­lungsrichtlinie 2000/78/EG verwendeten Begriffe „Religion oder … Weltanschauung“ als zwei Facetten eines geschütz­ten Merkmals zu verstehen sind oder als zwei verschiedene Merkmale.
  • Zum anderen ging es darum, ob das in der Arbeitsordnung niedergelegte Verbot, ein konnotiertes Zeichen oder Beklei­dungsstück zu tragen, eine unmittelbare Diskriminierung darstellt.

Die Entscheidung

Der EuGH entschied, dass Art. 1 der Gleichbehandlungsrichtli­nie 2000/78/EG dahin auszulegen ist, dass die darin enthalte­nen Begriffe „Religion oder … Weltanschauung“ einen einzigen Diskriminierungsgrund darstellen, der sowohl religiöse als auch weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen umfasst.

In Bezug auf die Arbeitsordnung führte der EuGH zunächst grundsätzlich aus, dass diese keine unmittelbare Diskriminie­rung „wegen der Religion oder der Weltanschauung“ im Sinne des Unionsrechts darstellt, wenn diese Bestimmung allgemein und unterschiedslos angewandt wird. Da jede Person eine Re­ligion oder religiöse, weltanschauliche oder spirituelle Über­zeugungen haben kann, begründet eine solche Regel nämlich, sofern sie allgemein und unterschiedslos angewandt wird, keine Ungleichbehandlung, die auf einem Kriterium beruht, das untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbun­den ist.

Im Blick Arbeitsrecht 2022-8-min
Im Blick Arbeitsrecht 2022-8-min

Bezüglich der konkret dargestellten Arbeitsordnung stellte der EuGH jedoch fest, dass hierin eine mittelbare Diskriminierung liegen könnte, wenn sich erweist – was durch das Arbeits­gericht zu prüfen ist –, dass die dem Anschein nach neut­rale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschau­ung in besonderer Weise benachteiligt werden. Eine mittel­bare Ungleichbehandlung könne jedoch wiederum durch den Willen des Arbeitgebers, eine Neutralitätspolitik zu betreiben, gerechtfertigt sein. Laut EuGH kann das nationale Gericht bei der Beurteilung der Rechtfertigung einer mittelbaren Diskri­minierung im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen, denen der Religion oder der Weltanschauung grö­ßere Bedeutung beimessen als denen der unternehmerischen Freiheit, soweit sich dies aus seinem innerstaatlichen Recht ergebe.

Kurz erklärt:

  • Wegweisend war in Deutschland das Kopftuchurteil des Bun­desverfassungsgerichts, mit dem die Karlsruher Richter für ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen hohe Hürden setzten. Nur wenn im konkreten Fall eine Gefährdung oder Störung des Schulfriedens vorliege, dürfe es ein solches Verbot geben. Eine konkrete Störung in einem Unternehmen verlangt grundsätz­lich auch das BAG, wenn es um Kopftuchverbote am Arbeits­platz geht. Der Arbeitgeber muss genau nachweisen, warum eine strenge Neutralitätsregel in seinem Unternehmen nötig ist.
  • Grundsätzlich gilt: Pauschale Kopftuchverbote sind in Deutschland – nach wie vor – rechtswidrig. Der Grund dafür ist der besondere Schutz der Religionsfreiheit im Grundgesetz

der auch im Einklang mit dem Urteil des EuGH steht. Für Arbeitgeber kann jedoch der Wunsch nach Neutralität ein Anknüpfungspunkt für solch ein Verbot sein.

Praxistipp

Vorsicht bei Kopftuchverboten oder sonstigen betrieblichen Regelungen, die gegen das Diskriminierungsverbot versto­ßen können. Wollen sich Arbeitgeber auf das vorstehende EuGH-Urteil berufen, muss genau geprüft werden, welchen Grund es für die Neutralitätsregelung gibt.

Schwerbehindertenvertretung existiert fort, selbst bei Unterschreiten des Quorums

Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 19.10.2022 – 7 ABR 27/21

Die Schwerbehindertenvertretung in Betrieben bleibt bestehen, auch wenn die Anzahl der schwerbehinderten Mitarbeiter unter den Schwellenwert von fünf sinkt, so das BAG.

Verortung des Urteils

Die Schwerbehindertenvertretung ist die Interessenvertretung der schwerbehinderten und gleichgestellten Beschäftigten.

Sie wird nach § 177 I 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IX u. a. in Betrie­ben mit wenigstens fünf – nicht nur vorübergehend beschäf­tigten – schwerbehinderten Menschen für eine Amtszeit von regelmäßig vier Jahren gewählt. Was passiert aber, wenn wäh­rend dieser Amtszeit die Voraussetzungen entfallen?

