Sexuelle Belästigung außerhalb der Arbeitszeit kann außerordentliche Kündigung rechtfertigen
LAG Niedersachsen, Urteil vom 28.02.2024 - Az. 2 Sa 375/23 Grundsätzlich kann außerdienstliches Verhalten nur in sehr begrenztem Umfang eine Kündigung rechtfertigen. Es gilt: Eine außerordentliche Kündigung aufgrund von außerdienstlichem Verhalten ist nur dann möglich, wenn ein Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis besteht. Fehlt ein solcher Zusammenhang, ist eine kündigungsrelevante Pflichtverletzung normalerweise ausgeschlossen
Anders ist dies, wenn das außerdienstliche Verhalten negative Auswirkungen auf den Betrieb oder einen Bezug zum Arbeitsverhältnis hat. Außerdem gilt bei Auszubildenden ein besonderer Maßstab: In so einem Zusammenhang kann bereits eine einmalige sexuelle Belästigung einer Auszubildenden durch einen anderen Auszubildenden einen wichtigen Grund zur Kündigung des Berufsausbildungsverhältnisses gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG darstellen, selbst wenn dieses Verhalten außerhalb des Betriebs gezeigt wurde.
Verortung des Urteils
Sobald das Stichwort „sexuelle Belästigung“ fällt, sollten im Unternehmen alle „Alarmglocken“ angehen. Eine sexuelle Belästigung ist eine Benachteiligung im Sinne des Allgemeinen Gleichheitsgesetzes (AGG), die Sofortmaßnahmen des Arbeitgebers auslöst. Arbeitgeber und Führungskräfte trifft diesbezüglich eine Schutzfunktion gegenüber den beschäftigten Arbeitnehmern. Dieser Schutz umfasst auch vorbeugende Maßnahmen (§ 12 Abs. 3 AGG). In jedem Fall hat der Arbeitgeber gegenüber einem belästigten Arbeitnehmer die im Einzelfall angemessene und verhältnismäßigen arbeitsrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen.
Mit Blick auf das Kündigungsrecht gilt Folgendes: Eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz durch einen Vorgesetzten kann – je nach Umfang und Intensität – eine außerordentliche, fristlose Kündigung rechtfertigen (BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 651/13). Wie verhält es sich aber, wenn es sich um außerdienstliches Verhalten und damit um Freizeit handelt und die sexuelle Belästigung nicht in dem typischen Ober- / Unterordnungsverhältnis, sondern auf gleicher Ebene zwischen Auszubildenen passiert?
Sachverhalt
Die Parteien streiten um den Bestand des Ausbildungsverhältnisses. Die Beklagte ist ein Unternehmen der Automobilindustrie. Der Kläger war seit dem 01.09.2020 als Auszubildender zum Elektroniker für Automatisierungstechnik in dem Betrieb der Beklagten tätig.
Der Kläger nahm im Rahmen von Bildungsurlaub als einer von 22 Auszubildenden an einem sogenannten Jugend-1-Seminar der IG Metall in der Seminareinrichtung in der Zeit vom 03.07. bis 08.07.2022 teil. An diesem Seminar nahm nur eine einzige weibliche Auszubildende teil.
Nach dem Seminartag besuchten einige der Auszubildenden das Schwimmbad auf dem Seminargelände. Spät abends legte der Kläger unerwartet von hinten seinen Arm um die weibliche Seminarteilnehmerin und schlug dabei auf ihre Brust. Diese reagierte sofort, indem sie sagte: „Fass mich nicht an!“ und weglief. Während sie aus dem Schwimmbad herauslief, rief der Auszubildende ihr hinterher: „Stell dich nicht so an!“.
Mit Schreiben vom 05.09.2022, dem Kläger am selben Tag zugegangen, erklärte die Beklagte gegenüber dem Kläger die fristlose Kündigung des Ausbildungsverhältnisses. Mit seiner am 15.09.2022 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage wehrt sich der Kläger gegen diese Kündigung. Die erste Instanz wies die Klage jedoch ab.
Die Entscheidung
Auch die zweite Instanz wies die Klage ab und entschied, dass das Ausbildungsverhältnis des Klägers durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 05.09.2022 beendet worden ist.
Das beschriebene Verhalten des Klägers war ein wichtiger Grund im Sinne des § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG. Gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG kann das Berufsausbildungsverhältnis nach der Probezeit vom Ausbilder nur aus wichtigem Grund fristlos gekündigt werden. Ein wichtiger Grund ist gegeben, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund deren dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Berufsausbildungsverhältnisses bis zum Ablauf der Ausbildungszeit nicht zugemutet werden kann. Das Verständnis des wichtigen Grundes im Sinne von § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG entspricht dem wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB. Es ist daher zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände an sich und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Dann ist zu prüfen, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar war oder nicht (BAG, 31.07.2018 – 2 AZR 505/13 – Rn. 39; BAG, 08.05.2014 – 2 AZR 249/13 – Rn. 16; BAG, 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 15).