Der Sachverhalt

Im Blick Arbeitsrecht 2022-8-2-min
Im Blick Arbeitsrecht 2022-8-2-min

In einem Kölner Betrieb einer Arbeitgeberin mit ungefähr 120 Mitarbeitern wurde im November 2019 eine Schwerbehin­dertenvertretung gewählt. Zum 01.08.2020 sank die Zahl der schwerbehinderten Menschen in diesem Betrieb auf vier Be­schäftigte. Die Arbeitgeberin informierte die Schwerbehinder­tenvertretung darüber, dass sie nicht mehr existiere und die schwerbehinderten Beschäftigten von der Schwerbehinderten­vertretung in einem anderen Betrieb vertreten würden.

In dem von ihr eingeleiteten Verfahren hat die Schwerbehin­dertenvertretung des Kölner Betriebs die Feststellung begehrt, dass ihr Amt nicht aufgrund des Absinkens der Anzahl schwer­behinderter Menschen im Betrieb vorzeitig beendet ist. Die beiden ersten Instanzen wiesen den Antrag ab.

Die Entscheidung

Anders das BAG, das entschied, dass das Amt der Schwerbehin­dertenvertretung nicht vorzeitig beendet ist. Eine ausdrückliche Regelung, die das Erlöschen der Schwerbehindertenvertretung bei Absinken der Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter unter den Schwellenwert nach § 177 I 1 SGB IX vorsieht, besteht im Ge­setz nicht. Eine vorzeitige Beendigung der Amtszeit ergibt sich auch nicht aus gesetzessystematischen Gründen oder im Hin­blick auf Sinn und Zweck des Schwellenwerts.

Kurz erklärt

  • Das Landesarbeitsgericht Hannover (Beschl. v. 20.08.2008 – 15 TaBV 145/07 Rn. 24) vertrat – neben der Vorinstanz der dar­gestellten Entscheidung – bislang die Gegenansicht. In der Praxis wurde diese Entscheidung oft von Arbeitgebern ver­wendet, um Schwerbehindertenvertretungen ihre Existenz abzusprechen.

Praxistipp

Arbeitgeber müssen darauf achten, dass es nach dem BAG-Urteil nicht mehr möglich ist, Schwerbehinderten­vertretungen mit zum Teil geringem, auch zahlenmäßig schwankendem Quorum wahlberechtigter Menschen in der laufenden ordentlichen Wahlperiode reflexartig die (Fort-) Existenz abzusprechen, sobald einmal weniger als fünf nach dem SGB IX wahlberechtigte Menschen im Betrieb tätig sind.

BEM-Verfahren kann einvernehmlich vorzeitig beendet werden

Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf, Urteil vom 17.05.2022 – 14 Sa 825/21

Der Dauerbrenner „BEM-Verfahren“ und die Frage, welche Vor­aussetzungen an eine wirksame personenbedingte Kündigung zu stellen sind, landen regelmäßig in Personalabteilung. Dass auch ein Referenzzeitraum von zwei Jahren ausreicht und die einvernehmliche Beendigung eines BEM-Verfahrens möglich ist, entschied nun das LAG Düsseldorf.

Verortung des Urteils

Es geht um die Wirksamkeit einer Kündigung wegen häufiger (Kurz-)Erkrankungen, bei denen die folgenden drei Stufen ge­prüft werden.

  1. Stufe: Negative Gesundheitsprognose

Die erste Stufe erfordert eine negative Gesundheitsprognose. Hierfür müssen im Kündigungszeitpunkt objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisheri­gen Umfang befürchten lassen. Hierbei wird auf die zurücklie­genden Jahre (sog. Referenzzeitraum) zurückgegriffen.

  1. Stufe: Erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen

Außerdem müssen die prognostizierten Fehlzeiten zu einer er­heblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen (u. a. Betriebsablaufstörungen und Entgeltfortzahlungskosten, wenn diese den Umfang von sechs Wochen übersteigen).

  1. Stufe: Interessenabwägung

Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung ist sodann zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber gleichwohl hingenommen werden müssen.

Das nachfolgende Urteil betrifft die erste Stufe.

Der Sachverhalt

Es geht um die Wirksamkeit einer personenbedingten Kündi­gung wegen häufiger Kurzerkrankungen. Im Jahr 2019 war der gegen die Kündigung klagende Arbeitnehmer in neun Zeiträu­men an insgesamt 36 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Im Jahr 2020 war der Kläger in 13 Zeiträumen an insgesamt 82 Ar­beitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Die Zeiträume der Arbeits­unfähigkeit beruhten auf unterschiedlichen Erkrankungen.

Die Beklagte lud den Kläger mit Schreiben vom 23.07.2020 zu einem „Klärungsgespräch im Rahmen des betrieblichen Einglie­derungsmanagements“ (sog. BEM) ein. Daraufhin stimmte der Kläger der Durchführung des BEM-Verfahrens zu. Im Rahmen des BEM-Gesprächs gab der Kläger an, sehr viel privaten Stress durch Wohnungssuche und Hochzeit gehabt zu haben. Hinge­gen machte er keine Angaben zu einzelnen Erkrankungen oder weiteren Krankheitsursachen. Im Gesprächsprotokoll wurde u. a. festgehalten, der Kläger habe am 19.09.2020 geheiratet und habe seitdem keinen Stress mehr. Der Kläger erklärte, wie­der voll einsatzfähig zu sein und aktuell keine Erkrankungen zu haben, die ihn bei der Arbeit beeinträchtigen. Das BEM-Verfah­ren wurde daraufhin am 29.10.2020 einvernehmlich beendet.