Im vorliegenden Fall entschied das LAG Niedersachen, dass das Verhalten des Auszubildenen „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB, § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG zu bilden. Auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen können den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllen. Schutzgut der §§ 7 Abs. 3, 3 Abs. 4 AGG ist die sexuelle Selbstbestimmung als Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Außerdem hat die Beklagte ein eigenes schutzwürdiges Interesse daran, dass ihre Arbeitnehmer, Praktikanten und Auszubildenden respektvoll miteinander umgehen und gedeihlich zusammenarbeiten. Sie ist als Arbeitgeberin/Ausbilderin nach § 12 Abs. 1 und 3 AGG darüber hinaus gesetzlich verpflichtet, ihre Beschäftigten vor sexuellen Belästigungen zu schützen (vgl. BAG, 20.05.2021 – 2 AZR 596/20 – Rn. 23).
Der Kläger hat seine Pflicht aus § 241 Abs. 2 BGB, auf die berechtigten Interessen der Beklagten Rücksicht zu nehmen, durch die sexuelle Belästigung der Auszubildenden im Sinne von § 3 Abs. 4 AGG verletzt. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die sexuelle Belästigung außerhalb der Arbeitszeit – nämlich erst nach Seminarende – stattgefunden hat. Denn das außerdienstliche Verhalten hat insoweit einen Bezug zum Arbeitsverhältnis, dass der Auszubildende seine Kollegin belästigt hat. Die von dem Auszubildenden begangene sexuelle Belästigung habe zudem negative Auswirkungen auf das betriebliche Miteinander. Die betroffene Auszubildende habe gegenüber der Werkssicherheit ihres Arbeitgebers angegeben, dass sie künftig weder mit ihrem Kollegen reden noch mit ihm allein sein wolle. Sie habe Angst vor ihm.
Das LAG stellte klar, dass die sexuelle Belästigung von Mitarbeitenden oder Auszubildenden eine erhebliche Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten darstellt. Zudem liege in der sexuellen Belästigung regelmäßig eine Störung des Betriebsfriedens, die eine fristlose Kündigung nach sich ziehen kann. Einen angemessenen Weg, das Ausbildungsverhältnis fortzusetzen, gab es im vorliegenden Fall nicht. Dem Arbeitgeber waren sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar. Auch eine vorherige Abmahnung des Auszubildenden war wegen der Schwere der Pflichtverletzung entbehrlich. Das LAG Niedersachen entschied daher konsequenterweise, dass die außerordentliche Kündigung wirksam ist.
#KurzErklärt
- Auch das außerbetriebliche Verhalten kann herangezogen werden, um eine außerordentliche, fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Anknüpfungspunkt ist dabei Folgender: Der Arbeitnehmer ist auch außerhalb der Arbeitszeit verpflichtet, auf die berechtigten Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen. Ein außerdienstliches Verhalten beeinträchtigt die berechtigten Interessen des Arbeitgebers oder anderer Arbeitnehmer, wenn es einen Bezug zur dienstlichen Tätigkeit hat. Das ist der Fall, wenn es negative Auswirkungen auf den Betrieb oder einen Bezug zum Arbeitsverhältnis hat.
- Außerdienstliches Verhalten kann in bestimmten Fällen eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen, wenn es bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Hier sind die wesentlichen Punkte:
- Eignung für außerordentliche Kündigung: Das Verhalten muss an sich geeignet sein, eine außerordentliche Kündigung ohne Einhaltung der maßgeblichen Kündigungsfrist zu rechtfertigen.
- Beeinträchtigung der Arbeitgeberinteressen: Das außerdienstliche Verhalten muss die berechtigten Interessen des Arbeitgebers oder anderer Mitarbeitender beeinträchtigen.
- Negative Auswirkungen auf den Betrieb oder Arbeitsverhältnis: Das Verhalten sollte negative Auswirkungen auf den Betrieb haben oder einen Bezug zum Arbeitsverhältnis aufweisen.
- Abwägung der Interessen: Die außerordentliche Kündigung muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und der Interessen beider Vertragsteile gerechtfertigt sein. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, ob die betreffende Person ein Repräsentant für das Unternehmen nach außen ist.
- Auch das ArbG Solingen (Urteil vom 11.04.2024 – 2 Ca 1497/23) hatte erst kürzlich zu einem sexuell übergriffigen Verhalten zu entscheiden. In diesem Zusammenhang stellte es u.a. Folgendes fest:
- Bei Vorliegen offenkundiger Widersprüche im Klägervorbringen, erheblicher Ablenkungsmanöver und greifbarer Schutzbehauptungen bedarf es keines Zeugenbeweises durch Vernehmung des Opfers einer sexuellen Belästigung im Rahmen einer 4-Augen-Situation.
- Außerdem kann eine vom Kläger bestrittene sexuelle Belästigung im Rahmen einer vier-Augen-Situation als Verdachtskündigung – ohne weitere Beweisaufnahme – wirksam sein.
- Im Arbeitsverhältnis kommt es bei der Einordnung einer sexuellen Belästigung immer entscheidend auf das vorhandene Machtgefälle zwischen Täter und Opfer an.
- Jede sexuelle Belästigung ist grundsätzlich und ohne vorangegangene Abmahnung geeignet, eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Auf die Schwere der Belästigung kommt es nicht an.
Praxistipp |
von Frau Dr. Felisiak von Eversheds Sutherland (Germany) Rechtsanwälte