Im Rahmen des Kündigungsschutzprozesses wandte der Kläger u. a. ein, dass ein begonnenes BEM-Verfahren nicht zu Ende ge­führt worden ist. Die erste Instanz, das Arbeitsgericht Düssel­dorf, gab dem Kläger Recht.

Die Entscheidung

Anders das LAG, welches die Kündigungsschutzklage abwies. Folgende Punkte waren für diese Entscheidung relevant:

  • Negative Prognose (1. Stufe): Die negative Prognose lag vor. Der Kläger hat selbst zu unterschiedlichen Erkrankungen vorge­tragen, darunter zu Erkältungs- und Entzündungskrankhei­ten und Beschwerden des Bewegungsapparates. Bei diesen Krankheiten könne regelmäßig von einer Wiederholungsge­fahr ausgegangen werden, wenn keine besonderen Therapie­maßnahmen erfolgen. Zudem hatte der Kläger sich auf sehr viel privaten Stress berufen. Das Gericht stellte insoweit fest, dass dieser den Kläger jedoch in allen Lebenslagen ereilen könne, weshalb es dann auch naheliege, dass die verschiede­nen, stressbedingten Erkrankungen erneut auftreten.
  • Referenzzeitraum von zwei Jahren: Auch der Referenzzeitraum von (nur) zwei Jahren genügte vorliegend.
  • Ordnungsgemäße Durchführung bzw. Beendigung des BEM-Verfahrens: Das Gesetz regelt nicht explizit, wann ein BEM-Verfahren abgeschlossen ist. Es ist jedenfalls dann ab­geschlossen, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einig sind, dass der Suchprozess durchgeführt ist oder nicht wei­ter durchgeführt werden soll. D. h. die Arbeitsvertragsparteien können – so das LAG – ein BEM-Verfahren einvernehmlich abschließen. Wichtig war dabei, dass der Arbeitnehmer die notwendige Kenntnis über das BEM-Verfahren besaß, um be­urteilen zu können, ob es beendet oder fortgesetzt werden sollte. Dies wurde vorliegend bejaht.
Im Blick Arbeitsrecht 2022-8-3-min
Im Blick Arbeitsrecht 2022-8-3-min

Kurz erklärt

Das Urteil legt den Schluss nahe, dass sich ein Arbeitnehmer bei der Offenlegung seiner konkreten Erkrankungen „um Kopf und Kragen“ redet, wenn diese keinen Bezug zur ausgeübten Tätig­keit haben und das BEM-Verfahren deshalb zu dem negativen Ergebnis führt. D. h. dass keine leidensgerechte Möglichkeit zur Fortführung des Arbeitsverhältnisses besteht.

Bei Durchführung eines BEM-Verfahrens ist wichtig, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX auf die Ziele des BEM sowie die Art und den Umfang der dabei erhobenen Daten hingewiesen hat. Dieser Hinweis erfordert eine Darstellung der Ziele, die inhaltlich über eine bloße Be­zugnahme auf die Vorschrift des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hin­ausgeht. Dem Arbeitnehmer muss verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen seiner Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch er Vorschläge einbringen kann.

Daneben ist ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwen­dung erforderlich, der klarstellt, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen die­nendes BEM durchführen zu können. Dem Arbeitnehmer muss mitgeteilt werden, welche Krankheitsdaten – als personenbe­zogene Daten besonderer Kategorie – erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber zu­gänglich gemacht werden.

Hat das BEM ein positives Ergebnis, sollten am Ende mögliche Eingliederungsmaßnahmen besprochen werden. Zudem sollte der weitere zeitliche Ablauf abgestimmt und auch im Protokoll festgehalten werden.

Praxistipp

Dieser Fall macht die Fallstricke, die für alle Beteiligten beim BEM-Verfahren lauern, deutlich. Hat der Arbeitgeber den Eindruck, dass der Arbeitnehmer an einer Fortsetzung des BEM-Verfahrens, dem er ursprünglich zugestimmt hat, nun kein Interesse mehr hat, so sollte er dafür Sorge tra­gen, dass sich aus dem Protokoll des BEM-Verfahrens eine entsprechende Einlassung des Arbeitnehmers ergibt. Es kann außerdem ratsam sein, den Arbeitnehmer nochmals darauf hinzuweisen, dass ein vorzeitig einvernehmlich be­endetes BEM-Verfahren wie ein abgeschlossenes BEM-Ver­fahren anzusehen ist.

Dr. Michaela Felisiak, Rechtsanwältin, ADVANT Beiten

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